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B. wurde von lautem Gebetsgesang aus dem Schlaf geschreckt. Er musste gegen Morgen doch eingenickt sein, vielleicht aus Erschöpfung, nachdem er immer wieder aufgestanden war und die drei Meter Länge seiner Zelle abgeschritten hatte, wenn ihn die Härte des Bodens zu sehr geplagt hatte. Aber jetzt war die Nacht vorbei, durch die Zellenöffnung schimmerte fahles Tageslicht. B. war gewohnt, früh aufzustehen, das störte ihn nicht. Die Koransuren dröhnten aus dem Lautsprecher, aber auch das machte ihm nichts aus. Er war Fremder hier und hatte die Gebräuche dieser Kultur zu akzeptieren.
Wie gerädert machte B. ein paar Dehn- und Streckübungen, legte die Wolldecken zusammen und wartete. Die Zelle war wieder exakt so, wie er sie betreten hatte. Bald würden sie an seine Türe klopfen, B. hatte die Augenbinde schon bereitgelegt. Er würde möglichst rasch das Missverständnis zu klären suchen, notfalls auch darauf bestehen, dass die schweizerische Botschaft eingeschaltet würde, damit die Angehörigen kontaktiert werden konnten. Alle würden sie das morgige Rückflugdatum bestätigen können. Die Firma würde auf ihre jahrelangen Geschäftsbeziehungen mit dem Iran und die Kontakte mit höchsten Regierungs- und Armeestellen verweisen können.
Nun wurde das Guckloch geöffnet. B. sah eine Hand, die ihm Brot und ein Stück Käse hereinreichte. Kurz danach ging das Guckloch wieder auf. «Tschai», hörte B. unter der Augenbinde, das musste Tee sein. B. hielt den Trinkbecher hin. Draussen herrschte seit Ende der Gebete eine gespenstische Stille, nur hin und wieder waren Schritte über den Gang zu hören. Eine Türe wurde geöffnet, ging wieder zu, danach wieder Schritte, das musste Gefängnispersonal sein. Nach vielleicht einer Stunde ging das Guckloch erneut auf. Kaum hatte B. die Augenbinde wieder hoch, wurde er hinausgeführt. Über den Hof ging es zurück in die Richtung, wo er gestern seine Kleider und persönlichen Gegenstände abgegeben hatte. Womöglich hatte sich alles schon geklärt, und sie würden ihm gleich die Sachen zurückgeben. Sein Betreuer war uniformiert, den braunen Hosen und Schuhen nach zu schliessen, vielleicht Militärpolizei. Als B. den Kopf allzu stark hob, um unter der Augenbinde hervorzusehen, drückte ihm der Begleiter kräftig den Kopf nach unten. Er wollte auf keinen Fall erkannt werden, das wäre ja auch über Besonderheiten an Hosen und Schuhen möglich gewesen.
B. wurde in ein anderes Gebäude geführt und dort in einem Verhörraum auf einen zur Wand gekehrten Stuhl gesetzt. Seitlich am Stuhl war eine Schreibunterlage befestigt, ähnlich wie sie Studierende in Hörsälen haben. Eine Stimme begrüsste ihn in einwandfreiem Englisch, den Formulierungen nach in den USA erlernt. Sie stellte sich als «Investigator» vor. Was sollte das bedeuten: Polizeiverhörer? Ermittler? Untersuchungsrichter?
«How are you?» fragte die Stimme.
«Thank you for asking me», antwortete B. freundlich und unverbindlich.
Dann wurde B.s Lesebrille gebracht, die erst im Depot hatte geholt werden müssen. B. durfte unter der Augenbinde die Brille aufsetzen und direkt nach unten auf die Schreibunterlage sehen. Vor ihm lag ein Schriftstück. Was B. las, traf ihn wie ein Schlag: «Strafrechtliche Tatbestände: Spionage, Bestechung, Teilnahme an einem illegalen Treffen und Alkoholkonsum.»
«Wir wissen, Sie sind ein Spion der Schweizer Polizei. Was haben Sie dazu zu sagen?» fragte die Stimme.
B. sackte zusammen, diesen Vorwurf hatte er nicht erwartet! Gut fünfzig Jahre seines Lebens rasten im Schnellgang an ihm vorbei, wie ein auf Hochtouren zurückgespulter Film. Die dreizehn Jahre bei der Firma in Steinhausen, die zahllosen Reisen mit den zähen Verhandlungen in Europa, Lateinamerika, Afrika und Mittelost, die Berichterstattungen und technischen Erklärungen in Hotelzimmern und auf Flugreisen, die Missionen fürs Internationale Komitee vom Roten Kreuz in Nigeria und Jemen, die Arbeit als Fernmeldetechniker in Kuwait, Papua-Neuguinea und Senegal, die Jahre als Funker auf Hochseeschiffen, als Fleet Manager in der Hochseefischerei im südchinesischen Meer, die Managementschule und technische Ausbildung in England, die Lehre als Fernmeldebeamter bei den PTT, die Handelsschule in Neuenburg, die ersten Funkerlebnisse mit zwölf Jahren, die Kindheit in Uster. Alle tauchten sie kurz auf und verschwanden wieder, die ihm Eindruck gemacht hatten: der deutsche Kaufmann, der ihn auf der Luxusjacht als Schiffsfunker angestellt hatte, sein Chef bei den PTT, die Frau mit der kleinen Tochter, die er vor dreizehn Jahren kennengelernt hatte, das Mädchen, das ihn Vater nannte und für ihn wie eine eigene Tochter war, die Geschwister mit ihren Familien, die Mutter, die schon über achtzig war und den Lieblingssohn behütete wie einen kleinen Jungen, wenn er jeweils in die Schweiz zurückkehrte, und immer gesagt hatte, er solle auf sich schauen, wenn er auf Reisen ging. Und jetzt war der Film aufgerollt, die Leinwand flimmerte unter B.s Augenbinde wie am Ende einer Vorführung.
«Nein», sagte B. abrupt in die eingetretene Stille, «das ist eine Verwechslung. Ich bin Verkaufsingenieur!»
«Was geschieht, wenn die Schweizer Grenzpolizei Pässe von Einreisenden auf eine Glasscheibe legt?» fragte der Verhörer unbeirrt.
«Ich weiss nicht, womöglich werden die Pässe kopiert.»
Was sollte diese Frage? Wollten die Befrager von ihm erkunden, wie man mit gefälschten Papieren in die Schweiz einreisen konnte? Warum ausgerechnet von ihm? Oder wollten sie testen, was er über solche Details wusste?
«Welche Grenzübergänge in die Schweiz werden am besten bewacht?»
«Ich kann das nicht beurteilen», antwortete B., «vielleicht Genf oder die Südschweiz.»
«Als Polizist müssen Sie das wissen!»
«Ich bin nicht Polizist!»
«Sie lügen!»
«Hören Sie!» antwortete B. erregt, «ich bin Verkaufsingenieur, technical salesman. Seit dreizehn Jahren besuche ich den Iran. Selbst während des Kriegs mit dem Irak, als der Teheraner Flughafen zeitweilig geschlossen war, bin ich unter schwierigsten Umständen ins Land eingereist. Ich habe Kontakte in die höchsten Amtsstellen des Aussenministeriums, zu Militär, Polizei und Gendarmerie. Noch vor meiner letzten Abreise in den Iran war ich anlässlich der Jubiläumsfeier zum Jahrestag der Revolution von der iranischen Botschaft in Bern eingeladen, habe dort mit dem Botschafter und dem Militärattaché gesprochen. Einige Tage später kam der Attaché in unsere Firma. Der Direktor und ich haben ihn betreut. Es gibt an meiner Tätigkeit nichts, das den Vertretern des iranischen Staates hätte verborgen sein können. Ich bin am 6. März zusammen mit einem Kollegen und rund 250 Kilogramm technischem Material, verschiedenen Modellen von Chiffriergeräten samt Zubehör, in Teheran angekommen. Wir sind am Flugplatz durch einen Kunden abgeholt worden. Seither haben wir verschiedene Kunden besucht, unter anderem die Einkaufsstelle der Armee. Konkrete Aufträge wurden bearbeitet und Bestellungen lagen vor, waren aber auf Anweisung des Parlaments pendent zu halten, solange Spannungen zwischen der Schweiz und dem Iran bestanden. Diese Vertragsabschlüsse sind für Ihr Land von grösster Bedeutung!»
«Schreiben Sie alle Kontakte auf, die Sie je zu Iranern gehabt haben», befahl der Verhörer.
Gehorsam schrieb B. auf dem ihm gereichten Papier alle Kontakte zu Iranern auf, an die er sich in den dreizehn Jahren seiner Geschäftstätigkeit erinnerte. Es lag in seinem Interesse, möglichst lückenlos über seine Kontakte Bericht zu erstatten! Wenn er keinen Namen verschwieg, würden sie merken, dass er aufrichtig war. Gleichzeitig würden Sie erkennen, wie wichtig seine Tätigkeit für das Land war. Armee, Innenministerium, Aussenministerium und selbst parastaatliche Organisationen wie die Revolutionswächter waren auf die Geräte der Firma angewiesen. Die abhörsichere Übermittlung sensitiver Meldungen war von höchstem Interesse für die verschiedensten Amtsstellen. B. beschrieb unter der Augenbinde Seite um Seite auf dem Schreibbrett am Stuhl, der Randabstand links nahm gegen unten zu, weil er sonst zu nahe am Körper hätte schreiben müssen.
Am Mittag wurde er in die Zelle zurückgeführt. Ein Mann mit freundlicher Stimme und einem Suchempfangsgerät besuchte ihn, das musste der Gefängnisdirektor sein. Dem Mann schien daran gelegen, dass sich B. wohl fühlte. B. eröffnete ihm, dass sein Flug für die kommende Nacht, Abflugzeit 02 Uhr, gebucht sei und dass er dieses Flugzeug unbedingt erwischen müsse. Der Gefängnisdirektor schien davon Kenntnis zu haben und sah keinerlei Problem.
«Machen Sie sich keine Sorgen, das geht schon in Ordnung!»
Am Nachmittag aber stellte sich rasch heraus, dass es mit dem geplanten Rückflug nichts werden würde. B. sprach die Verhörer gar nicht mehr darauf an, es wäre zwecklos gewesen. Das Verhör war gleich zu Beginn härter geworden. Der Chefverhörer hatte einen Zacken zugelegt, einzig sein Assistent, ein der Stimme nach jüngerer Ermittlungsbeamter, war freundlich geblieben. Der Assistent sprach ein sehr gepflegtes Englisch, brauchte nicht die saloppen Wendungen «sure» oder «come on» aus dem Amerikanischen wie der Verhörer, dafür hatte er B. aufgefordert, alles «very succinctly» niederzuschreiben – das hiess sinngemäss «aufs Tüpfchen genau» und zeugte von einem Aufenthalt an einer englischen Sprachschule.
Vielleicht war der Ältere auch schlecht gelaunt, weil sie ihn am iranischen Neujahr, einem hohen Feiertag im islamischen Kalender, verhören mussten. Oder hatten sie ganz einfach ihre Rollen gemäss professioneller Verhörtechnik verteilt? Der Jüngere, kollegial, verständnisvoll und lieb, sollte von B. ins Vertrauen geschlossen werden, der Ältere, väterlich streng, notfalls auch drohend, sollte Autorität markieren? «Mister Hans» nannte ihn kollegial und freundschaftlich der Jüngere, «Mister Buhler» streng der Ältere.
«Mister Buhler», hatte der Verhörer den Nachmittag eröffnet, «wir wissen, dass Sie am Morgen gelogen haben. Jetzt werden Sie uns die Wahrheit erzählen. Wem haben Sie Geld zwecks Bestechung gegeben? Und was erhofften Sie sich von den Bestechungen? Vergessen Sie nicht, dass wir Sie behalten können, so lange, wie wir wollen.»
Weniger diese Drohung hatte B. erschreckt als eine andere Bemerkung, die der Verhörer kurz danach machte, wonach sie «many methods» hätten, um die Wahrheit herauszufinden. Aber B. hatte nichts zu verbergen, er hatte nichts Krummes getan. Wenn er Iranern Geld gegeben hatte, dann war dies stets legal erfolgt. Seitenweise schrieb er auf, wem er während Ausbildungskursen am Firmensitz in Steinhausen Taggelder zu 30 Dollar ausbezahlt hatte. Würde er nur einen Namen oder einen Kontakt verschweigen, so konnte dahinter eine Absicht vermutet werden. Das Verschwiegene würde ihm später vorgehalten werden und seine Haft auf unabsehbare Zeit verlängern.
«Und Nuri, wieviel haben Sie ihm ausbezahlt?» forschte der Verhörer.
Nuri, wer war das? Nuri hiess der iranische Innenminister, dann gab es im Innenministerium einen Einkaufschef dieses Namens, aber beide waren nach B.s Erinnerung nie in Steinhausen gewesen.
«Welchem Nuri?» fragte B.
«Nuri», sagte der Verhörer streng, «Sie kennen ihn ganz genau! Er war bei Ihnen zu Hause. Wieviel Geld haben Sie ihm gegeben?»
Jetzt erinnerte sich B., dass er einst an einem Samstag einen Kursteilnehmer dieses Namens zusammen mit dem Delegationsleiter bei sich zu Hause eingeladen hatte. Während der Woche waren die beiden bei der Firma in Steinhausen in der Bedienung der bestellten Chiffriergeräte angeleitet worden. Eingabe und Wechsel der Chiffrierschlüssel waren so lange geübt worden, bis die Iraner die Geräte im Griff hatten. Am Wochenende war B. beauftragt worden, den Gästen ein Unterhaltungsprogramm zu bieten. Weil die beiden Iraner am Satellitenfunk interessiert waren, hatte B. von seinem Haus in Oerlikon aus Satelliten in mehreren tausend Kilometer Höhe angepeilt und auf Ultrakurzwelle weltweit Funkverbindungen hergestellt. Mit einer Sendeleistung von einem Watt, der Stärke einer Taschenlampenbirne, hatte er die Satelliten als Relais benutzt. Nuri war beeindruckt gewesen. Was technisch alles möglich war! Danach waren sie in eine Apotheke gefahren und hatten ein paar Medikamente eingekauft, die im Iran nicht erhältlich sind.
«Nichts, ich habe ihm ein paar Medikamente in einer Zürcher Apotheke gekauft.»
War dieser Nuri schon verhaftet worden und hatte ihn belastet? B. musste sich noch exakter an alle Namen zu erinnern versuchen. Jedes unabsichtliche Verschweigen konnte ihm zum Verhängnis werden!
Die folgende Nacht lag B. wach. Zwanzig unbeschriebene Blätter waren ihm in die Zelle mitgegeben worden, damit er Vergessenes unverzüglich nachtragen konnte, wenn es ihm einfiel. B. benutzte die Sandalen als Schreibunterlage und füllte Seite um Seite. Er berichtete von seiner ersten Reise nach Teheran als Tourist 1972, von der Stadttour in Teheran, dem Besuch im Museum. Acht Jahre später war er erstmals als Verkaufsingenieur für die Firma im Iran, hielt die ersten Vorträge und präsentierte Geräte. Wie in seinen ersten Schulaufsätzen reihte er Episode an Episode und überliess die Gewichtung dem Beurteiler. Er war vom Verhörer angewiesen worden, nur Grossbuchstaben zu verwenden.
«ICH HABE SEHR VIELE LEUTE GETROFFEN. ICH KANN MICH NICHT MEHR AN ALLE NAMEN ERINNERN. DOCH, DIE HAUPTVERANTWORTLICHEN INGENIEURE UND REGIERUNGSBEAMTEN, DEREN NAMEN KENNE ICH. WIR HABEN UNS ÜBER DIE JAHRE SO OFT GESEHEN. VIELE WAREN JA AUCH BEI DER FIRMA ZU BESUCH. AM WOCHENENDE WAREN WIR ZUSAMMEN AUF DEM JUNGFRAUJOCH, AUF DER STERNWARTE IN ZÜRICH ODER IM VERKEHRSHAUS IN LUZERN, WENN ES REGNETE. WIR KANNTEN UNS GUT, ES WURDEN MIR IHRE FAMILIEN VORGESTELLT. DER ADMIRAL HAT MICH IN SEINE WOHNUNG EINGELADEN, WIR WAREN ZUSAMMEN AUF VERSCHIEDENEN KRIEGSSCHIFFEN FÜR UNSERE GERÄTE. ICH SCHLOSS CHIFFRIERGERÄTE AN TELEFONAPPARATE IM GEBÄUDE DES VERTEIDIGUNGSMINISTERIUMS AN. ICH WURDE IN EINEN EINSATZRAUM DER STREITKRÄFTE TIEF UNTER DER ERDE GEFÜHRT, WO ICH DAS GLEICHE TAT. ICH SOWIE WEITERE MITARBEITER DER FIRMA ABSOLVIERTEN MEHRERE HELIKOPTERFLÜGE, UM DAS GUTE FUNKTIONIEREN UNSERER GERÄTE ZU ZEIGEN. AUCH HATTEN WIR INSTALLATIONEN IN ANDEREN FLUGZEUGTYPEN VORZUNEHMEN. DIE IRANISCHEN FERNMELDESPEZIALISTEN WAREN SEHR DARAUF BEDACHT, ALLE MÖGLICHEN ANWENDUNGEN VOR EINEM KAUF VON GERÄTEN GESEHEN UND ERPROBT ZU HABEN. NEIN, ICH HABE NICHT SPIONIERT, WIE VIELE HELIKOPTER DIE IRANISCHE ARMEE HATTE, SONDERN HABE IM LAUF UNSERER GESPRÄCHE GEFRAGT, WIE VIELE GERÄTE FÜR DIE VERSCHIEDENEN FLUGZEUGTYPEN DENN IN FRAGE KÄMEN. DIE VERANTWORTLICHEN OFFIZIERE FÜR FERNMELDE- UND CHIFFRIERFRAGEN WAREN BEGEISTERT VON DEN GUTEN RESULTATEN. SIE SAHEN, DASS ES MIT UNSEREN GERÄTEN NUN MÖGLICH WAR, DASS DIE PILOTEN DER LUFTWAFFE UNTER SICH UND MIT BODENSTATIONEN FUNKVERKEHR ABWICKELN KONNTEN, OHNE DASS SIE VOM FEIND ABGEHÖRT WERDEN KONNTEN. DIE FIRMA HATTE DEN AUFTRAG GEWONNEN GEGEN ALLE KONKURRENTEN VON ANDERN EUROPÄISCHEN LÄNDERN. «SWISS QUALITY», DIES GAB ARBEIT IN DER FABRIK IN STEINHAUSEN-ZUG.»
Diese Geschichte würde endlos! Kein Zweifel, seine Firma musste so rasch wie möglich orientiert werden. Ende März stand schon die nächste Verkaufsreise nach Mexiko bevor. Die detaillierte Reiseplanung war zu machen, das Nötige vorzukehren, dass die Swiss Quality an der Ausstellung «America’s Telecom 92» ihrem Ruf gerecht wurde. Es musste dringend dafür gesorgt werden, dass ein anderer Frontverkäufer diese Aufgabe an die Hand nahm.
B. verfasste auf den leer gebliebenen Seiten ein Schreiben an die Firma. Er musste so rasch wie möglich über die Vorwürfe orientieren, die ihm hier gemacht wurden. Das würde sie genauso unerwartet treffen, wie es ihn getroffen hatte! Auch den Verkaufskollegen und den Mitarbeitern im Innendienst wollte sich B. erklären. Was ihm passiert war, konnte jedem passieren. Er schilderte detailliert, wie er aus völlig unerfindlichen Gründen in Teheran verhaftet worden war. Dass ihm illegale Kontakte zu Militärpersonen, Bestechung, Konsum von Alkohol und Spionage vorgeworfen würden. Dabei seien seine Kontakte durchaus im üblichen Rahmen der Verkaufsverhandlungen der Firma gelaufen. Dass man sich abends in einer Privatwohnung getroffen habe, sei angesichts des Zeitdrucks auf einer solchen Reise nicht aussergewöhnlich. Auch der Vertriebschef sei übrigens schon in dieser Wohnung gewesen. Im Cola müsse ein Schuss selbstgebrauter Wodka drin gewesen sein, aber auch das sei nicht aussergewöhnlich. Iranische Gastgeber böten ihren Gästen stets vom Besten an, was sie haben – da werde sich der Vertriebschef zweifellos daran erinnern. B. habe ausserdem nicht danach gefragt, sondern nur, ob er einen «Drink» haben könne, was im Englischen irgendein Getränk bedeute.
Bestochen habe er niemanden. Die beiden kleinen Geldbeträge, die er iranischen Bekannten gegeben habe, einmal 200000 Rial (umgerechnet vielleicht 200 Franken) für einen Medikamentenkauf kurz vor dem iranischen Neujahr zur Behandlung eines erkrankten Kindes, ein zweites Mal 20 000 Rial (20 Franken) für eine Taxifahrt nach einer unerwartet langen Sitzung, könnten angesichts der Dimension dieser Geschäftsabschlüsse doch nicht ernstlich als Bestechungsversuche gewertet werden. Und die Taggelder, die er iranischen Teilnehmern an Trainingskursen in der Schweiz ausgehändigt habe, seien im Rahmen der Kundenbetreuung üblich und auch ganz normal über das Buchhaltungskonto der Firma abgerechnet worden. Spionage schliesslich sei als Vorwurf völlig aus der Luft gegriffen.
B. zeigte sich zuversichtlich, dass sich die Dinge in den nächsten Tagen klären würden, er definitiv in die Schweiz zurückkehren und die Arbeit wieder aufnehmen könne. Ob die Firma trotzdem seine Frau und Tochter informieren könnte?
Sie mussten sich Sorgen machen, denn in den dreizehn Jahren ihrer Lebensgemeinschaft war er wohl hin und wieder verspätet nach Hause gekommen, aber nie, ohne zu telefonieren. Er hatte seiner Tochter zugesagt, dass er am Samstag, dem Besuchstag der Kantonsschule, auf jeden Fall da sein werde, und sie hatte in der Englischstunde wohl Zeichen gemacht in Richtung der Mutter: Wo bleibt er bloss? Jetzt ist er wieder nicht da, kein einziges Mal im Jahr kommt er, obwohl er doch immer wieder sagt, dass ihn meine Schule interessiere und dass Fremdsprachen wichtig seien! Und wer würde den Rasen mähen am Wochenende, wenn er nicht da war? Wenn es nur nicht die Tochter selber versuchen würde!
In diesen Gedanken und Befürchtungen war B. eingenickt. Noch im Traum sah er den Fuss der Tochter eingeklemmt zwischen den Messern des Rasenmähers. Vom Schrei der Tochter und den Koransuren geweckt, schreckte er hoch. Sein Zellenguckloch war schon geöffnet, eine Hand reichte Brot herein.
Beim folgenden Verhör gab B. die zwanzig beschriebenen Seiten ab. Noch während der Verhörer die Seiten überflog, bat B., unverzüglich in die Schweiz telefonieren zu dürfen. Firma und Familie würden sich grosse Sorgen machen, wenn er nicht auf dem gebuchten Flug sei. Falls ein Telefon in die Schweiz unmöglich sei, müsse jedenfalls das Schreiben an die Firma unverzüglich weitergeleitet werden.
Der Verhörer schwieg und las B.s Zellenaufzeichnungen zu Ende. Dann beschied er, dass ein solches Schreiben unmöglich an die Firma weitergeleitet werden könne. B. bat darum, wenigstens die Schweizer Botschaft in Teheran in einem kurzen Brief anzuweisen, seine Hotelrechnung zu begleichen. Der Betrag würde nach seiner Freilassung umgehend zurückerstattet. So war die Botschaft immerhin auch über seine Verhaftung orientiert, ohne dass sich B. gleich auf sein Recht auf einen Botschaftsbesuch berufen hatte, was ihm die iranischen Behörden nachteilig hätten auslegen können. Auch den Anspruch auf einen Verteidiger wollte B. vorderhand nicht stellen. Die iranischen Behörden wären ohnehin nicht darauf eingegangen und hätten ihn danach womöglich als abgebrühten Professionellen behandelt, der nichts ohne Anwalt macht. Es war ja noch immer denkbar, dass B. von einem Tag auf den andern freikam, wenn die Befrager alles wussten.