Читать книгу Blindlings ins Glück - Ria Hellichten - Страница 9
BEA
ОглавлениеEndlich war es so weit: Der ältere Mann hielt inne, zumindest für einen Augenblick. Kurz zuvor hatte er sich von dem Eichenpult erhoben – die ausgeblichene schwarze Robe spannte dabei nicht sehr würdevoll an seinem Oberkörper –, um zu verkünden: „Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil: Die Angeklagte wird für schuldig befunden und zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen à 20 Euro verurteilt.“
Tabea unterdrückte den Drang, sich eine Haarsträhne aus der feuchten Stirn zu streichen. Jetzt war ihr Einsatz. Auch wenn sie jedes Mal Panik überkam, liebte sie den Augenblick. Die Stille, die nur einen Herzschlag lang andauerte, kurz bevor man das erste Mal zu seinem Publikum sprach. Es war der gleiche vertraute Adrenalinrausch, der sie immer dann durchströmte, wenn sie hinter dem Vorhang hervortrat, auf die Bretter trat, die die Welt bedeuteten. Dabei dachte sie immer nur an den ersten Satz oder das erste Wort. Wenn man einmal angefangen hatte, lief es von allein. Auch wenn das hier eigentlich keine Bühne war.
Sie sah dem Richter in die Augen. Er hatte schon den kleinen Hammer erhoben und der hölzerne Kopf zitterte in der Luft, als sie den Mund öffnete, um zu sprechen. „Ich beantrage, eine Ersatzfreiheitsstrafe anzutreten.“
Aus dem Augenwinkel sah Tabea, dass eine blonde Frau im Publikum zusammenzuckte: ihre Mitbewohnerin Doro. Trotzdem fuhr sie fort: „Auch wenn ich gegen das Gesetz verstoßen habe, bereue ich nichts. Die letzte Wiese auf dem Campus zuzupflastern, war eine Fehlentscheidung. Die Ausbetonierung der begrünten Fläche hat dafür gesorgt, dass die Temperatur in der Innenstadt um circa zwei Grad angestiegen ist und noch weiter ansteigen wird. Aber noch bedenklicher ist die Tatsache, dass die freigelegten Grundmauern der alten Synagoge einfach wieder zugeschüttet werden sollen. Dabei wäre es ein wichtiges Zeichen der Solidarität, dieses Mahnmal der Reichskristallnacht zu würdigen, indem man beispielsweise –“
An diesem Punkt wurde sie von dem weißhaarigen Mann unterbrochen. Er hatte die buschigen Augenbrauen zornig zusammengezogen. „Frau Bach, eine Ersatzfreiheitsstrafe kommt nur bei Zahlungsunfähigkeit infrage. Ihr Anwalt wird Sie dazu beraten. Und die Beweggründe für Ihre … Aktion haben Sie bereits zur Genüge erläutert. Das Urteil ist hiermit verkündet.“ Er schlug seinen Hammer jetzt umso kräftiger auf das Pult. „Ich erkläre die Verhandlung für geschlossen.“
Es hätte schlimmer kommen können. Tabea hatte erwartet, deutlich mehr Spott aus den Worten des Richters herauszuhören. Immerhin hatte sie nicht einfach friedlich mit einem Plakat demonstriert, sondern sich an einen Bagger gekettet, um die Arbeiten auf der Baustelle zu behindern. Insgeheim hoffte sie immer noch, dass ihr Fall vielleicht genügend mediale Aufmerksamkeit bekommen würde, um die Umgestaltung des Campus in letzter Sekunde zu verhindern. Auch wenn ihre Aktion manchen Mitbürgern etwas übertrieben vorkommen musste, ging es für sie um mehr als ein paar hundert Quadratmeter Granit. Sie wollte, dass die Gräueltaten der Nationalsozialisten niemals in Vergessenheit gerieten – und somit auch nicht die Erinnerung an ihren Großvater, den sie nur aus Erzählungen kannte.
Tabea starrte dem Richter trotzig in die Augen und blieb stehen, bis ihr Verteidiger Platz genommen hatte und beharrlich am Ärmel ihres Blazers zupfte. Widerwillig gab sie nach und setzte sich wieder. Ihr Anwalt schob seine Unterlagen zusammen. „Das Urteil war zu erwarten, Frau Bach. Wir besprechen alles Weitere nachher in meinem Büro. Gehen Sie doch erst mal etwas essen.“
Tabea nickte, schüttelte kurz seine Hand und beeilte sich, nach draußen zu kommen. An ein Mittagessen war allerdings nicht zu denken, denn in zwanzig Minuten musste sie im Sprechzimmer von Professor Kohlmeis sein und sie wusste nur zu gut, wie sehr er Unpünktlichkeit verabscheute.
Aber bevor sie durch das Eingangsportal des Amtsgerichts eilen konnte, legte ihr jemand eine Hand auf die Schulter. „Bea!“, zischte eine vertraute Frauenstimme. Im nächsten Moment wurde Tabea in eine ruhige Ecke des Flurs gezogen. „Bist du eigentlich völlig verrückt geworden?“ Doro sah sie eindringlich an. Ihre blauen Augen funkelten wütend. „Du willst wegen ein paar alter Steine in den Knast gehen? Das kann doch nicht dein Ernst sein!“
Tabea versuchte erfolglos, sich aus dem Griff ihrer Freundin zu wenden. „Du weißt, wie wichtig mir das ist.“
Doro verengte skeptisch die Augen. „Ich kann es einfach nicht fassen! Wenn du wenigstens den Schlüssel nicht ins Gebüsch geworfen hättest, wäre die Feuerwehr nicht gerufen worden, um dich loszuschneiden, und es wäre bestimmt auch nicht zur Anklage gekommen.“
„Doro, das bringt doch jetzt nichts. Können wir das später in Ruhe besprechen? Ich muss gleich zur Kohlmeise.“
Ihre Mitbewohnerin ließ sie los und schüttelte nur stumm den Kopf.
In diesem Moment rief jemand vom Saal her ihre Namen: „Bea, Doro!“ Die hohe Stimme des jungen Mannes war Tabea nur zu vertraut. Flüchtig kam ihr der Gedanke, einfach so zu tun, als hätte sie nichts gehört. Aber dann drehte sie sich um und zwang sich, zu lächeln. „Justus! Was machst du denn hier?“
Doro warf Tabea einen bedeutsamen Blick zu, so, als wollte sie sagen: Ist doch offensichtlich, was der hier macht – dasselbe wie in den letzten zwei Monaten. So lange war es her, dass Tabea ihm unter dem Einfluss von einer Menge Alkohol und noch viel mehr Idiotie Hoffnungen gemacht hatte, dass sie jemals mehr sein könnten als Freunde. Und selbst das war schon zu viel gesagt, denn das Einzige, was sie verband, war ihre Leidenschaft für das Studententheater. Später, formte Doro tonlos mit den Lippen, dann drehte sie sich um und eilte über die Vordertreppe aus dem Gebäude. Tabea war sich ziemlich sicher, dass ihre Freundin sie bestrafen wollte, indem sie sie jetzt mit Justus allein ließ. Mit einem Seufzen wandte sie sich wieder zu ihm.
Justus lächelte. „Ich musste doch zu deiner Verhandlung kommen! Du hast dich tapfer geschlagen. Mann, ich glaube, ich habe dich noch nie im Kostüm gesehen …“
Tabea sah an sich herunter. Auch sie hatte sich noch nicht an diesen Anblick gewöhnt. Aber wie hatte ihre Oma immer gesagt? Kleider machen Leute. Und zumindest heute wollte sie einen seriösen Eindruck hinterlassen.
„Jedenfalls finde ich das Strafmaß in deinem Fall völlig überzogen.“ Der Student strich eine blassblonde Locke beiseite, die ihm in die Stirn gefallen war. „Wenn du möchtest, spreche ich mit meinem Vater. Bei der nächsten Kreistagssitzung könnte er vielleicht –“
Tabea holte tief Luft. Die Christdemokraten waren zwar von vorneherein gegen den Umbau des Platzes gewesen, allerdings nur aus finanziellen Gründen. Und auch wenn sie damit Aufmerksamkeit für ihr Anliegen gewinnen könnte, wollte sie sich nur ungern zum Werbeträger in der Wahlkampfkampagne von Justus’ Vater machen lassen, zumal sie bestimmt keine konservative Wählerin war. „Danke für das Angebot, Justus, aber ich habe einen guten Anwalt. Und ich muss jetzt leider los, gleich ist Sprechstunde bei meinem Professor.“
„Verstehe.“ Sein Lächeln verblasste. „Dann wünsche ich dir viel Erfolg. Sehen wir uns Freitag bei der Probe?“
Nachdenklich zog Tabea die Augenbrauen zusammen. „Ich glaube, diese Woche proben wir am Samstag. Lisa ist doch auf einer Exkursion.“
Justus rieb sich demonstrativ das Kinn. „Stimmt, du hast recht. Sollen wir dann vielleicht einen Kaffee trinken oder so? Wir können ja auch noch mal den Text durchgehen –“
„Tut mir leid“, unterbrach sie ihn, „aber ich kann nicht.“
„Die Abschlussarbeit?“ Justus ließ die Schultern hängen.
„Genau.“ Sie lächelte entschuldigend, stammelte eine Verabschiedung und nahm gleich zwei Treppenstufen auf einmal. Die Abschlussarbeit. Und die Tatsache, dass es eine dämliche Idee gewesen war, sich von Lisa dazu überreden zu lassen, das Gretchen zu spielen – obwohl Justus die Rolle des Faust übernahm. Zumindest in der Theorie, denn eigentlich war ihre Version der Tragödie eine recht moderne Adaption. Gedankenverloren eilte sie über den Bürgersteig und schüttelte den Kopf über sich selbst. Wenigstens konnte ihr Tag unmöglich noch schlimmer werden.
Aber diese Ansicht musste Tabea revidieren, als sie vollkommen abgehetzt und fünf Minuten zu spät im Büro ihres Professors stand, der zu ihrer Verwunderung überaus gut gelaunt zu sein schien.
„Ah, Frau Bach, kommen Sie doch herein. Sie sind ja fast pünktlich heute“, stichelte er.
Dass er zu Späßen aufgelegt war, konnte nichts Gutes heißen. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch trat Tabea in das stickige Zimmer, nahm auf dem ihr angebotenen Stuhl Platz und musterte den schon recht betagten Professor. Er hatte seine Hände über dem dunkelroten Pullunder gefaltet, unter dem sich ein Wohlstandsbauch wölbte, und lehnte sich jetzt erwartungsvoll in seinen Freischwinger zurück.
„Leadership 4.0 – Beziehungsarbeit zwischen Führungspersonen und ihren Mitarbeitern im digitalen Zeitalter“, las er den Titel ihres Exposés vor, das samt dem ersten Kapitel vor ihm auf dem Glastisch lag.
Tabea nickte verhalten.
„Wie würden Sie denn selbst die Konzeption Ihrer Arbeit einschätzen, Frau Bach?“
Tabea räusperte sich. Sie hasste solche Fangfragen. „Na ja, ich denke … in Anbetracht dessen, dass es bis zur Abgabe noch fast fünf Wochen sind, komme ich mit meiner Studie gut voran. Mein Praktikumsbericht aus dem letzten Jahr war eine hilfreiche Grundlage, um das Verhalten der führenden Mitarbeiter bei Sanacur wissenschaftlich zu analysieren.“ Zwar hatte sie hauptsächlich Kaffee gekocht und Akten sortiert, aber erstens musste Kohlmeis das nicht wissen und zweitens waren das tatsächlich ideale Voraussetzungen gewesen, um die Mitarbeiter der Firma, allen voran den unausstehlichen Leiter der Personalabteilung, genau zu beobachten.
„Schön und gut“, sagte Kohlmeis kühl. „Es ist auch ein aktuelles Thema, darüber hatten wir ja schon gesprochen. Die Bibliografie scheint mir recht ordentlich zu sein …“ Er blätterte durch die Unterlagen. „Aber jetzt kommen wir mal auf den Punkt: Ich sehe hier keine Eigenleistung.“
Tabea blinzelte und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass ihr gerade das Herz in die Hose gerutscht war. „Ich verstehe nicht ganz –“
Kohlmeis begutachtete sie von oben bis unten und schenkte ihr dann ein Lächeln, das irgendwie väterlich wirkte. „Frau Bach, ich mag Sie ja gern. Sie sind immer so fleißig. Und Ihr Engagement für … für …“ Er stockte, zog seine Brille von der Nase und putzte sie am Pullunder ab. „Ihr generelles Engagement in allen Ehren, aber Sie haben nicht mehr allzu viel Zeit bis zum Abgabetermin und wenn Sie bis dahin nicht mehr vorzuweisen haben, muss ich Ihnen leider sagen, dass das nicht genügen wird.“
Tabea spürte, wie ihr ein kalter Schauer über den Rücken lief. War sie hier im falschen Film? Sie hatte ungefähr jede deutsch- und englischsprachige Publikation gewälzt, die es auf dem Gebiet gab, nicht wenige davon sogar zweimal. Was hatte Kohlmeis, der olle Vogel, bloß für ein Problem?
„Wir hatten Ihre Fragestellung besprochen“, sagte er jetzt etwas energischer. „Sie sollten eine Korrelation zwischen den konkreten Führungsstrategien des leitenden Personals und der Motivation und Arbeitsleistung der Mitarbeiter herstellen.“
„Genau das habe ich ja vor“, warf Tabea ein.
„Nein.“ Der Professor nahm die Brille ab, legte sie auf den Tisch und massierte seine buschigen Augenbrauen. „Sie sind da leider auf dem Holzweg.“
Tabea schüttelte wie in Trance den Kopf und holte Luft, um etwas zu erwidern, obwohl sie nicht die geringste Ahnung hatte, was da gerade passierte. Aber in diesem Moment hob Kohlmeis mahnend eine Hand.
„Die persönliche Komponente fehlt gänzlich. Dass die Psychologie eine Wissenschaft ist, die sich mit dem Seelenleben des Menschen befasst, brauche ich Ihnen wohl nicht zu erklären. Dieser Herr …“ Er blätterte hektisch durch die Unterlagen. „Dieser Herr …“
„Baumann“, bemerkte sie trocken. „Johannes Baumann, der Leiter der Personalabteilung. Meinen Sie den?“
„Genau. Also, dieser Herr Baumann, was ist das für ein Mensch?“
Kohlmeis hatte seine Brille wieder aufgesetzt und senkte den Kopf ein wenig, um sie über die dicken Gläser hinweg anzusehen. „Sie haben den armen Mann ja förmlich als Ungeheuer dargestellt.“ Er schmunzelte. „Ein Chef, wie er im Buche steht. Aber warum, frage ich mich? Wie tickt dieser Mann ganz persönlich? Und wo könnte man ansetzen, um ihn zu wertorientierter Führung zu veranlassen? Was sind Ihre Schlüsse, Frau Bach, und was ist Ihr Erkenntnisgewinn?“
Ihr Erkenntnisgewinn? Wut stieg in Tabea auf und brannte in ihrer Kehle. Oh, sie hatte in diesen vier Wochen im letzten Herbst ganz gewiss eine Erkenntnis gewonnen: dass Johannes Baumann ein Mensch war, dem sie nie wieder begegnen wollte. Dabei konnte sie sich nicht einmal erinnern, ob er mehr als ein paar Worte mit ihr gewechselt hatte. Wahrscheinlich nicht, denn er war sehr beschäftigt damit gewesen, seine Mitarbeiter in Schach zu halten – allen voran die arme Barbara, die von ihm fast im Minutentakt getriezt worden war. Babsi, wo kommt das Chaos auf meinem Schreibtisch schon wieder her? Das gehört in die Ablage! Ach, heute mal im Rollkragenpullover – wollen Sie sich für die Außendienststelle in Sibirien bewerben? Und was sollen diese Hieroglyphen in meinem Terminkalender heißen, habe ich etwa um zehn ein Treffen mit dem ägyptischen Museum?
Wie dieser Mensch ganz persönlich tickte? Nein danke, das interessierte sie nicht die Bohne.
Prof. Dr. Kohlmeis ordnete die Blätter ihrer Arbeit fein säuberlich auf dem Tisch, ehe er sie beiseite legte.
Allmählich schien er Mitleid mit ihr zu haben, denn sein Blick wurde sanfter. „Nun gut. Mein Vorschlag wäre, dass Sie einen Persönlichkeitstest durchführen, um die Verhaltensmuster dieses Herrn Baumann detaillierter zu beschreiben. Ich dachte zum Beispiel an das FPI. Sie wissen, was ich meine?“
Tatsächlich erinnerte sich Tabea an das Freiburger Persönlichkeitsinventar, von dem sie das erste Mal in einer Überblicksvorlesung zu Beginn ihres Studiums gehört hatte. Das inzwischen etwas veraltete Verfahren funktionierte mit einem Katalog aus 138 Fragen. Das waren 138 Fragen mehr, als sie Johannes Baumann jemals stellen wollte. „Vielen Dank für die Anregung, Prof. Dr. Kohlmeis. Ich bezweifle allerdings, dass Herr Baumann für ein Interview oder gar einen psychologischen Test zur Verfügung stehen wird.“
Kohlmeis streckte die offenen Handflächen von sich und zuckte mit den Schultern. „Mit Verlaub, Frau Bach, das ist Ihr Problem.“ Er zog eine Augenbraue hoch, ließ seinen Blick noch einmal an ihr hinuntergleiten und ergänzte dann: „Gehen Sie nicht so viel auf Demonstrationen und dergleichen. Setzen Sie sich lieber an Ihren Schreibtisch. Das neue Kapitel können Sie mir ja per E-Mail zukommen lassen. So, jetzt muss ich los, bevor die Mensa schließt.“
Er erhob sich schwerfällig aus seinem Stuhl, drückte kurz und kräftig ihre Hand und bedeutete ihr mit einer Geste, das Zimmer zu verlassen.
Tabea wollte erwidern, dass sie nicht auf einer Demonstration gewesen war – zumindest nicht in den letzten zwei Wochen –, aber der Professor war bereits vorausgegangen und wackelte ungeduldig mit dem Büroschlüssel, den er in seiner Rechten hielt.
So freundlich, wie es ihr Stolz zuließ, murmelte sie ein Dankeschön, nickte ihm zu und lief den schmalen Korridor entlang, ohne sich noch einmal umzudrehen. Ein psychologischer Test mit dem größten Misanthropen des Jahrhunderts: Das konnte ja nur schiefgehen.