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Sprache und Nationalität

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Inhaltsverzeichnis

Eine Heimat in der Heimat hatte das wälderliebende Volk der Sachsen im Harz. Allmählich hebt sich das romantische Gebirge aus der breit schwingenden Ebene, steigt in höheren, dunkleren Wogen, türmt sich immer mächtiger auf und taucht endlich mit seinem wilden Haupte, dem Brocken, ins Gewölk. In diese Schluchten und Waldgründe bargen sich Gnom und Elf, die ganze drollige, holde und böse Ausgeburt von Phantasie und Traum, die die Aufgeräumtheit des flachen Landes verdrängte; ihr heimliches Wesen saust und schnarrt in den biegsamen Fichten, lauscht hinter granitenen Blöcken, glüht zwischen dem rosigen Fingerhut, der die kahlen Hänge hinaufschwillt, und bläst und tollt auf dem Geisterberge, wo die Tanne zu kriechendem Kraut geworden ist und Irrsal den Eindringling umnebelt. Früh umkränzte die Vorliebe der sächsischen Kaiser den Harz mit Ansiedlungen: an seinem westlichen Rande entstand das Kloster Gandersheim, wo Hroswitha dichtete, im Norden wurde zu Otto des Großen Zeit das Silber im Rammelsberge entdeckt, im Süden lag Mathildens Witwensitz Nordhausen, im Osten das Kloster Quedlinburg, dessen Äbtissinnen die Königstöchter wurden, nicht weit davon das Kloster Gernrode und der alte Bischofssitz Halberstadt. Eine von den vielen Burgen, die die östlichen Harzberge krönten, ist der Falkenstein im Selketal, wo Eike von Repgow oder Reppichau den Sachsenspiegel geschrieben haben soll. Wenn es so ist, bewohnte er noch nicht die Burg, die heute noch wohlerhalten steht, sondern eine ältere; aber dasselbe Waldesrauschen und Bachgeriesel, dieselbe Fülle der Einsamkeit umgab ihn und erfrischte sein Herz und seinen Geist. Hat der Sachsenspiegel, in dem die Rechtsgedanken und Rechtsgebräuche der Sachsen aufgezeichnet wurden, auch nicht die unermeßliche Wirkung auf das deutsche Volk ausgeübt wie die Bibel, so mag man sich doch insofern an den Sprachgewaltigen auf der Wartburg erinnert fühlen, als der Sachsenspiegel und die wahrscheinlich von Eike verfaßte Sächsische Weltchronik die ersten in deutscher Sprache geschriebenen Prosawerke waren und somit eine wichtige Stelle in der Entwicklung derselben einnehmen. Graf Hoyer von Falkenstein, einer von den sogenannten Harzgrafen, unter denen viele tüchtige und gebildete Männer waren, überredete Eike von Repgow, der den Sachsenspiegel lateinisch geschrieben hatte, ihn ins Deutsche zu übertragen; er zögerte, es zu tun, weil es ihm, wie er selbst sagte, zu schwer vorkam. Da die Gerichtsverhandlungen, die Eike als Schöppe mitmachte, aus denen seine Erfahrung stammte, jedenfalls in deutscher Sprache abgehalten wurden, sollte man meinen, es wäre schwerer gewesen, die Rechtsverhältnisse in lateinischer als in deutscher Sprache wiederzugeben, wie ja auch die alten Rechtsbücher in der Landessprache abgefaßt waren. Wie dem auch sei, der Gedanke, sich mit einer belehrenden Schrift an die deutschsprechenden Laien zu wenden, war ungewöhnlich, weil das Lesen und Schreiben eine in der Regel nur von Geistlichen geübte Kunst war.

Es ist selbstverständlich, daß die deutsche Sprache mündlich immer in Gebrauch war: es wurde den Laien deutsch gepredigt, deutsch wurde gesungen und gesagt, jedes öffentliche Ereignis spiegelte sich in Liedern, die von Mund zu Mund gingen. In der zweiten Hälfte des zwölften Jahrhunderts begann Deutschland nicht nur von volkstümlichen Gedichten, sondern auch von einer Kunstpoesie zu erklingen, die in einer gebildeten Gesellschaft entstand und mit lebhafter Teilnahme aufgenommen wurde. Damals wurde auch was sich im Gedächtnis des Volkes an alten Götterkämpfen und an Vorgängen aus der völkerverschlingenden Zeit der Wanderungen erhalten hatte in den beiden großen Heldengedichten von den Nibelungen und von Gudrun zusammengefaßt. Die Fähigkeit der Deutschen, den Samen des Schönen von überallher aufzufangen und in sich auszubreiten, zeitigte erlesene Früchte; aber in so unvergänglicher Gestalt ist das fremde Sagengut nicht geprägt wie der Nachklang des Erlebens verherrlichter Ahnen. Mit dem Schauplatz dieses heroischen Daseins, den nordischen Meeresinseln, dem traubenbekränzten Rhein, der gefährlichen Donau, schlingt die Dichtung um das Reich eine silberne Grenze, nach Osten die Bahn in unendliche Weiten öffnend.

Schien es ein Wagnis, ein Buch wissenschaftlichen Charakters in deutscher Sprache herauszugeben, so bewies der Erfolg, daß es ein zeitgemäßes war; es erlangte schnell eine verhältnismäßig große Verbreitung. Man nimmt an, daß der Sachsenspiegel um 1255 entstanden ist. Im selben Jahre wurde zum erstenmal ein Reichsgesetz in deutscher Sprache niedergeschrieben: ein allgemeiner, von Friedrich II. verkündeter Landfrieden, der in Mainz beschworen wurde. Im Jahre 1258 oder 1259 wurde die Urkunde über eine Teilung zwischen zwei habsburgischen Brüdern in deutscher Sprache abgefaßt. Eine Chronik aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts berichtet, König Rudolf habe im Jahre 1285 auf Verlangen der Fürsten angeordnet, daß die Urkunden auf deutsch verfaßt werden dürften, weil die deutsche Zunge genug Worte habe, um allerlei Händel darin zu begreifen; wo sie Mangel gehabt hätte, sei sie aus anderen Sprachen erfüllt und gebessert. Ein merkwürdiges Zeugnis der Selbstbesinnung der Deutschen ist es, daß nun auch öffentlich, amtlich in der Sprache gesprochen wurde, die bisher nur im Hause, in der Familie, im Freundeskreise erklang, und daß der Laie deutsche Bücher lesen und schreiben konnte. Unendlich viel lebensvoller spiegeln sich Zeit und Menschen in den deutschen Chroniken des 14. Jahrhunderts als in den lateinischen Annalen früherer Zeit. Es ist als fiele eine glatte Maske von beweglichen Zügen. Bedenkt man, wie wesensverschieden einem etwa Friedrich der Große erscheint, je nachdem man ihm in französischer oder deutscher Sprache sich ausdrückend begegnet, so ermißt man, wieviel vollständiger man alles Geschehen erfassen kann, seit uns deutsche Sprache die Kunde davon vermittelt. Geist, Sprache und Persönlichkeit sind nicht zu trennen.

Auch das trägt dazu bei, uns den deutschen Menschen seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts näherzubringen, daß hin und wieder porträtähnliche Bildnisse erscheinen. Das Bedürfnis nach Ähnlichkeit bei der Wiedergabe von Personen bestand nicht immer. Noch in der Schedelschen Chronik, die am Ende des 15. Jahrhunderts geschrieben wurde, stellt ein und derselbe Kopf bald Pythagoras, bald Huß, bald Totila, bald Kaiser Lothar vor, ein und dasselbe Stadtbild bald Lübeck, bald Bologna, bald Mazedonien. Es wird uns schwer, zu begreifen, wozu diese Bilder dienten, die in gar keiner Beziehung zum Darzustellenden standen und eigentlich nur Schnörkel waren, die das Blatt ansehnlicher machten. Vielleicht ist daraus eher auf regere Phantasie als auf geringer entwickelte Individualität der damaligen Menschen zu schließen. Die Lebhaftigkeit der mündlichen Überlieferung und die ungemeine Stärke des Gedächtnisses mögen auch das Ungenügende schriftlicher, graphischer und plastischer Schilderung ergänzt haben. Unter den Kaisern ist Rudolf von Habsburg der erste, von dem wir ein ähnliches Bild haben; er ließ sich für sein Grabdenkmal modellieren. Wenn erzählt wird, daß der Künstler, als er von einer neuerdings entstandenen Falte in Rudolfs Gesicht hörte, zu ihm reiste, um sie richtig nachzubilden, so sieht man, wie bemerkenswert das Streben nach Ähnlichkeit gefunden wurde. Das Ergebnis entsprach der Bemühung: unvergeßlich prägt sich das lange, ernste, sorgenvolle und höchst würdevolle Kaisergesicht ein.

Vieles kommt zusammen, um die Zeit nach dem Sturze der Hohenstaufen von der vorhergegangenen zu unterscheiden. Ein anderer Geist durchweht sie, eine andere Weltanschauung bereitet sich vor. Das Weltreich, das Kaiser und Papst als Stellvertreter Gottes regierten, bricht langsam auseinander. Es gibt noch einen Papst und einen Kaiser und eine Geistlichkeit, die den ersten Stand bildet, aber man glaubt nicht mehr unbedingt an sie. Das Volk selbst, und das ist vielleicht das Entscheidende, ist, in seiner Zusammensetzung anders geworden; der Uradel beginnt auszusterben.

Immer gab es noch alte Geschlechter, führten doch zum Beispiel die Habsburger ihren Ursprung auf das 10. Jahrhundert zurück; aber die Zahl der erloschenen war ungleich größer, und groß war die Zahl derer, die aus unfreien Schichten aufsteigend sich mit den Freien und mit dem Adel vermischten. Einmal war es der Herrendienst, der den Unterschied von frei und unfrei durch das von höfisch und bäuerisch ersetzte, sodann die beginnende Geldwirtschaft, die den von arm und reich verschärfte. Dadurch, daß der Grundbesitz beweglich wurde, gelang es vermögenden Handwerkern, eigene Häuser und damit die Grundlage der Freiheit zu erwerben. Die Stimme und der Wille des niederen Volkes wurde vernehmlicher, was nicht bedeutete, daß das Volk gleichartiger geworden sei. Die Scheidung in herrschende Klasse und arme Leute, in Adel und Volk, Reiche und Arme dauerte fort, nur daß sich die Oberen durch die Unteren ergänzten. Schroffer als je standen sich die Glieder der Nation gegenüber, wenn auch die stolze adlige Schicht, deren Schwanengesang in der reichen Literatur um 1200 sich ausgeströmt hatte, verschwand, schroffer, seit die Beherrschten selbstbewußter und anspruchsvoller wurden.

Man sollte meinen, da der erweiterte Gebrauch der Volkssprache gewiß ein wachsendes Bewußtwerden des Gesamtvolkes anzeigt, es müsse gleichzeitig ein Zunehmen des nationalen Bewußtseins zu bemerken sein. Im allgemeinen herrschte es mehr bei den niederen Klassen, was schon mit der mangelnden Sprachenkenntnis und mit der Verbundenheit mit dem heimischen Grund und Boden, dem heimischen Gewerbe zusammenhing. Doch kann man mehr von Anhänglichkeit an die Scholle und an die Stadt, der man angehörte, als von Nationalgefühl sprechen. Der hohe und niedere Adel, dessen Beruf der Krieg war, sah in den Gegnern zugleich Angehörige derselben Gesellschaft mit denselben Begriffen von Ehre, die dem Standesgenossen rücksichtsvolle Behandlung sicherten, wenn sie ihn nicht umgebracht hatten. Selbst die sarazenischen Feinde gewöhnte man sich mehr nach ritterlichem als nach christlichem Maßstabe zu messen. Ebenso wünschte der reisegewohnte Kaufmann, der die Städte beherrschte, auf friedlichem Fuße mit den fremden Nationen zu verkehren, die ihm wegen der Handelsbeziehungen oft lieber waren als ein landmännischer Nachbar, der ihn vielleicht mit Fehde belästigte. Wie einst bayrische Herzöge, um ihre Unabhängigkeit zu retten, die Avaren ins Land riefen, so scheute sich zur Zeit Ludwigs des Bayern Herzog Leopold von Österreich, der Bruder Friedrichs des Schönen, nicht, die deutsche Königskrone dem König von Frankreich anzubieten. Einige Herren trafen sich auf einem Boot im Rheine, wo sie sicher vor Lauschern waren, um die verräterische Wahl zu bereden; der Komthur Berthold von Buchegg war es, der durch seinen Widerstand die Schmach verhinderte. Nach Ludwigs Tode boten Karls Gegner die Krone dem König von England an. Auf der anderen Seite konnte es geschehen, daß Karl IV. im Jahre 1364 die Reichssteuer, die Lübeck ihm zu bieten hatte, an den König von Dänemark übertrug, mit dem die Hanse, also auch Lübeck, sich im Kriege befand. Der Lübecker Rat stellte dem Kaiser vor, daß er ihnen nicht zumuten könne, ihren Feind zu stärken. Indessen wäre es falsch, aus solchen Verwicklungen zu schließen, die Deutschen hätten sich nicht als Deutsche gefühlt; namentlich ließ das seit dem 14. Jahrhundert stark sich aufdrängende Nationalbewußtsein Frankreichs zuweilen das ihrige aufflammen, oder die Anmaßungen der Päpste reizten den Stolz. Ein junger Herzog von Geldern, dessen Tapferkeit die deutsche Grenze vor einem französischen Einfall schützte, hielt eine Ansprache an den König von Frankreich in deutscher Sprache, um öffentlich darzutun, wohin er gehöre. Auch von Friedrich Barbarossa wurde gesagt, er könne wohl Lateinisch, spreche aber deutsch, um die deutsche Sprache zu ehren. Wenn bemerkt wurde, daß die Deutschen sich den Tod Konradins nicht zu Herzen nähmen, so spricht dagegen, daß man im Volk glaubte, die Königin Anna sei aus Gram darüber gestorben, daß sie ihre Tochter dem Enkel Karls von Anjou zur Frau geben mußte. Gemeinsames kriegerisches Eintreten für die nationale Ehre war allerdings schwer zu erreichen, teils weil die Menge der Einzelteile, in die das Reich zerfiel, und die Schwäche der Zentralgewalt überhaupt gemeinsames Handeln erschwerten, teils weil das Reichsgefühl, das der Gang der Geschichte in Deutschland entwickelt hatte, weniger empfindlich war als das Nationalbewußtsein anderer Staaten, besonders Frankreichs. Die Franzosen betrachteten sich als Nachfolger Karls des Großen, erhoben deshalb Anspruch auf das Kaisertum und standen neben Deutschland mit wachsamer Eifersucht und Angriffslust, mit scharfer Betonung ihrer Nationalität; die Deutschen waren es gewöhnt, daß sie fließende Grenzen hatten, daß fremdsprachige Gebiete zu ihnen gehörten, daß es Länder gab, die bald Reichsglieder, bald Reichsfeinde waren. Die Tatsache allein, daß der König von Böhmen als Kurfürst des Reiches das Recht hatte, den deutschen König zu wählen, setzt eine eigentümliche Entwicklung des nationalen Bewußtseins voraus. Das Reichsgefühl, das auf Grund dieser Verhältnisse entstand, ist wesentlich vom Weltbürgertum verschieden; denn das Reich, wenn auch fließend in seinen Grenzen und der Idee nach die Welt umfassend, hatte doch einen festen Kern, in dem eine bestimmte Sprache, bestimmte Sitten, ein bestimmter Glaube vorherrschten. Von diesem Kern aus allerdings war ein beständiges Ausströmen ins Fremde und Einströmen des Fremden zu ihm. Er hätte nicht das Herz des Abendlandes sein können, wenn er geschlossener gewesen wäre. Etwas Monströses war unzweifelhaft in dieser Verfassung, in diesem Gebilde, dem Fabelgebäude gleich, das nicht Kitt und Meißel, sondern der Gesang des Orpheus aufeinandertürmte; allein seine Lockerheit und Verschiebbarkeit machten es geeignet, die Staaten des Abendlandes zu einem Ganzen zu verbinden, ohne an ihre Beherrschung denken zu können. Die Gefahr für die fließenden Maße des Reiches war, daß es den Punkt überschritt, wo es selbst noch ein Ganzes, ein Reich, nicht nur eine Anzahl lose zusammenhängender Glieder sein konnte.

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