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Ein Schultag

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Die Tür klemmte. Wie immer. Same procedure as every day! „Kacke, verdammt!”, stieß sie hervor und fügt dann ein entschuldigendes „Astaghfirullah” hinzu. Fluchen war befreiend, aber zunächst mal ziemlich unislamisch, zumindest gemäß Schema F. „Scheiß drauf“, dachte sie in solchen Fällen. Wenn die Menscheit zu sündigen aufhörte, würde Allah eine andere erschaffen! hieß es außerdem in einer authentischen islamischen Überlieferung. Nicht jedem leuchtete diese Logik sofort ein. Herrn Lizba jedenfalls nicht, dessen Gehör angesichts seiner 85 Jahre wirklich in imposantem Zustand war. Soeben lugte er missbilligend hinter der vergilbten Spitzengardine hervor. Es gab nichts, was man vor seinen Augen oder Ohren verbergen konnte, sogar Streitereien verfolgte er irgendwie über zwei Stockwerke hinweg, indem er seine Ohren an die metallene Therme presste.

Sie tat so als hätte sie nichts bemerkt und versetzte der frisch gestrichenen Tür einen Extra-Tritt, weil sie wusste, dass Herr Lizba sich darüber noch mehr aufregen würde. Im Prinzip mochte sie alte Leute aber manche Stasitypen nervten einfach, ungeachtet ihres Alters. Dann holte sie das Fahrrad unter der Plane hervor. Das Schmuckstück konnte auch mal wieder eine Überholung gebrauchen. Heute war ja Mittwoch, fiel ihr ein. Ab fünf hatte die Stadtteil-Werkstatt geöffnet. Das mit den kostenlosen Fahrrädern war eine tolle Idee gewesen. Eine Aktion der linken Spirituellen, die seit letztem Jahr im Landtag die Mehrheit bildeten. Die Schrippen waren strunzhässlich und primitivst, klauen tat sie daher keiner, aber sie rollten! Seitdem Hannover noch grüner und außerdem autofreie Zone war, machte das Radfahren sogar im Winter Spaß. Naja, fast. Jedenfalls tat es wirklich gut. Sie schluckte den Rest Avocadobrötchen runter, schwang sich auf die rostige Möhre und trat kräftig in die Pedale. Es war noch kühl und ein selten klarer Tag. Früher fuhren benzinbetriebene Autos sogar in ihrer Straße und es hatte immer ziemlich gestunken. Das wusste sie noch gut. Jetzt roch die Luft irgendwie nach Paradies. So wie früher nur in den Stadtrandgebieten, zum Beispiel in diesem Wäldchen bei Marienwerder, und selbst da nicht immer. Während sie um die Ecke rollte, blendete die Sonne sie unnötigerweise just in der Sekunde, als sie auf die Apothekenuhr guckte und beinahe hätte sie die junge Frau vor sich mitgenommen. Schon zehn vor zehn! Blöd! Zuspätkommen war zwar kein Problem bei Gesa, aber trotzdem waren meist alle pünktlich. Sie wollte das Frühstück und die erste Stunde auch auf keinen Fall verpassen. Tai-Chi ballerte, fand sie. Diese taoistische Mischung aus Ruhe und Bewegung war eigentlich genau Islam, und noch genialer als Za-Zen, was sie letztes Halbjahr gehabt hatten. „Das ist Bidaa!“ hatte der Salafi-Typ von gegenüber ihr kürzlich erklärt. Eine ‚unislamische Neuerung’ also. „Das wüsste ich aber“, hatte sie entgegnet. Um religiös fundierte Argumente war sie nie verlegen. Suchet die Weisheit, und wenn Ihr bis nach China gehen müsst! , hatte sie den Propheten zitiert. Und das war eine verdammte Lebensaufgabe! Der wahre Märtyrer, das wusste eigentlich jeder der die islamischen Basics kannte, war jemand, der sein Leben der Suche nach Wahrheit, Weisheit und Wissen widmete und alles, was heilte, war per se islamisch, denn die Wortwurzel des Wortes Islam bedeutete ‚heil sein’. Praktisch jeder wusste das. Nur der natürlich nicht. Kategorie gewaltaffiner Versager, der rein zufällig beim Islam gestrandet war und ihn zu einer Fascho-Ideologie zu verdrehen versuchte. Früher wäre er vermutlich bei der NPD gelandet. Es war nicht nur die Freiheit, die Pluralität, das Multikulti, das viele heute überforderte. Manche kamen auch schlichtweg mit dem Glück nicht klar. Komisches Phänomen!

Sie hielt kurz an, um an diesem undefinierbaren, schrillen Genossenschaftsladen ihr Wasser aufzufüllen. Man konnte dort regionales Bio-Gemüse kaufen und verkaufen, und noch so einiges andere, z.B. reden, duschen, Sachen ausleihen, Massagen kriegen. „Tag!“, sagte die nette Dicke, die irgendwie immer hier war. Wahrscheinlich wohnte sie im hinteren Bereich. „Bedien dich! Kannst auch die Äpfel da mitnehmen!“ – „Danke, hab jetzt keine Zeit!“, erwiderte sie und revanchierte sich mit einem Lächeln. Nach zehn Sekunden war sie wieder vor der Tür. „Beeil dich, Mensch!“, schrie es von irgendwoher und ein Fahrrad zischte an ihr vorbei. Jehangir wahrscheinlich. Sie sprang aufs Rad und raste hinterher. Wenige Minuten später stand sie vor der Schule. Irgendjemand hatte über Nacht knallige und lustige Graffiti an die Wand gesprüht, die unverkennbar einige Lehrer darstellen sollten, sowie Herrn Singh und den Hausmeister, der Trisomie 21 hatte und unglaublich lieb war. Seitdem Graffiti fast überall geduldet wurden, hatten die Sprayer mehr Zeit und waren mit mehr Herzblut bei der Sache, was sich auf die Qualität auswirkte. Sie waren jetzt meistens wirklich dekorativ, und sehr kreativ sowieso, allemal besser als graue Mauern. Während sie das Rad im Ständer parkte, schlurfte der tiefenentspannte Sympathie-träger Nummer zwei der Schule durch die Eingangstor. „Herr Singh! Nicht zumachen!“, rief sie ihm zu. Ein turbantragender Rektor, der nett ist und zu spät kommt! Früher war Mama in diese Schule gegangen. Die Junglehrer hatten damals oft Schlipse um und trugen Schüler – ungelogen! – für 30-sekündiges Zuspätkommen ins Klassenbuch ein. Armselige Pseudo-Pädagogen. Selbst schon längst gleichgeschaltet und fremdbestimmt, war es ihr oberstes Ziel gewesen, als verlängerter Arm des neoliberalen Staates die Kinder zu brauchbarem Humankapital zu verwursten. Das war vor dem großen Knall gewesen. Irgendwann war der gekommen. Innen und außen, in der Psyche, Wirtschaft und der Politik, überall gleichzeitig war der ganze Scheiß kollabiert. Wie Phönix aus der Asche war dann aber etwas Neues entstanden. So ähnlich wie bei der kleinen rosa Rose auf ihrem Balkon zu Hause. Sie hatte gedacht, die sei hinüber und war nur zu faul gewesen, sie wegzuschmeißen. Und jetzt blühte sie wie nie zuvor! „Mach hin!“, sagte Herr Singh, der seinen drolligen indischen Akzent nie losgeworden war. „Wir sind doch nicht im Punjab hier!“, fügte er augenzwinkernd hinzu. „Vergess’ ich auch immer wieder...“

Kein Bürgergeld, Miete zahlen, keine Zeit zum Nachdenken – muss ein Alptraum gewesen sein, das Leben damals... Die Tür fiel hinter ihnen zu.

Nach dem Frühstück und Tai-Chi fühlte sie sich unglaublich aufgetankt, fast high. ‚Leben’ hatten sie jetzt, in der Zweiten und Dritten, danach Mathe und Englisch. Früher war ‚Leben’ ja ein Synonym für ‚Arbeiten’ gewesen. Das war echt eine andere Welt. Heute hieß ‚Leben’ einfach ‚leben’. Also: Wie man so lebt, dass man sich lebendig fühlt. Momentan ging es um Kinder. Kinder kriegen, von Kindern lernen, mit Kindern leben. In der Oberstufe waren alte Leute dran, und ‚Mit allen Sinnen denken’, was auch ziemlich ziemlich interessant klang. Alle versammelten sich jetzt kleckerweise auf dem Hof. Die durchgeknallte Schwarz stand auf der obersten Treppenstufe. „Also, Zuspätkommen geht!“ schrie sie jetzt, und das Gemurmel verstummte, weil alle sie irgendwie mochten und Respekt vor ihr hatten. Durchgeknallt war Schwarz nicht allein, weil sie früher eine Frau namens Rosa gewesen und außerdem zum Islam konvertiert war. Durchgeknallt vielmehr, weil sie einfach durchgeknallt war. Auch dieses Wort hatte einen Bedeutungswandel durchgemacht. Früher hatte das mal ziemlich abwertend geklungen. Heute war es etwas ziemlich Positives. Schwarz war fast wie Uroma. So spontan, kreativ und witzig zu sein, einen dermaßen weiten geistigen Horizont zu haben – ohne dabei ein desorientierter Schizo zu werden, das musste Schwarz erstmal wer nachmachen. Früher wurden solche Leute Säufer, weil die Gesesellschaft ihnen null Respekt zollte. Hatte Oma erzählt, die ihre islamische Religion allerdings von der Säuferkarriere abgehalten hatte. Heute war es umgekehrt, es gab keine einseitige Definition von psychischer Gesundheit oder Lebensfähigkeit mehr. Stattdessen konnten sich kreative und spirituelle Menschen der Achtung aller sicher sein, das half sogar bei der Jobsuche.

Schwarz war heute barfuß, weil das erdete. In der Zweiten oder Dritten hatten sie das gelernt, und Schwarz zog das fast den ganzen Sommer über durch. Dazu trug er ein Niqab, dieses Gesichtsschleierding, denn ein bisschen fühlte er sich wohl immer noch als Frau und manchmal kam man echt mit den Personalpronomen und ‚Herr’ und ‚Frau’ durcheinander, aber das war okay für ihn. Er fühle sich gut mit dem Niqab, hatte er mal erklärt. „Also, noch mal. Zuspätkommen geht, wisst ihr ja. Wir treffen uns in ungefähr 30 Minuten wie üblich und warten dann noch ein bisschen. Aber wehe, ihr habt kein Kind dabei!“ „Meine Nichte ist aber gestern vom Sofa gefallen. Die kann nicht!“, rief Bubu von hinten und einige lachten. „Hast du nur eine, oder was?“, fragte Schwarz etwas genervt. Manchmal war es echt nervig, wenn man verächtliche Untertöne bei den Lehrern raushörte, weil eine Familie nur wenige Kinder hatte. Da stieß die Toleranz selbst aufgeschlossener Leute gelegentlich an ihre Grenzen. Schließlich war es eine persönliche Entscheidung, ob man Kinder wollte oder nicht und außerdem war Kinderlosigkeit ja auch nicht immer freiwillig! „Egal. El-Haidari leiht dir eins, stimmt’s, El-Haidari?“ „Geht klar“, entgegnete El-Haidari, „Eva hat gestern eh Stress gemacht, weil sie unbedingt mit wollte.“ Fast alle Kinder liebten es, mit den Großen zusammen Geschichten zu erfinden oder im Wald Baumhäuser zu bauen.

To be continued. In Gedanken, schriftlich oder im realen Leben.

Text von Anja Hilscher

Linden Fiction 2050 - Utopien zur Stadtteilentwicklung

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