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Wismar

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Wismar


Es wird Abend und das Boot nähert sich der Küste. Graue Wolken haben sich gesammelt und die Inseln hinter mir verschlungen, in der Nacht wird es regnen; die Bootsleute halten inne, lassen das Wasser von den Rudern tropfen und blicken gedankenlos auf die Stadt, die aus dem Meer steigt. Seltsames Bild, wie hingemalt von den Fingern eines Träumenden an den Horizont. Die allzuhohen Türme, die aneinandergedrängten Dächer haben nichts Körperliches, und der kühle Hauch, der von der Erscheinung ausgeht, kündet Geisternähe an. Ist das Vineta, von der die Chroniken dunkel berichten? Hat die schaurige Stunde geschlagen, in der, einmal vielleicht in hundert Jahren, das Begrabene und Versunkene auftaucht? Ja, aus dem Meer kommt diese Fabelstadt, eingehüllt in die Feuchte der unerforschten Tiefe, die das Glutrot ihrer Steine dämpft. Kein Lärm dringt aus den Gassen oder vom Hafen her, wo es sonst in Seestädten so ausgelassen zugeht; diese Häuser scheinen von lautlosen Tränen überströmt zu sein. Ein altes Tor mit hochgerecktem Stufengiebel winkt zum Eintritt; darf man ihm trauen? Was geschieht dem Lebendig-Sterblichen, der den Zauberkreis betritt? Es scheint plötzlich, als sei das Tor ein garstiger Kobold mit äffender Fratze. Rieselt und rauscht es nicht dahinter? Vernahm ich nicht ein grelles, klirrendes Geschrei und dazwischen süße Akkorde, wie wenn Meerweiber sich vergnügten? Sie locken die Irdischen in die tote Stadt und um Mitternacht müssen sie mit ihr hinunter, den gefräßigen Fischen zur Beute.

Erklärt sich die Schwermut, die über Wismar liegt, nur aus dem Verfall einer einst blühenden Stadt? Oder verbirgt sich ein Geheimnis ihrer Geschichte dahinter? Und wie kommt es, dass eine Stadt, die sich einmal so reich und mächtig darstellen konnte, so verkümmerte? Die Geschichte zeigt sie uns als von Anfang an im Besitz der mecklenburgischen Herren wendischen Ursprungs, die durch Kaiser Karl IV. in den erblichen Reichsfürstenstand erhoben wurden.


Kaiser Karl IV.

Die deutschen Ansiedler, namentlich Friesen und Westfalen, die den Ort bevölkerten und rasch zur Blüte brachten, suchten sich der Landesherren nach Möglichkeit zu erwehren.

Während Herzog Heinrich der Pilger (Fürst Heinrich I., Herr zu Mecklenburg, genannt „der Pilger“ (* um 1230; † 2. Januar 1302) war von 1264 bis 1275 und von 1299 bis 1302 Regent der Herrschaft Mecklenburg.) im Heiligen Land verschollen war, zog der Rat von Wismar nicht nur eine Mauer um die Stadt, sondern auch eine zwischen der Stadt und der Burg, wo die Herren residierten, sie von der Stadt gleichsam ausschließend. Als nun Herzog Heinrich nach mehr als zwanzigjähriger Gefangenschaft aus dem Morgenland heimkehrte, war er darüber sehr ungehalten, und es entspann sich ein Streit, der durch Lübecks Vermittlung in der Weise beigelegt wurde, dass Wismar dem Herzog seine Burg abkaufte, ihm aber eine andere zwischen den Kirchen Marien und Georgen baute. Die Stadt bedang sich aus, dass die Burg nie befestigt werde, und dass Verbrecher kein Asyl dort finden, noch Bürger der städtischen Gerichtsbarkeit entzogen werden dürften. An Stelle der neuen gotischen Burg errichtete Herzog Johann Albrecht I. zur Feier seiner Hochzeit im Jahr 1555 einen Renaissance-Bau, den Fürstenhof.


Fürstenhof – Foto: Niteshift

Der Herzog war ein Liebhaber der Baukunst und insbesondere der Renaissance; er bekümmerte sich eingehend um das neue Werk und ließ sogar ein Franziskanerkloster in Schwerin abtragen, um die Steine dazu zu benutzen. Den berühmten Leiter der größten Formziegelei in Lübeck, Statius von Düren, bewog er, seine Tätigkeit dem Schlossbau in Wismar zu widmen. Der Längsbau mit stattlichen Portalen, reich dekoriert mit Faunen, Girlanden, Fruchtkränzen, Cäsarenköpfen und einem den Trojanischen Krieg darstellenden Fries verrät mehr den deutschen Charakter der Erbauer als den des italienischen Musters. Durch neuere Wiederherstellung ist die Ursprünglichkeit des alten Baus missverständlich ausgeglättet.

Gegen das Ende des 14. Jahrhunderts brachte Wismar wesentliche Regierungsrechte an sich, nämlich die Vogtei, das Gericht und die Münze; obwohl es sie nur pfandweise erwarb, hat es sie doch 500 Jahre, bis zum Ende des 19. Jahrhunderts behalten. Ebenso glückte die Ausschaltung der Geistlichkeit. Der Bischof von Ratzeburg, zu dessen Diözese Wismar gehörte, musste auf das Patronatsrecht der Schulen verzichten, das ein Herzog ihm schenkte, nachdem dessen Mutter es bereits dem Rat von Wismar abgetreten hatte. Ferner erhob der Rat zum Gesetz, dass weder ein Bischof, noch eine geistliche Bruderschaft, noch irgendein Geistlicher eine Wohnung in der Stadt kaufen oder sonst erwerben dürfe, und die Klöster, die damals schon Höfe in Wismar besaßen, mussten sich verpflichten, keinen Herren, Ritter oder Verdächtigen zu beherbergen, und wenn sie verkauften, es nur an Bürger zu tun.

Im Jahr 1259 schlossen Lübeck, Rostock und Wismar das denkwürdige, gegen Seeräuber gerichtete Bündnis, das ein Ausgangspunkt der Hanse wurde.


Innerhalb der Hanse gehörte Wismar zu den wendischen Städten, von denen es die schwächste war. Der Wohlstand der Bürger, der eine Zeitlang bedeutend war, beruhte auf der Schifffahrt, auf der Brauerei und der damit verbundenen Böttcherei, auf der Wollenweberei; auch Ackerbau wurde betrieben. Der Handel beschränkte sich hauptsächlich auf die Ausfuhr des Bieres und auf die Einfuhr von Heringen; soviel wie möglich blieben Erzeuger und Verbraucher in unmittelbarer Beziehung.

Der wirtschaftliche Niedergang um 1500 betraf alle Städte, Wismar aber besonders durchgreifend und unaufhaltsam. Die Brauerei, die, was die Häufigkeit des Brauens und den Verbrauch an Malz betraf, von der Obrigkeit abhing, wurde um die Mitte des 15. Jahrhunderts von 182 Bürgern betrieben, gegen Ende des 17. Jahrhunderts noch von 85, am Ende des 18. Jahrhunderts noch von acht Bürgern; jetzt ist sie ganz eingegangen. Ebenso ging die Wollenweberei zurück. Unter schwedischer Herrschaft litt Wismar sehr unter Kriegen, um endlich durch den Siebenjährigen Krieg völlig ausgesogen zu werden. Allmählich beginnt es wohl, seine Verarmung zu überwinden, aber nicht die Schwermut seiner Erscheinung.


Mehr als die Daten der Geschichte verraten uns Wismars Bauten über sein Schicksal.


St. Nikolaus – Foto: Alexander Koker


St. Marien – Foto: Niteshift

Gewaltig ragen die drei Hauptkirchen aus der Stadt empor, St. Marien und St. Georg in der Nähe des Marktes, St. Nikolaus am Hafen, dem Patron der Schiffer geweiht. Herausfordernd hingeworfen, wie um sich untereinander und alle Kirchen der Nachbarorte zu übertrumpfen, deutet ihr Übermaß um so mehr auf unbeherrschten Übermut, als Wismars Reichtum und Stellung so stolzen Plänen nicht entsprach. Sie erwecken den Gedanken an sagenhafte Städte, deren Bewohner frevelmütig ihre Straßen mit Gold deckten, bis der Zorn Gottes sie schlug und in Berg oder Meer versenkte. Turm und Chor der Ratskirche St. Marien beherrschen den Markt, obwohl sie etwas abseits davon liegt. Umgeben von der malerischen Gruppe der Pfarrei und anderen alten Bauten, tritt der gotische Backsteinbau dem Näherkommenden überraschend entgegen. Seine Einfachheit bei allem Zierat farbiger Glanzziegel, Bänder und Fialen macht, dass die architektonische Idee packend und interessant, wie das Skelett eines riesigen Urgeschöpfes hervortritt. Vom Markt aus muten die auf den Chor gestützten Strebepfeiler an wie die Beine einer versteinerten Riesenspinne. Wohltuend ist die sanftglühende Farbe des Backsteins im Innern, das dadurch, trotz der großen Verhältnisse, nicht kalt und leer wirkt. Der Umstand, dass, wie in allen Kirchen nordischer Seestädte, der Boden mit Grabplatten bedeckt ist, lässt uns ihre Bedeutung für die damaligen Menschen nachfühlen. Die Namen der Geschlechter, unter denen oft das Bild eines Schiffes eingegraben ist, haben für uns einen fernher rauschenden, seltsamen Klang; damals, so klein wie jene Städte waren, riefen sie Wohlbekannte: Brüder, Freunde, Feinde, Nachbarn ins Gedächtnis. Die Kirche war der Friedhof, die Stätte der ewigen Ruhe und der dereinstigen Auferstehung; an das Mysterium des unentrinnbaren Todes knüpfte sich die frohe Botschaft des unsterblichen Gottes und seiner Himmel voll ewigen Lebens. Sie war das Haus Gottes und das Haus aller, eines jeden Bürgers zweites Haus neben dem vergänglichen, das er nur flüchtig besaß, das, wo er bis zum Jüngsten Tage ruhen würde. Grabsteine und Epitaphien erfüllen die weite Halle, besonders die Zeit des Barock weiß eine Fülle von Symbolen, Engel, Posaunen, Lanzen, Trommeln, Blumen und Früchte, zu prächtigen dekorativen Werken der Kleinkunst zu verschlingen. Zwei bedeutende Grabmäler aus verschiedenen Jahrhunderten bewahrt die Marienkirche: die Bronzefigur der Herzogin Sophie, die an Werke des Vischer erinnert, und die in Holz geschnittenen und bemalten Figuren des schwedischen Generals Wrangel und seiner Frau. Durch ein überreich verziertes, reizendes Barockportal, das die Grabkapelle abschließt, sieht man die auf hohem Unterbau zunächstliegende Gestalt des Mannes und sein Gesicht im Profil, scharfgeschnittene, imponierende Züge. Das Ganze übt die eigenartige Wirkung aus, die die zugleich naturalistische und stilisierte Kunst des Barock hervorbringt.

Die Georgskirche liegt der Marienkirche überraschend nah. Bei einer Erweiterung der Stadt nach Westen wurde das Hospital für die Aussätzigen, das in Wismar, wie in jeder mittelalterlichen Stadt, vor den Toren lag, in das Gebiet innerhalb der Mauern einbezogen und musste weiter hinaus verlegt werden. Das alte wurde abgebrochen, und da man die geweihte Stelle nicht zu weltlichen Zwecken gebrauchen mochte, errichtete man darauf die Kirche für die neue Stadt. Die Leprosenhäuser waren fast immer dem heiligen Georg geweiht; so wählte man ihn auch zum Patron der neuen Kirche. Die, welche wir jetzt sehen, stammt aus dem 15. Jahrhundert; von der um hundert Jahre früher erbauten ist der Chor stehengeblieben, da die Mittel, das in ungeheuren Maßen angelegte Gebäude zu vollenden, der verarmenden Stadt ausgingen. Anstatt des Turmes, auf den ebenfalls verzichtet werden musste, sitzt auf monumentalem Unterbau ein mit spitzer Kappe gedecktes Geschoss, das sich nur wenig über die Höhe des Daches erhebt. Der verhältnismäßig kleine Chor und das Fehlen des Turmes lassen den Rumpf des Kolosses desto gewaltiger hervortreten. Das Kircheninnere ist besonders schön bewegt und die Ausstattung reich. Die Wände weisen zum Teil Malerei auf: die beiden Titularheiligen St. Georg und St. Martin auf weißen Pferden, der eine den Drachen tötend, der andere seinen Mantel mit dem Bettler teilend. Über einem reichgeschnitzten Altar mit der Krönung Mariens schwebt hoch oben das von goldenen Flammen umzüngelte Triumphkreuz. An den Figuren begegnen einem oft Augen mit wunderlich kaltem, blankem Blick, wie die seelenlosen Meerwesen ihn haben mögen.

Die Nikolaikirche war bestimmt, die Marienkirche zugleich zu wiederholen und zu übertreffen. Ein Sturm im Jahr 1703 riss die hohe kupfergedeckte Spitze des Turmes ab, die im Sturz das Dach des Mittelschiffes zerschlug und Triumphkreuz, Lettner, Orgel und Chorgestühl zertrümmerte. Da keine Mittel vorhanden waren, das Zerstörte gleichwertig zu ersetzen, blieb das Innere seines edlen Schmuckes beraubt.

Sehr stimmungsvoll, mit niedriger bemalter Balkendecke ist der Saalbau der Hospitalkirche an der Lübischen Straße. Zwei Ordenskirchen, die der Franziskaner und die der Dominikaner, sind am Anfang und am Ende des 19. Jahrhunderts abgebrochen. Von den Backsteingiebeln der gotischen Zeit, wie sie auf alten Stadtbildern Wismars sich einer an den andern reihen, sind nur wenige übriggeblieben, breiter, schmuckfroher als die fachlich-kühlen Lübecks. Ein Kleinod, wie es wenige Städte aufweisen können, ist die Alte Schule, ein freistehender Langbau mit Giebeln an den Schmalseiten, der im Zierat bunter glasierter Backsteine prangt.


Alte Schule

Bewundernd sucht man sich vorzustellen, wie eine Stadt ausgesehen haben mag, in der alle Gebäude soviel anmutiger Pracht und solcher Monumentalität entsprachen.

Die beiden Punkte, wo man Wismar am besten in sich aufnimmt, sind der Hafen und der Markt. Wenn der Schleier der Dämmerung darüber fällt und das Grün des Kupferdachs der reizenden Wasserkunst kaum noch durch die silberne Luft schimmert, wenn der feste, kantige Turm der Marienkirche zum flachen Schatten wird, empfindet man die Öde des Platzes mit Grauen und glaubt ein Traumgesicht zu sehen, das in die Nacht zerfließen wird.

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Ricarda Huch: Im alten Reich – Lebensbilder Deutscher Städte – Teil 2 - Band 181 in der gelben Buchreihe bei Ruszkowski

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