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Wissenschaft

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»Es ist nicht wahr, was der heilige Hieronymus sagt: ohne Christo sei jede Tugend ein Laster, und was Augustinus sagt: daß die Tugenden, insofern sie nicht auf Gott bezogen würden, keine Tugenden seien.« Etwa ein Jahrhundert nach Luther stellte Joachim Jungius in einer Disputation diese Sätze auf. Für die Tugenden und Laster wurde damit ein von der Religion unabhängiges Gebiet abgesteckt und der Philosophie, im besonderen der Sittlichkeitslehre oder Ethik, zugewiesen.

Man kann auch den Satz aufstellen: die Wissenschaft muß nicht notwendig zum Glauben in Widerspruch stehen. Tatsächlich bestand damals doch ein Gegensatz, teils wegen der Besonderheit des Offenbarungsglaubens, welcher eine andere Quelle für die Wahrheit nicht anerkennt und diese sogar für die gültigere hält als die menschliche Vernunft und menschliche Sinneswahrnehmungen, teils aber auch, weil das stete Untersuchen und Durchdenken der Außenwelt und der Glaube an seine Ergebnisse das Organ für das Übersinnliche, ja sogar das Organ für die unmittelbare Anschauung abstumpft, und schließlich weil sich ausgeprägter Sinn für das Übersinnliche selten zusammen mit ausgeprägtem Sinn für das Beweisbare in einem und demselben Menschen findet.

Ein gewisser Gegensatz zwischen wissenschaftlichem Denken und Glauben hatte sich schon in den Anfängen des Protestantismus bemerkbar gemacht. Luther selbst nannte zwar die Vernunft eine Hure und lehnte im Abendmahlsstreit Eingriffe des zweifelnden Verstandes in das Wort des Herrn mit Entschiedenheit ab; aber Zwingli und andere Reformatoren suchten das dem Verstande Unfaßliche als Symbol für etwas Faßliches zu begreifen, also das religiöse Geheimnis auf die Ebene des verstandesmäßig und sinnlich Erlebbaren zu verlegen, wie ja auch Luther selbst seinem eigenen Geständnis nach zuweilen vom Göttlichen wie der Schuster von seinem Leder sprach. Das Überirdische dem Begreifen näherzubringen war nun einmal eine Forderung der Zeit. In dem berüchtigten Siebengespräch über die verborgenen Geheimnisse erhabener Dinge des französischen Gelehrten Jean Bodin wird dem Ungläubigen die Äußerung in den Mund gelegt, das sichere Kriterium für Wahr und Falsch sei die Absurdität, und absurd sei der Satz Deus factus est homo. Die sich hier aussprechende Beschränktheit platten Verstandes, der die tiefsten Probleme übersieht, maßte sich gern die Autorität wissenschaftlichen Denkens an und war gleich bereit, Bibelworte, in die der Suchende letzte Geheimnisse kleidet, als Trug oder Torheit beiseite zu werfen. Die genialen Vertreter der Wissenschaft im 16. und 17. Jahrhundert gerieten nicht auf diesen Irrweg. Nikolaus Kopernikus, der den ersten großen Zusammenstoß zwischen Wissenschaft und Kirchen glauben hervorrief, Domherr in Frauenburg, war ein gläubiger Mann, der der alten Kirche treu blieb, ohne, wie man aus dem Verhalten seines Freundes Giese schließen darf, dem Protestantismus feindlich oder gar verständnislos gegenüberzustehen. Die Zeitdauer seines Lebens läuft merkwürdigerweise so ziemlich neben der Luthers her: er ist zehn Jahre vor ihm geboren und drei Jahre vor ihm gestorben. Er war 20 Jahre alt, als der erste Brief des Columbus nach seiner Rückkehr im Druck erschien. Kopernikus, der in Bologna und Padova studierte, wurde vermutlich in Italien bekannt mit Zweifeln am ptolemäischen Weltsystem, die seit der Renaissance unter den Gelehrten umgingen. Die Grundzüge seines Systems entwickelte er schon früh und veröffentlichte sie im Jahre 1531 in einem vorläufigen Werk, nämlich daß es für alle Himmelskörper und ihre Bewohner nur einen Mittelpunkt gibt; daß der Mittelpunkt der Erde nicht der Mittelpunkt der Welt, nur der Schwerpunkt für alle Dinge auf der Erde ist; daß alle Planeten die Sonne umkreisen, die in den Mittelpunkt des Weltalls zu setzen ist, und daß, was man von Bewegungen am Himmel sieht, nicht von der Bewegung des Himmels kommt, sondern eine Folge der Bewegung der Erde ist. Diese umwälzenden Sätze erregten zunächst mehr Widerspruch bei den Protestanten als bei den Katholiken. Während Clemens VII. einige Freunde, darunter Kardinäle, in die vatikanischen Gärten einlud, um einen Vortrag über das kopernikanische System anzuhören, wagten die Wittenberger Professoren Rheticus aus Feldkirch und Reinhold aus Saalfeld ihre Begeisterung für Kopernikus aus Rücksicht auf ihre großen Kollegen Luther und Melanchthon nicht zu äußern, die Gegner des neuen Systems waren. Rheticus begab sich nach Frauenburg, um den großen Astronomen persönlich kennenzulernen, und lebte mehrere Jahre in seiner Umgebung. Als er in der Narratio prima ausführliche Mitteilungen über die Kopernikanischen Sätze machte, fürchtete er Angriffe weniger von Seiten der Kirche als von Seiten der Anhänger des ptolemäischen Systems, das so lange in Geltung gewesen und durch die Zustimmung des Aristoteles geheiligt war. Gerade damals aber trat, durch die Anklagen der Protestanten hervorgerufen, jene Wendung zu dogmatischer Starrheit und Ausschließlichkeit ein, der eine Reihe italienischer Denker zum Opfer fielen. Immerhin wagte es Kopernikus, sein Hauptwerk De revolutionibus orbium celestium libri VI ein Jahr nach der Einführung der Inquisition erscheinen zu lassen. Rheticus brachte das Manuskript persönlich nach Nürnberg, wo Petrejus es druckte. Im selben Jahre, 1543, wurde dem sterbenden Verfasser, einige Stunden vor seinem Tode, ein Exemplar seines Werkes überreicht. Ein Zeitgenosse verglich ihn dem Schwan, der sein Leben mit herrlichem Gesang beschließt. Dreizehn Päpste ließen das Werk unbeanstandet, bevor es auf die Liste der verbotenen Bücher gesetzt wurde. Die Aussprüche der Bibel, denen das neue System zu widersprechen scheint, kommen im 104. Psalm und im ersten Kapitel des Prediger Salomo vor. Der erste ist: Qui fundasti terram super stabilitatem suam, non movebitur in aeternum et semper. Der du das Erdreich gegründet hast auf seinen Boden, daß es bleibt immer und ewiglich. Und: Terra in aeternum stat. Oritur sol et occidit, et ad locum suam revertitur. Die Erde bleibet aber ewiglich. Die Sonne gehet auf und gehet unter und läuft an ihren Ort, daß sie wieder daselbst aufgehe.

Kepler, der des Kopernikus Lehre durch die von ihm gefundenen Sätze erst recht ausbildete und befestigte, traf mit genialem Blick das Wesentliche, indem er sagte, die Erde sei und bleibe der vornehmste Himmelskörper, weil sie das edelste Geschöpf Gottes, den Menschen, den er zu seinem Ebenbilde bestimmt habe, trage und nähre. In der Tat ist ja die Erde, welche Stellung ihr auch die Astronomie anweisen möge, Mittelpunkt des Weltalls, solange sie den Menschen trägt, der die Himmelskörper anschaut und das Weltall denkt. Kepler hatte in seiner Astronomie einen Abschnitt dem Beweise gewidmet, daß das kopernikanische System der Heiligen Schrift nicht entgegenstehe; aber er ließ es beim Druck fort, weil andere meinten, der Streit werde dadurch nur vermehrt werden. Zwar wurde Keplers Epitome Astronomiae Copernicanae im Jahre 1619 für Italien verboten; aber persönlich erfuhr er mehr Übelwollen von seinen Glaubensgenossen als von den Katholiken. Auch als alle protestantischen Angestellten aus den österreichischen Ländern ausgewiesen wurden, nahm man Kepler als im Dienst des Kaisers stehend aus. Der unglückliche, gemütskranke Kaiser Rudolf, der die astronomischen Forschungen begünstigte, wollte ihn in seiner Nähe behalten. Bei den Jesuiten, die sich viel mit Astronomie abgaben, fand er Freundschaft und Verständnis; schon begann die Wissenschaft eine neue Einheit über den Nationen und Bekenntnissen zu schaffen, nachdem das einigende Band des Glaubens zerrissen war. Auf protestantischer Seite, wo die Bibel an die Stelle von Papst und Konzil getreten war, den Punkt Unfehlbarkeit darstellte, nach dem die Mehrzahl der Menschen Verlangen trägt, war der Widerstand gegen alles, was der Bibel zu widersprechen schien, zunächst stärker als bei den Katholiken. Allmählich indessen kam diejenige Ansicht zur Geltung, die auch Kepler vorgebracht hatte, daß die Bibel als Quelle des Glaubens von Gott eingegeben sei, nicht aber in bezug auf irdische Dinge. Er wies auf die Regel hin, die Augustinus der christlichen Philosophie vorgeschrieben habe: »Was jene über die Natur der Dinge an wahrhaftigen Zeugnissen mit Gründen nachweisen können, davon wollen wir zeigen, daß es unseren heiligen Schriften nicht widerspreche.« Kepler war überzeugt, daß ein Widerspruch in der Tat nicht stattfinden könne, wenn man beide recht verstehe, da Gott sich sowohl in der Heiligen Schrift wie in der Natur und ganz besonders im Sternenhimmel offenbart habe.

Kepler, der größte Vertreter der deutschen Wissenschaft im 17. Jahrhundert, ist noch ganz gespeist von der Atmosphäre des späten Mittelalters, das von der Antike unter Verdrängung des Aristoteles den phantasievolleren Plato in sich aufgenommen hatte. Wie Kopernikus von dem Ausspruch des Plato ausgegangen sein soll, die Astronomie sei unter der unmittelbaren Mitwirkung Gottes entstanden, so wirkte auf Kepler das platonische Wort, Gott offenbare sich in der Geometrie, ja Gott sei Geometrie. Er ging von Gott aus, und das heißt in bezug auf die Wissenschaft vom Ganzen. Er faßte Gott als den persönlichen Schöpfer der Welt und ging ihm nach als dem Schöpfer der Welt im Raume und in der Zeit, dessen Wesen Harmonie ist. Sie offenbart sich nach seiner Auffassung unmittelbar in der Musik und mittelbar durch die räumliche Form in der Geometrie. Die Offenbarung Gottes in der Menschheit, deren Harmonie infolge des Engelsturzes und der Schuld der ersten Menschen zu einer von Dissonanzen zerrissenen Tragödie wurde, in deren Mitte Kepler lebte, kämpfte und litt, wußte er durch große Propheten und Lehrer verkündet und untersucht; aber er war sehr bewußt, der erste zu sein, der Wesen und Gesetze der räumlich-zeitlichen Gott-Schöpfung nachwies. Es waren nicht Gesetze mechanischer, kausaler Art, wie die Naturwissenschaft sie später suchte und aufstellte; es war eine Untersuchung göttlicher Gegebenheiten und lebendiger, beseelter Wesen, als welche er die Himmelskörper betrachtete. Er ging aus von einem harmonisch geordneten Kosmos, der über geometrischen Formen aufgebaut, infolge der Übereinstimmung anzuschauender und hörbarer göttlicher Urverhältnisse für ein göttliches Ohr als wohllautender Akkord, als ewige Symphonie vernehmbar sein müßte. In diese grandiose Vision baute Kepler seine exakten astronomischen Gesetze ein, die Frucht langjähriger Beobachtungen. Die Überzeugung, von Gott eines tiefen Einblicks in seine Schöpfung gewürdigt zu sein, erfüllte ihn mit einer Art von Trunkenheit, wie man sie bei Dichtern und Künstlern findet. Kopernikus führte Apollo mit der Leier im Siegel. Dichterische Trunkenheit bewegte auch Giordano Bruno, der von Deutschen beeinflußt war, besonders von Cusa und von Kopernikus; Kopernikus pochte, wie er selbst in einem Gedicht sagt, mächtig an seine jugendliche Seele. Die Idee des Cusaners, den Bruno göttlich nennt, von der Wechselbeziehung aller Dinge untereinander und zum Ganzen, die der Einzelne fühlt und erkennt, da er ein Einzelner ist und doch zugleich in ihm das Ganze sich spiegelt, und das Begreifen der Einheit, die das Vielfache und Entgegengesetzte zusammenhält, als Gottheit, wirkte stark auf das 16. und 17. Jahrhundert. Die Verbundenheit des Einzelnen mit dem All durch den Dämon Liebe eröffnete dem Glauben, der Magie, der Poesie einen unendlichen Ausblick und schien die Dogmatik der Kirche entbehrlich zu machen. Man glaubte hier eine Religion gefunden zu haben, in der sich alle Völker vereinigen würden. Die Lehre Brunos, an der die Kirche besonderen Anstoß nahm, betraf die Unendlichkeit der Welt; das All, so folgerte er, müsse als Wirkung einer unendlichen Ursache, nämlich Gottes, selbst unendlich sein. Die Kirche, immer besorgt vor Pantheismus, fürchtete, daß dadurch der Unterschied zwischen dem Schöpfer und dem Erschaffenen verwischt werde. Kepler lagen solche Gedankengänge fern: er stand fest auf dem Boden des evangelischen Glaubens, wenn auch ohne die Engherzigkeit vieler seiner Glaubensgenossen. Überhaupt unterschied sich Kepler von den italienischen Naturphilosophen, die sich gern in Allgemeinheiten bewegten, durch den Fleiß und die Genauigkeit seiner wissenschaftlichen Untersuchungen, wie er sich von Galilei durch die Glut seines Glaubens, das Umfassende seines Geistes, das Grandiose seiner Weltbetrachtung unterschied. Durch die Verwirrung und Wildheit des Dreißigjährigen Krieges, durch die Bösartigkeit und Kleinlichkeit theologischer Zänkereien ging der Träumer erhabener Gesichte, der unermüdliche Forscher, der warmherzige Mensch schlicht und unerschütterlich. Seine Äußerungen und sein Verhalten zeugen immer von gelassener Überlegenheit. Als Denker unmittelbarer Gottesnähe sich bewußt, von Sternen musikberauscht, in menschlichen Beziehungen sein Recht behauptend, trug er doch so wenig auf, lebte er so unpathetisch, daß sein Tod vom deutschen Volke kaum bemerkt wurde. Er starb im Jahre 1650 in Regensburg, während eines Reichstages; sein Grab wurde bei der späteren Belagerung verschüttet. Es war, als sollte er seiner Ruhestätte auf Erden beraubt sein, um unter die Sterne versetzt zu werden, deren klangvolle Bahnen er aufzeichnete. Die Reihe der Naturphilosophen, in denen Mittelalter und Antike sich befruchteten, beschloß der einsame Spinoza, der die Einbeziehung der Natur in Gott, die All-Einslehre, in ein logisch aufgebautes System brachte. In die strenge Geistigkeit des Gottesglaubens, wie die Kirche ihn ausgebildet hatte, schien damit sinnlicher Schmelz und umfassende Freiheit einzuströmen, wodurch diese Philosophie ein Jahrhundert später so großen Einfluß ausgeübt hat. Zum erstenmal wurde der von der Kirche so gefürchtete Pantheismus offenkundig in das Geistesleben eingeführt. Spinoza wurde als Atheist verdächtigt und verdammt, aber seinem eigenen Bewußtsein nach mit Unrecht. Wenn er sich auch nicht zu dem Gott der Bibel bekannte, so war er doch erfüllt von jüdischer und christlicher Religiosität und setzte die Gottesliebe als Kern und Ausgangspunkt seiner Ethik. Er wollte nicht die Religion zerstören, als vielmehr die Gottesidee für die Menschheit bewahren, indem er sie auf menschliche Denkgesetze begründete.

Eine ganz andere wissenschaftliche Haltung hatte Joachim Jungius, den man den deutschen Baco genannt hat. Er ist 1587 in Lübeck geboren, das damals, obwohl im Niedergang begriffen, mit 200 000 Einwohnern noch eine bedeutende Stadt war. Sein Vater war Lehrer an dem von Bugenhagen gegründeten Gymnasium. Jungius teilte die Neigung seiner Zeit und seines Volkes für die Mathematik. Die Deutschen waren berühmt wegen ihrer Leistungen in diesem Fache. Im 15. Jahrhundert waren Peurbach und Regiomontanus führend gewesen, Mästlin, der Lehrer Keplers, soll durch seine in Italien gehaltenen Vorträge Galilei beeinflußt haben. Man könnte sich denken, daß die ausgesprochene Neigung und Anlage der Deutschen für Mathematik mit ihrer musikalischen Begabung zusammenhänge, aber auch, daß in einer Epoche, wo sie an der Unfehlbarkeit ihrer Glaubenslehren irre wurden, die Mathematik ihrem unsicher gewordenen Geiste einen neuen Halt bot. Die Mathematik hat das mit der Religion gemeinsam, daß sie ihre Sätze aus etwas im Geiste Gegebenem ableitet. Seit dem 15. Jahrhundert bemühten sich die Denker, die Mathematik auf die Philosophie und Religion zu übertragen; Nicolaus von Cusa ging damit voran. Auch Jungius war Mathematiker, er verspottete die Scholastiker, die ohne Mathematik arbeiten, die vornehm und verdrießlich auf so kleinliche Dinge wie Punkte, Linien und Winkel herabsehen, während ihr Verstand von so erhabenen Dingen wie quinta coeli essentia oder intelligentiae orbis motrices voll sei. Wenn aber Jungius die Mathematik rühmte, weil man durch sie sich dem Geiste Gottes nähern könne, indem sie das Werk Gottes, das Weltall, begreifen lehre, so war das mehr eine zeitgemäße Wendung, die mit unterlief; es kam ihm nicht darauf an, wie Kepler, den göttlichen Schöpfungsplan mitzudenken, sondern das dem Menschen unmittelbar Zugängliche, die einzelnen Erscheinungen der Sinnenwelt in ihrem Wesen zu erkennen. Er war bewußt nüchtern, die Rhetorik der Renaissance lehnte er ab. Per inductionem et experimentum omnia war sein Wahlspruch. Er war sich klar darüber, daß nur die mühsame Kleinarbeit vieler zum Ziele führen werde. Aus diesem Grunde förderte er die Gründung wissenschaftlicher Gesellschaften, deren erste sich in Italien gebildet hatte. Das Werk von Kopernikus und von Kepler beruhte zum großen Teil auf Intuition, Kepler arbeitete oft mit dem, was Novalis den Zauberstab der Analogie genannt hat; Jungius fehlte die genial-künstlerische Begabung, aber für das, was er wollte, Erkenntnis durch Wissenschaft, bedurfte er ihrer nicht. Dennoch war auch er beseelt von der Konquistadorenlust des nachmittelalterlichen Menschen, der den Ozean der Welt ohne sichtbare Grenzen vor sich sieht und die Anker zur Fahrt lichtet. Hatte man bisher die Erde als eine Haltestelle auf der Reise zum Himmel betrachtet, auf den man sich gründlich vorbereitete, während man von jener nichts zu wissen brauchte, wurde nun die Erde zur Heimat, und mit allen Sinnen grub man sich in sie hinein, um sie kennenzulernen und zu benützen.

Ein Holsteiner, Wolfgang Ratichius, eigentlich Ratke, wollte damals durch eine neue Methode des Unterrichts, hauptsächlich in den Sprachen, aber auch in anderen Fächern, eine Umwälzung des gesamten geistigen und sittlichen Lebens herbeiführen. Jungius interessierte sich so lebhaft für die Pläne dieses Mannes, daß er mehrere Jahre dem Studium derselben widmete. Es sei nicht genug, sagte er in einem Gutachten darüber, nach bloßem Gutdünken zu unterrichten und mit der angeborenen Diskretion und Gescheitheit, sondern es gehöre dazu eine besondere Kunst, die Lehrkunst, welche beständige Gründe und gewisse Regeln habe, die sowohl aus der Natur des Verstandes, der Sinne, ja des ganzen Menschen, als auch aus der Eigenschaft der Sprachen, Kunst und Wissenschaften zu erweisen seien. Er sah eine Wissenschaft der Ethik, eine Wissenschaft der Pädagogik entstehen; man sollte nicht mehr dem Gefühl und auch nicht der Erfahrung folgen, sondern Gesetzen, die sich aus dem Wesen der Vernunft und des zu behandelnden Gegenstandes ergäben, man sollte sich auch nicht durch altverehrte Autoritäten blenden lassen. Paracelsus wählte sich den stolzen Leitspruch: alterius non sit, qui suus esse potest und bahnte der Arzneikunst neue Wege, ebenso Vesalius, der Leibarzt Karls V., durch die Untersuchung menschlicher Leichname. Alle diese Gelehrten knüpften überschwengliche Erwartungen an die neuen Bahnen, die sie einschlugen. Die bedeutenden Menschen des Reformationszeitalters und der Zeit des Dreißigjährigen Krieges waren sich bewußt, den Zusammenbruch einer Welt zu erleben, über deren Trümmern eine neue erwachsen müsse. Diese Welt, die der freie menschliche Geist bewußt errichtete, mußte tadellos, sie mußte mindestens vernünftig werden, da ja die menschliche Vernunft gereift war, nicht mehr gegängelt zu werden brauchte, sondern ihre göttlichen Schwingen entfalten konnte.

Im Jahre 1628 wurde Jungius nach Hamburg berufen, der Stadt, die, vom Elend des furchtbarsten Krieges unberührt, gerade jetzt sich zum Welthandelsplatz zu entwickeln begann. Diese Meerstädte und ihre klugen, wagenden Kaufmannsgeschlechter, die gewohnt waren, die Güter der Erde zu tauschen und, wenn nötig, mit dem Schwert zu schützen, gute Rechner und gute Kämpfer, bildeten den geeigneten Hintergrund für die entschlossenen Denker. Hier herrschte Verkehr mit Holland und England, wo das wissenschaftliche Leben sich ungehinderter entfaltete als in Deutschland; die 1660 in London gegründete Sozietät der Wissenschaften erbot sich, die Kosten zur Veröffentlichung sämtlicher Werke des Jungius zu tragen.

Wie man nicht sagen kann, daß der Protestantismus im Gegensatz zum Katholizismus die Toleranz gefördert habe, so kann man auch das Erwachen des wissenschaftlichen Geistes nicht der einen oder anderen Konfession besonders zuschreiben. Paris zählte im Anfang des 17. Jahrhunderts 50 000 Atheisten, und verhältnismäßig ebenso viele gab es in Holland. Im katholischen Frankreich und im calvinistischen Holland verbreitete sich zuerst eine von der Religion unabhängige, auf Philosophie und Wissenschaft gegründete Bildung. Andererseits herrschte an den lutherischen und an den jesuitischen Universitäten dieselbe starre Beschränkung. Zwar hatte sich in die protestantische Theologie von Anfang an eine Art wissenschaftlicher Geist eingedrängt. Indem man die Bibel, die Quelle des Glaubens, als Historie betrachtete, wurde auch an die Bibel Kritik angelegt und konnte das Leben Christi selbst untersucht und in Zweifel gezogen werden. Die grundlegenden Dogmen wurden umstritten und zergliedert, als ob es sich um Pendelbewegung oder Kristallbildung gehandelt hätte. Aber dieser scholastische Geist verdarb mehr die Religion, als daß er der Wissenschaft genügt hätte. Soweit sich eine geistige Bewegung überhaupt abgrenzen läßt, war die Wissenschaft ein Fortwirken des Wiederaufblühens der Antike, verbunden mit der Verweltlichung des 15. Jahrhunderts, die durch Luther noch einmal zurückgedrängt waren. Nach dem allmählichen Erlöschen der späten Glaubensglut regten sich die neuen Mächte mit verdoppelter Kraft.

Die Wissenschaft wirkte entgöttlichend, insofern sie, wenigstens auf ihrem Gebiet, von einem persönlichen Gott absah, und mechanisierend, indem sie die mit Notwendigkeit wirkenden Gesetze, die sie in der Natur suchte, auch im menschlichen Geiste finden wollte; aber sie wirkte auch befreiend. In die entschleierte Welt, die unbekannt und unermeßlich vor ihm lag, wagte sich der wissenschaftliche Mensch, ausgerüstet mit seinen gesunden Sinnen, seiner Vernunft und seiner Wahrheitsliebe. Er verachtete nicht grundsätzlich, was andere vor ihm gedacht hatten; aber es hemmte ihn auch nicht. Alterius non sit, qui suus esse potest. Er hatte kein anderes Ziel als das, was er mit seiner Ausrüstung erforschen würde; er war stark genug, um sich nicht selbst zu belügen, wenn das Ergebnis seiner Studien etwaige frühere Wissensschätze entwertete oder ihm teure Vorstellungen zerstörte. Er traute sich zu, die Welt umzugestalten, und tat es. Schon im Beginn des 18. Jahrhunderts hatte die Wissenschaft die Religion aus ihrer herrschenden Stellung verdrängt, nicht nur an den Universitäten, wo die Philosophie den Platz der Theologie einnahm, sondern auch im Leben.

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