Читать книгу Blindlings ins Glück - Ria Hellichten - Страница 11
BEA
ОглавлениеAls Tabea an der Haltestelle Lorettostraße aus der Straßenbahn stieg, schlug ihr die Mittagshitze ins Gesicht. In den letzten zwei Wochen hatte der pausenlose Sonnenschein – dem Klimawandel sei Dank – dafür gesorgt, dass es in Freiburg, auch bekannt als „Toskana Deutschlands“, so warm war wie am Gardasee oder auf Mallorca. Aber natürlich war es hier viel schöner. Das Blätterdach der stämmigen Rosskastanien, die sich nach dem wolkenlosen Himmel ausstreckten, spendete Tabea Schatten. Die Bäume waren so dicht belaubt, dass nur ab und zu die romantische Turmspitze einer der alten Fabrikantenvillen durch das Grün blitzte oder ein vereinzelter Sonnenstrahl auf das Kopfsteinpflaster fiel. Tabeas Pluderhose flatterte im lauen Wind, darüber fiel ihre bunte Tunika. Beide Kleidungsstücke mochte sie besonders: Weil sie bequem waren und weil es sie jedes Mal mit Schadenfreude erfüllte, sich so anzuziehen, dass ihrer Mutter die Haare zu Berge stehen würden, könnte sie sie sehen. Du hast immer etwas von einer Vogelscheuche, hatte sie einmal gesagt. Aber das machte nichts, fand Tabea, denn als Spatzenschreck konnte man sich wenigstens den ganzen Tag auf den Getreidefeldern die Sommerluft um die Nase wehen lassen und müsste bestimmt nicht irgendeinem Personalchef hinterherjagen, der sich in letzter Zeit nicht sonderlich oft in seinem Büro sehen ließ. Dass der aufgeplusterte Vogel ernsthaft krank sein sollte, konnte sie sich nur schwerlich vorstellen.
Tabea bog ein letztes Mal in eine Seitenstraße ein, um der Beschreibung auf Google Maps zu folgen. Geschmack hatte Herr Baumann ja, zumindest was seine Behausung anging. Die neobarocke Villa an der Straßenecke war ein eindrucksvolles Relikt aus den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts. Ehrfürchtig bestaunte Tabea das dreigeschossige Gebäude mit den gesprossten Rundbogenfenstern und den ausladenden Erkern. Sie dachte daran, dass es bald immer weniger dieser gemütlichen Straßen und grünen Plätze in Freiburg geben würde, wenn der Bauwahn weiter voranschritt. Und das nicht zuletzt wegen Menschen wie Johannes Eduard Baumann – ja, sie hatte sogar seinen Zweitnamen recherchiert, um die Kohlmeise zufriedenzustellen –, denn die Betonklötze, in denen sie arbeiteten, brauchten Platz und ebenso die Golfplätze und Parkhäuser voller Sportwagen.
Aber als Tabea vor dem großen Eisentor stand, das von einer Buchenhecke umrahmt wurde, stiegen Zweifel in ihr auf. War es die richtige Entscheidung gewesen, unangemeldet hier aufzutauchen? Die freundliche Stimme von Baumanns Assistentin klang ihr noch in den Ohren: Sanacur, Büro Baumann, Barbara Münzer am Apparat … Ach, schön, dich zu hören, Tabea – es tut mir leid, aber Herr Baumann ist krankgeschrieben … Nein, ich glaube, es wird noch eine Weile dauern, bis er wieder ins Büro kommen kann. Viel Erfolg für deine Arbeit.
Von welcher ominösen Krankheit der Personaler befallen worden war, hatte Barbara ihr nicht verraten und jetzt stand sie vor seinem Wohnhaus und fühlte sich unwohl dabei, so ungeniert in die Privatsphäre dieses überaus unangenehmen Menschen einzudringen. Andererseits hatte sie keine Wahl. In etwas mehr als vier Wochen musste ihre Arbeit fertig sein und dazu brauchte sie die Hilfe von Johannes Baumann.
Zögerlich trat sie durch das angelehnte Tor und ging die Treppenstufen hinauf, die zur Haustür führten. Sein Name war fein säuberlich auf das Klingelschild gedruckt, daneben prangten noch drei andere Namensschilder, versehen mit Zusätzen wie LL. M. oder Dr. rer. nat.
Tabea atmete tief durch und läutete. Nichts geschah. Typisch. Wahrscheinlich war Herr Baumann schon längst zum Champagnerfrühstück ausgeflogen. Aber sobald ihr dieser absurde Gedanke gekommen war, befiel sie ein schlechtes Gewissen. Vielleicht war er gar nicht zu Hause, weil er beim Arzt oder sogar im Krankenhaus war? Obwohl, sein Rückgrat konnte er sich nicht gebrochen haben … Sie schüttelte den Kopf, um sich zur Besinnung zu rufen, und schluckte den Frust herunter, der in ihr aufstieg, als sie plötzlich wieder an Kohlmeises kritische Worte denken musste. Sie haben den armen Mann ja geradezu als Ungeheuer dargestellt. Wahrscheinlich hatte ihr Professor recht: Der Personalchef würde höflich ihre Fragen beantworten, sie könnte schon bald wieder gehen und müsste ihn nach dem Interview nie wiedersehen.
Entschlossen drückte Tabea erneut auf den Klingelknopf, diesmal etwas länger. Ein paar Sekunden verstrichen und nichts geschah, dafür zwitscherten die Vögel in den Kastanien und der Sommerwind rauschte leise durch ihr kurzes Haar. Tabea wollte sich gerade wieder umdrehen, als eine unfreundliche, verschlafene Stimme aus dem Lautsprecher dröhnte und die idyllische Geräuschkulisse ruinierte. „Wer ist da?“
Ihre Gedanken überschlugen sich hektisch. Na toll. Jetzt stand sie hier und wusste nicht einmal, was sie sagen sollte. Auf keinen Fall durfte sie sich ihre Unsicherheit anmerken lassen, sonst hielt er sie noch für eine lästige Zeitschriftenvertreterin und sie würde nie eine Gelegenheit bekommen, in Ruhe zu erklären, was sie wollte. „Hallo, Bach ist mein Name“, begann sie. „Ähm, Ihre Assistentin schickt mich.“ Das war nur halb gelogen. „Es geht um …“ Aber bevor sie sich erklären konnte, ertönte bereits der Summer. „Ganz oben“, sagte die Stimme knapp.
Mit klopfendem Herzen drückte Tabea die Haustür auf und betrat die Villa, die zu einem schicken Mehrfamilienhaus ausgebaut worden war. Eine gewendelte Treppe mit prunkvollem Geländer führte in die oberen Etagen und daneben gab es sogar einen Aufzug. Sie stieg die Treppenstufen aus lackiertem Edelholz hinauf, bis sie im obersten Stock angekommen war, und bewunderte dabei die hübsch restaurierten Buntglasfenster.
Als sie sich der Wohnungstür näherte, wurde die Klinke heruntergedrückt, aber ehe sie dem großen Mann, der ihr geöffnet hatte, ins Gesicht sehen konnte, hatte er sich schon umgedreht und eilte davon, wobei er sich mit einer Hand an der Wand abstützte.
Tabea blieb nichts anderes übrig, als seine Rückseite zu betrachten. Sie war überzeugt gewesen, dass jemand wie Johannes Baumann auch zu Hause nur Anzüge trug. Dass er vielleicht sogar im Anzug schlief, wie Barney Stinson. Aber sie hatte sich geirrt: Dieser Mann trug nichts weiter als ein weißes T-Shirt und Boxershorts – zugegeben, er hatte wohl auch die Figur dafür. Allem Anschein nach hatte sie ihn geweckt. Tabea spürte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss. Natürlich! Er war schließlich krank und verbrachte wahrscheinlich den ganzen Tag im Bett. Vielleicht hätte sie sich doch anmelden sollen.
Vorsichtig schloss sie die Tür hinter sich und trat ein. Gleich darauf schmiegte sich etwas Weiches und Warmes um ihre nackten Knöchel. Eine Katze! Sie beugte sich herunter und streichelte den gescheckten Stubentiger. Sollte Baumann etwa ein Tierfreund sein? Ausgeschlossen. Wer fütterte denn die arme Katze bei einem 12-Stunden-Tag im Büro? Obwohl, wahrscheinlich übernahm das auch Barbara. Das und noch andere Dinge …
„Jetzt kommen Sie schon rein“, rief Herr Baumann vom Wohnzimmer aus. Tabea spähte durch den Flur und sah, dass er es sich dort auf einem dunklen Ledersofa bequem gemacht hatte und mit gelangweiltem Blick auf die gegenüberliegende Wand starrte.
„Es wird auch höchste Zeit, dass Sie kommen“, rief er. „Meine Haushaltshilfe hat erst nächste Woche wieder Zeit, aber das Katzenklo muss dringend gereinigt werden und mir geht langsam das Futter aus.“
Für Sie oder für die Katze?, schoss es Tabea durch den Kopf, aber sie biss sich rechtzeitig auf die Zunge und schluckte die unangebrachte Frage herunter. Das war eindeutig ein Missverständnis, wie sonst sollte er darauf kommen, dass sie zum Putzen hier war? Und auch wenn sie während ihres Praktikums nie mehr als ein paar Worte gewechselt hatten, müsste Baumann sie doch erkennen, oder nicht?
„Sie wissen, wer ich bin?“, fragte sie und setzte sich in einiger Entfernung zu dem Sofa, auf dem sich Herr Baumann ausgestreckt hatte, auf einen Klubsessel. Der Kater lief an ihr vorbei, sprang ihrem Gegenüber auf den Bauch und ließ sich kraulen.
Er sah sie nicht einmal an. „Ja, natürlich. Babsi hat mir gesagt, dass ich wohl nicht drum herumkommen werde, also können wir uns den Small Talk auch sparen. Und machen Sie Ihren Job gut, sonst suche ich mir eine andere Assistentin … oder Sozialarbeiterin oder wie auch immer Sie sich nennen.“
Tabea spürte, wie ihr das Blut in den Kopf stieg. Er hielt sie für seine Sozialarbeiterin! Wie kam er bloß auf die Idee? Und weshalb sollte Johannes Baumann eine Sozialarbeiterin brauchen? „Also, ich wollte eigentlich …“, setzte sie an, verstummte aber gleich darauf. Eine verlockende Idee begann sich in ihrem Geist zu formen. War das vielleicht die Gelegenheit, auf die sie gewartet hatte? Ihre Chance, ihn persönlich kennenzulernen und herauszufinden, was unter der rauen Schale steckte, so wie Kohlmeis es ihr aufgetragen hatte? Tabea faltete die Hände und räusperte sich. „Ich wollte Ihnen erst mal ein paar Fragen stellen. Das ist wichtig für unsere … Zusammenarbeit, wie Sie sicher verstehen.“
„Ach ja?“ Er ließ von seinem Kater ab und sah auf. In dem Moment, als er ihr ins Gesicht sah, überkam sie ein merkwürdiges Gefühl. Seine Augen wanderten unruhig hin und her, als suchten sie einen Fixpunkt. Er seufzte, dann sah er wieder zu Boden, sodass seine Lider beinahe geschlossen waren. „Meinetwegen. Fragen Sie, wenn es sein muss.“
Tabea strich den Stoff ihrer hoffnungslos zerknitterten Hose glatt. „Ich danke Ihnen für Ihre Offenheit. Sie sind krank? Wollen Sie mir vielleicht sagen, was Ihnen genau fehlt?“
Baumann zuckte mit den Schultern. „Ich bin blind. Ich dachte eigentlich, das wüssten Sie. Es kam plötzlich.“ Er schwieg einen Moment, dann fügte er hinzu: „Eine Erbkrankheit. Nicht reversibel.“
Tabea erstarrte. Blind? Wie konnte das sein? Sollte Johannes Baumann tatsächlich in den wenigen Monaten, seit sie ihn zuletzt gesehen hatte, erblindet sein? Hatte er vielleicht schon immer Probleme mit seinen Augen gehabt, aber sie war während ihres Praktikums so mit sich selbst beschäftigt gewesen, dass sie das nicht … nein, sicher wäre ihr etwas aufgefallen, oder nicht?
Sie hatte Mühe, die aufkeimenden Schuldgefühle zu unterdrücken. Die Vorstellung war schrecklich. Seine abweisende Art erschien ihr plötzlich in einem ganz neuen Licht. Tabea schluckte und sammelte sich. „Sind Sie vollständig erblindet?“
Er schnaubte. „Was glauben Sie denn? Wollen wir ein Spielchen spielen? Mal sehen, wie viele Finger Sie zeigen? Ja, verdammt, das bin ich! Blind wie ein Maulwurf.“
„Eigentlich ist es nur ein Ammenmärchen, dass Maulwürfe –“ Tabea schüttelte den Kopf und holte tief Luft. Warum konnte sie bloß nie die Klappe halten?
Baumann hatte trotzig den Kopf erhoben und Tabea betrachtete sein Gesicht genauer. Zu ihrer Erleichterung zuckten bei ihrer vorlauten Äußerung über Maulwürfe tatsächlich seine Lippen nach oben, sodass man beinahe glauben könnte, er würde lächeln – wenn auch nicht so selbstgefällig wie früher. Auch sonst hatte dieser Mann nicht mehr viel mit dem geleckten Johannes Baumann im maßgeschneiderten Anzug gemeinsam. Die kurzen, hellbraunen Haare, die er im letzten Herbst immer akkurat frisiert getragen hatte, waren zerzaust, aber nicht auf die modische Art. Dabei hatte er damals auf sie gewirkt wie ein Mann, der ein bisschen zu lange vor dem Spiegel stand: Der Anzug saß stets perfekt, die Hemden hatten edle Kontrastnähte oder eingestickte Initialen. Sein gebräuntes Gesicht war penibel glatt rasiert gewesen und die blauen Augen stachen unter den markanten Augenbrauen hervor. Überhaupt fand sie damals, dass seine Gesichtszüge ein bisschen zu hübsch für einen Mann waren. Und dass sein Blick mit den immer etwas skeptisch zusammengezogenen Augenbrauen wahrscheinlich etliche Frauenherzen zum Schmelzen gebracht hätte, wenn Baumann nicht so arrogant gewesen wäre – eine Eigenschaft, die zumindest Tabea bei Männern überaus abstoßend fand, wie attraktiv sie auch sein mochten.
Wenn sie sich jetzt daran zurückerinnerte, fiel ihr auf, wie genau sie ihn damals beobachtet hatte. Sicher, deshalb hatte sie ja das Praktikum gemacht: um zu studieren, wie er mit seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern umging. Trotzdem verunsicherte sie diese Erkenntnis. Gedankenverloren schüttelte sie den Kopf und versuchte, sich wieder auf die Gegenwart zu konzentrieren. Der Johannes Baumann von heute trug einen Dreitagebart, er hatte dunkle Augenringe und auf seinem T-Shirt waren ein paar Flecken, die aussahen wie Marmelade oder Tomatensoße. Er wirkte beinahe ein wenig verwegen, wie jemand, der auf einer einsamen Insel gestrandet war. Nur dass er dafür noch zu viele Kleider trug, auch wenn es ja nur Unterwäsche war.
O Gott! Ihre Fantasie ging schon mit ihr durch. Sie würde jetzt sicher nicht anfangen, sich Baumann nackt vorzustellen. Oder war es dafür schon zu spät? Tabea spürte, wie ihr wieder die Hitze ins Gesicht stieg. Das war wie bei dem psychologischen Problem des blauen Elefanten, das jedem Studenten ihres Fachs bekannt war: Woran dachte jemand, den man bat, auf keinen Fall an einen blauen Elefanten zu denken? Genau.
Aber selbst wenn ihr Unterbewusstsein sich gerade auf abwegige Pfade begeben hatte, hieß das nicht, dass ihr gefiel, was sie gesehen hatte. Sie mochte Männer, die wussten, was sie wollten. Und jemand, der so offensichtlich das Alphatier markieren musste wie Johannes Baumann, wusste es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht. Sie glaubte sogar, dass sich unter der harten Schale vielleicht ein empfindlich weicher Kern verbarg.
„Ich kann spüren, dass Sie mich anstarren“, bemerkte Baumann beiläufig.
„Das tue ich nicht“, log sie und räusperte sich. „Also, kommen wir zu meinen Fragen.“ Sie zog Block und Stift aus ihrem Rucksack. Wo war denn jetzt die verdammte Liste mit dem FPI-Katalog?
Baumann richtete sich halb auf. „Möchten Sie etwas trinken?“, unterbrach er ihre Kramerei.
Tabea sah verdutzt auf. „Äh, nein. Vielen Dank.“
Er zuckte mit den Schultern. „Nur weil ich blind bin, habe ich nicht verlernt, ein Gentleman zu sein.“
Bei diesen Worten musste Tabea ein ironisches Schnauben unterdrücken. Ein Gentleman! Sie konnte sich noch lebhaft daran erinnern, wie er die arme Barbara an einem verregneten Montag im letzten Herbst viermal zur Kaffeemaschine hatte laufen lassen, weil ihm der Kaffee zu kalt, zu heiß, zu schwach oder zu bitter gewesen war. Als Tabea ihr damals zur Hand gehen wollte, hatte Baumanns Assistentin nur stumm den Kopf geschüttelt und ihr einen vielsagenden Blick geschenkt.
Ah, da war ja der Fragenkatalog. Na endlich. Triumphierend zog Tabea das Blatt aus dem Collegeblock. Sie wollte nicht mehr Zeit in Baumanns Wohnung verbringen als unbedingt nötig. Jetzt bestünde die Kunst darin, zunächst Fragen auszuwählen, die relativ unverfänglich waren, damit sie nicht sofort als Psychologiestudentin auf-flog. Mit etwas Glück würde Kohlmeis es gar nicht merken, wenn sie die ein oder andere Frage ausließ. Improvisieren, dachte sie. Das war nichts anderes als beim Theater, wenn man einen Texthänger hatte: einfach improvisieren.
„Gut … ähm, Herr Baumann, würden Sie sagen, dass Sie viel über Ihr Leben nachgrübeln?“
Er lachte auf und wischte sich theatralisch mit dem Handrücken über die Stirn, wobei das T-Shirt über seiner Brust spannte. „Aber ja, ständig! Ich grüble immerzu über den Sinn des Lebens nach und vor allem über die Frage, warum ausgerechnet mich dieses tragische Schicksal ereilt hat.“ Er zog einen Mundwinkel hoch und grinste sie unverhohlen an.
Tabea schluckte und schwieg einen Moment, ohne auf seine Provokation einzugehen. Dann sagte sie ruhig: „Sie möchten doch sicher, dass Ihre Katze nachher eine vernünftige Mahlzeit bekommt und keine Reste aus der Biotonne? Dann nehmen Sie bitte auch meine Fragen ernst.“
„Das würden Sie tun?“ Neben Empörung schwang echte Verwunderung in seiner Stimme mit. Hatte sie es tatsächlich geschafft, den großen Johannes Baumann mit ihrer Schlagfertigkeit zu beeindrucken?
„Um ehrlich zu sein: nein. Beantworten Sie jetzt meine Frage?“
Er schüttelte den Kopf.
Es war doch nicht zu fassen! Tabea holte tief Luft und wollte gerade etwas erwidern, da fügte er hinzu: „Nein, ich bin kein Grübler. Ich bin ein Mann der Tat, nicht der Worte, verstehen Sie?“
„Hm.“ Tabea nickte und setzte ein Kreuzchen auf ihrem Bogen. Das Inventar war einfach aufgebaut und so brauchte sie sich nur zu notieren, ob er der Aussage zugestimmt hatte oder nicht. „Und sind Sie gern mit unbekannten Menschen zusammen?“
Baumann verschränkte die Arme. „Mit Frauen oder Männern?“
„Sowohl als auch.“
Er starrte zur Zimmerdecke, als müsse er überlegen. „Ich denke, Sie kennen die Antwort.“
„Gut, aber es wäre trotzdem wichtig, dass Sie –“
„Wissen Sie, ich habe da gerade eine andere Idee.“ Baumann wandte ihr seinen Kopf wieder zu. „Der Sinn dieses kleinen Spielchens hier ist doch, dass wir uns besser kennenlernen, oder nicht? Damit es nachher nicht so unangenehm ist, wenn wir … na ja, enger zusammenarbeiten. Ich müsste mich zum Beispiel dringend mal wieder rasieren. Hab mich noch nicht getraut, eine Klinge in die Hand zu nehmen.“
Tabea erstarrte. Da hielt sich wohl jemand für besonders witzig. „Keine Sorge, der Bart steht Ihnen ausgezeichnet“, erwiderte sie so kühl wie möglich, obwohl sie wohl nicht verhindern konnte, dass sich ein winziges Schmunzeln in ihre Stimme schlich.
„Danke, aber den habe ich auch nicht gemeint.“
Sie seufzte und spielte an ihrem Kugelschreiber herum, ohne etwas zu erwidern.
„Jedenfalls wäre es nur fair, wenn Sie mir auch ein paar Fragen beantworten. Was halten Sie davon? Vielleicht sogar dieselben Fragen, die Sie mir stellen, ja?“
Das Letzte, was Tabea wollte, war, Johannes Baumann persönliche Details über sich zu verraten. „Also, ich denke nicht, dass das von Nutzen ist hinsichtlich Ihrer … Genesung – äh, Gewöhnung an den neuen Alltag.“
„Fangen wir doch erst mal damit an, uns zu duzen. Ich bin Johnny.“
„Hm.“ Ein Name wie gemacht für einen Hipster, dachte sie. Nur dass er dafür mindestens zehn Jahre zu alt war. „Ich bin Tabea.“
„Bea also.“
Bevor sie widersprechen konnte, läutete es an der Tür. Sie erhob sich aus dem Sessel. „Ich kann schnell gehen, wenn Sie möchten … wenn du magst“, bot sie an.
„Nein“, entgegnete er. „Wie du vorhin selbst gesehen hast, kann ich das allein.“
Johnny tastete sich zur Wohnzimmertür vor und ließ sie hinter sich zufallen. Bea konnte zwar hören, dass er kurz mit jemandem sprach, aber sie verstand nicht, wo-rum es ging.
„Wer war es denn?“, fragte sie, als er wieder ins Zimmer kam.
Johnny zuckte mit den Schultern. „Nur der Postbote. Ich sollte mal wieder ein Paket für meinen Nachbarn annehmen.“
Aha, dachte Bea. Hatte er also doch eine hilfsbereite Ader? Da sollte sie nachhaken. „Machst du das öfter?“
„Nein. Wenn er sich seine DVDs schon online bestellen muss, kann er sie auch selbst in der Postfiliale abholen. Heutzutage kann man alles streamen. Scheint ein neuer Postbote zu sein, der alte hat mich gemieden wie die Pest.“
Bea ignorierte seine Bemerkung. „Gut, also weiter mit den Fragen … Achtest du auf ausreichend Bewegung, um in Form zu bleiben?“ Gedankenverloren umkreiste sie die Frage auf ihrer Liste. Es war mehr als offensichtlich, dass Johnny sehr viel Wert darauf legte, in Form zu bleiben. Die strammen Schenkel, von denen die Boxershorts nicht sehr viel bedeckten, und die Bauchmuskeln, die man unter seinem T-Shirt erahnen konnte, bezeugten das zweifelsfrei. Aber darum ging es bei den Fragen nicht. Es ging darum, wie er sich selbst einschätzte.
Ein leiser Seufzer entwich ihm. „Ich bin früher viel gejoggt und wollte immer mal einen Marathon laufen. Aber das geht ja momentan schlecht.“ Er räusperte sich. „Und jetzt schuldest du mir schon zwei Antworten.“
„Was?“
„Grübelst du viel nach, Bea?“
Bea knirschte mit den Zähnen. Sie wollte nicht mit Johnny plaudern, aber noch viel weniger wollte sie sich eingestehen, dass sie sein Interesse peinlich berührte. Vielleicht ging Johnny ja tatsächlich auf, dass es noch Menschen gab, die ganz, ganz anders tickten als er und trotzdem glücklich waren? „Jein“, antwortete sie.
Sein Grinsen wurde breiter.
„Ich denke, dass ich durchaus ein nachdenklicher Mensch bin. Aber Grübeleien allein bringen einen nicht weiter. Dafür braucht es, wie du schon gesagt hast, Taten.“
„Hm. Wie wahr.“ Er tätschelte den Kopf seines Katers, der ihm auf den Bauch gesprungen war. „Und bist du gern mit unbekannten Menschen zusammen?“
„Ja“, antwortete sie eilig. „Ich komme eigentlich mit allen Menschen gut aus –“
Aber Johnny war noch nicht fertig. Er schob hinterher: „Auch mit solchen wie mir?“
Bea musterte den Mann, der ihr gegenübersaß. Sie hatte nicht das Gefühl, ihn jetzt besser zu kennen als im letzten Herbst. „Ich glaube, ich werde mich mal um die Katze kümmern“, sagte sie und stand auf. „Die Fragen können noch warten. Wie heißt sie denn eigentlich?“
„Er heißt Kater.“
„Es ist also ein Kater?“, fragte Bea.
„Ja. Und das ist auch sein Name.“
Sie zog eine Augenbraue hoch. „Dann hat er keinen Namen?“
Johnny schnalzte mit der Zunge. „Doch: Er heißt einfach nur Kater. Weißt du, es ist so ...“
Sie sah ihn erwartungsvoll an.
„Namen verletzen. Sie werden einem übergestülpt, von Menschen, die einen noch gar nicht kennen. Und dann kleben sie ein Leben lang an einem dran, wie ein Etikett auf einer Weinflasche. Aber anders als bei Namen bezeichnet der Aufkleber wirklich das, was in der Flasche ist, stimmt’s? Ich will meinem Kater kein Etikett verpassen – er darf einfach nur er sein.“
Bea öffnete den Mund und schloss ihn sofort wieder. Und sie hatte gedacht, der Name seiner Katze wäre ein unverfängliches Gesprächsthema. Schweigsam betrachtete sie den Mann, der ihr gegenübersaß. Irgendetwas in Johnnys, wenngleich rastlosem, Blick ließ sie vermuten, dass diese Worte ihr viel mehr über den Menschen Johannes Baumann verrieten, als es der ganze Katalog mit all seinen 138 Fragen könnte.