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Ein Mann für eine Nacht
ОглавлениеDer Sommer war fast vorbei. Wir saßen im Café als einzige Gäste und schwiegen. Draußen auf dem Platz waren alle Tische besetzt, in der Erwartung, jeder Tag könnte der letzte sein. Der letzte Tag des Sommers.
„Es ist besser, wir trennen uns“, sagte er schließlich.
Ich war keineswegs überrascht, ich hatte es seit Tagen gespürt.
„Jedenfalls für eine gewisse Zeit sollten wir uns trennen“, setzte der Mann hinzu, der vergeblich auf eine Antwort von mir wartete. Ich nickte kurz und sah an ihm vorbei. Und dann nach oben. Und dann nach draußen. Er wurde unruhig.
„Möchtest du noch was trinken?“
„Nein“, sagte ich.
„Gibt es noch etwas zu sagen?“
„Nein.“
„Dann muss ich jetzt los. Soll ich dich noch irgendwohin fahren?“
Ich schüttelte den Kopf. Seine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Seit einer guten Stunde hatte ich kaum ein Wort gesprochen, und als ich jetzt in sein gequältes Gesicht blickte, fasste ich den Entschluss, ihn zu erlösen.
„Du kannst gehen“, sagte ich. „Ich möchte noch ein bisschen hier bleiben und nachdenken.“
Mein Freund atmete tief durch. „Zahlst du meinen Kaffee?“
„Ja klar.“ Ich lächelte ihn an. „Wenn es dir wieder besser geht, weißt du ja, wo du mich findest.“
Er nickte erleichtert, stand auf, steckte die Zigaretten in seine Hemdtasche, hob nur kurz die Hand zum Gruß und entfernte sich.
Ich blickte ihm nach, beobachtete, wie er in sein Auto stieg und mit quietschenden Reifen davonfuhr. So hörte es sich an, wenn er besonders schlechte Laune hatte. Oder besonders gute.
Ich atmete einmal laut durch. Der Kellner kam und fragte, ob ich zahlen wolle.
„Einen Viertelliter Wein“, gab ich zur Antwort. Er nickte und grinste. Ich stand auf, um mir eine Tageszeitung zu holen, die ich aber nur durchblätterte. So jung war ich nicht mehr, um mich von der Launenhaftigkeit eines lediglich platonischen Freundes aus der Bahn werfen zu lassen. Ich trank den Wein, und es ging mir besser. Zugegeben, die Situation war unerfreulich, aber nicht hoffnungslos. Wir hatten schon einige Trennungen überlebt, und es war immerhin das erste Mal, dass er gesagt hatte, für eine gewisse Zeit. Bisher hatte er sich jedes Mal endgültig getrennt. Unwiderruflich. Bisher hatte mich regelmäßig nach der Trennung eine große Trauer ergriffen. Und Ratlosigkeit. Ohne ihn war ich einsam. Ich könnte mir zur Abwechslung einen Mann für eine Nacht suchen, dachte ich.
Zwar hatte ich vor langer Zeit beschlossen, nur mit einem Mann zu schlafen, den ich liebte. Aber das war hart, zu hart, fand ich nun. Und im Grunde war doch jeder Mann liebenswert, oder?
Als ich den Wein ausgetrunken hatte, war mein Entschluss gereift. Gleich heute Abend wollte ich mich umsehen.
Es wurde ein milder Abend. Ich hatte zuhause eine Stunde geschlafen und war noch benommen, als ich die Straße entlang ging und in den Torweg des Biergartens einbog. Mein Freund verschwand aus meinem Hirn, jedenfalls beinahe, denn ich ertappte mich dabei, in der Kneipe und auf dem Hof Ausschau nach ihm zu halten.
Beim ersten Rundblick entdeckte ich niemanden, dem ich mich hätte zugesellen können, um die ersten Minuten der Unsicherheit zu überbrücken. Lange Tische und Bänke standen auf dem Hof, und fast alles war besetzt. Die Menschen saßen in kleinen und größeren Gruppen zusammen. Dann sah ich in der Mitte des Hofes Jonny Lehmann, stehend im Gespräch mit zwei anderen Männern. Nachdem ich mir von der Theke einen Wein geholt hatte, ging ich zu ihnen. Es war der richtige Augenblick, denn die Jungs schienen sich zu langweilen.
„Was gibt’s Neues?“ fragte Jonny Lehmann.
„Das würde ich auch gern wissen“, antwortete ich. „Ich bin eigentlich nur hier, um mir einen Mann zu suchen.“
„Das ist okay“, sagte Jonny. „An was hast du denn gedacht?“
„Jemanden, den ich noch nicht kenne, ein Fremder, möglichst einer, der nie wieder hierher kommt.“
Der Kerl, der neben Jonny Lehmann stand, kicherte. Ich kannte ihn von der Straße, auf dem Weg von einem Buchladen zum nächsten. Man sagte, er sei Kunsthistoriker. Noch älter vielleicht als ich, weiße Haare, schnurgerader Pony, gelblicher Schnauzbart – und wahrscheinlich ohne Gebiss, denn er tat den Mund nie so weit auf, dass man etwas davon hätte sehen können. Den Dritten im Bunde, (ein kleiner Dicker mit schwarzer Lederweste), kannte ich gar nicht. Jonny stellte mir die beiden vor, aber ich vergaß die Namen im selben Augenblick. Jonny Lehmann kannte ich seit fast zehn Jahren, er besaß eine liebenswürdige, gesellige Leichtigkeit und gehörte wie ich zu jenem Stamm von Leuten, die einen guten Teil ihres Lebens in Kneipen verbringen.
„Wonach gehst du bei der Auswahl des Mannes?“ erkundigte er sich.
„Gute Frage“, sagte ich, während ich die drei nacheinander ansah und dann meinen Blick über den Hof schweifen ließ. Ich fasste zwei Jungs ins Auge, die an einen Baum gelehnt auf der Erde saßen, Bier tranken und sich amüsierten.
Ich sah Jonny an. „Wollt ihr zusehen, wie ich mir einen Mann angle?“
Alle drei nickten. Der Kunsthistoriker kicherte wieder, wobei er den Kopf verschämt etwas zur Seite drehte.
„Also bis gleich“, verabschiedete ich mich und steuerte auf mein Ziel zu.
„Hallo“, sagte ich und hockte mich hin. „Ich habe ein Problem.“ Einer der beiden Jungs hielt mir sofort sein Feuerzeug hin. Ich schüttelte den Kopf. „Zigarette“, vermutete der andere.
„Falsch. Ich suche einen Mann für eine Nacht, könnt ihr mir weiterhelfen, ich meine....“
Die beiden blickten sich an, danach schauten sie zu mir, schüttelten den Kopf und lachten verlegen.
„In Ordnung.“ Ich stand auf, nickte ihnen freundlich zu und entfernte mich, ohne zu zögern. Ich wollte die Liste der Kandidaten abarbeiten als ginge es lediglich um eine Befragung. An der Theke stand ein mittelgroßer, schwul aussehender Mann, mit dem ich vor ein oder zwei Jahren an Silvester einen Flirt angefangen hatte. Er erkannte und begrüßte mich erfreut. Ohne Einleitung und seine homoerotische Ausstrahlung missachtend, sprach ich ihn an: „Du bist doch sicher ein Mann für eine Nacht, oder?“
Er sah mir in die Augen. „Ja“, hauchte er. „Aber nicht für heute Nacht.“
„Oh schade, aber macht nichts“, log ich. Immerhin, der Korb, den er mir gegeben hatte, war weniger drastisch als der erste. Ich blieb noch einen Moment stehen und betrachtete ihn. Seit jenem Silvester war er mir nicht mehr begegnet. Und damals hatten wir einige schöne Stunden miteinander verbracht, bis wir uns inmitten der Partygäste auf dem Fußboden gegenüber saßen, die Beine ineinander verschränkt, sehr ähnlich einer mir bis dahin unbekannten Paarungsstellung, auch im bekleideten Zustand eine aufregende Situation, besonders vielleicht wegen der Zuschauer. Schade eigentlich, dass er mir eine Absage erteilte.
Für einen Zwischenbericht kehrte ich zu meiner Heimatgruppe zurück. Sie erwarteten mich gespannt. Ich zuckte mit den Schultern. „Nichts.“
„Auf eine direkte Offerte würde ich auch nicht anspringen“, sagte Jonny. Der Hinweis gelangte in mein Unterbewusstsein.
„Einen Versuch mache ich noch“, sagte ich. „Dann muss ich mich erst mal erholen.“
Nach einer angemessenen Frist, die mir der Anstand diktierte, kehrte ich in die Kneipe zurück, während ich flüchtig konstatierte, dass es mir wohl leichter fiele, zwei Männer anzusprechen als einen einzelnen. Die beiden waren groß und kräftig, und ich sprach den an, der mir auf den ersten Blick besser gefiel. Ich stellte mich neben ihn, stieß ihn leicht an und flüsterte fast: „Bist du ein Mann für eine Nacht?“
Der Mann wich erschrocken zurück und sah mich verblüfft an: „Ich bin verheiratet“, sagte er.
„Ich auch“, antwortete ich im Scherz und zog die Augenbrauen hoch.
„Du bist ja blöd“, bemerkte sein Nebenmann.
„Da hätte ich wohl lieber dich fragen sollen?“
„Zu spät“, mischte der erste sich ein.
„Zu spät?“
Sein Nachbar bestätigte es. „Zu spät.“
Wer hatte mir bloß erzählt, dass die meisten Männer darauf hofften, von einer Frau angesprochen zu werden? Ohne Umschweife und Tralala.. Ich blieb am Tresen, um mir neuen Wein zu bestellen.
„Ist denn die Not so groß“, erkundigte sich mein Nachbar, der also verheiratet war.
Ich grinste ihn an. „Wahrscheinlich nicht, sonst hätte ich die Sache klüger angepackt. Ich weiß gar nicht mehr wie das geht, ich muss wohl von vorn anfangen.“
Ich nahm den Wein. „Tschüs. Und ein schönes Leben für euch beide.“
„Danke“, sagten sie wie aus einem Munde.
Als ich erneut auf dem Hof erschien, standen die drei noch an derselben Stelle.
„Keine Chance“, sagte ich. „Aber es macht trotzdem Spaß.“
Der Kunsthistoriker kicherte wieder. Ich wünschte, er würde sich in Luft auflösen. Da das nicht geschah, ignorierte ich ihn. Der Dicke mit der Lederweste störte mich nicht im Geringsten, leistete allerdings auch keinen Beitrag. “Ich würde lieber sitzen, ich stehe nicht gern“, sagte ich. Alle blickten sich um. Nur der lange Balken an der begrünten Mauer hatte noch freie Plätze. Jonny wies mit ausgestrecktem Arm dort hin, und wir setzten uns in Bewegung. Ich platzierte mich neben ihn, und der Kunsthistoriker beeilte sich, auf meine andere Seite zu kommen. Mit einer halben Körperdrehung wandte ich ihm den Rücken zu, so dass er, wenn der Wind günstig stand, kaum noch etwas verstehen konnte. Er störte, obwohl er weiter nichts tat als die Ohren zu spitzen und andauernd zu grinsen.
„Wie würdest du zum Beispiel gern von einer Frau angesprochen werden?“ fragte ich Jonny zu meiner Linken. „Keine Ahnung, darüber habe ich noch nie nachgedacht, kommt immer ganz auf die Situation an....warte mal einen Augenblick“, unterbrach er sich, stand auf, drängelte sich an Tischen und Bänken vorbei und begrüßte eine große junge Frau mit einem Kuss auf die Wange. Ich beobachtete den Vorgang, rückte bei dieser Gelegenheit noch ein Stück vom Kunsthistoriker ab und warf einen flüchtigen Blick auf den kleinen Dicken. Er saß breitbeinig wie der größte Gemütsmensch aller Zeiten auf seinem Platz und sah sich das Treiben an. Was nun? Es hatte den Anschein, dass Jonny Lehmann so bald nicht zurückkehrte. Ich sah niemanden, der einen Ortswechsel lohnte, also sprach ich den Dicken an.
„Du bist nicht oft hier, oder?“
„Selten“, sagte er.
„Wie war noch mal dein Name?“
„Christian.“
„Christian“, murmelte ich. „Na ja, dafür kannst du ja auch nichts.“
Das Resümee des Abends war niederschmetternd. Ich seufzte. Ohne meinen platonischen Freund kam ich einfach nicht mehr zurecht. Ich wollte aber trotzdem hier bleiben. Ich blies innerlich die Aktion ab. So ging es eben nicht. Langeweile beschlich mich. Ich saß nur so da und blickte in die Luft. Eine Stunde verging, vielleicht auch zwei, ohne dass es etwas Nennenswertes zu beobachten, zu reden oder zu denken gab. Ich wurde müde. Der Kunsthistoriker war tatsächlich verschwunden.
„Willst du noch etwas trinken?“ fragte plötzlich Christian. Ich nickte, nahm einen Geldschein aus der Tasche und hob das leere Glas in die Höhe. „Einen Weißwein.“
Christian erhob sich. Und auf einmal stutzte ich. Wieso saß er denn nun schon den ganzen Abend neben mir?
„Sag mal, bist du vielleicht ein Mann für eine Nacht?“ fragte ich.
Christian nickte.
Erstveröffentlichung 1996, Elefantenpress, in der Anthologie „Lust und Frust der Verführung“
1996, Lizenz, Heyne Taschenbuch, in der Anthologie „Schmetterlinge im Bauch“