Читать книгу Ricarda Huch: Im alten Reich – Lebensbilder Deutscher Städte – Teil 2 - Band 181 in der gelben Buchreihe bei Ruszkowski - Ricarda Huch - Страница 8
Lüneburg
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Wenn man von Hamburg nach Lüneburg fährt, sieht man kurz vor dem Ziel aus Feldern und Bäumen vorschauend ein freundliches Dorf mit einer großen, eigentümlich zusammengebuckelten Kirche, deren Türme nicht höher als ihr Dach sind: das ist Bardowik.
Bardowik
Einst war es eine reiche, ansehnliche, von Heinrich dem Löwen beschirmte Handelsstadt, die der zürnende Fürst später, weil sie ihn, als er, vom Kaiser geächtet, Aufnahme suchte, nicht nur die Tore verschlossen, sondern verhöhnt hatte, bis auf den Grund zerstörte. Nur die Kirchen, darunter der Dom, blieben übrig, über dessen eines Portal Heinrich einen hölzernen Löwen setzte mit der Unterschrift Leonis Vestigium, des Löwen Spur.
Der Untergang Bardowiks wurde das Glück Lüneburgs, auf welches die Vorteile des älteren Marktes übergingen. Die Ilmenau nämlich, an welcher beide Städte liegen, war eher schiffbar als die Elbe und Bardowik war dadurch zu einem Knotenpunkt geworden, von dem aus die Waren teils zu Wasser, teils zu Lande nach allen Richtungen transportiert wurden. Was Lüneburg vor Bardowik voraus hatte, war eine zweite Gabe der Natur außer dem Fluss: eine Salzquelle, die überall früh zuerst die Aufmerksamkeit der Tiere, dann die eines jungen, in der Wildnis jeden Vorteil benutzenden Volkes auf sich zu ziehen pflegte.
Die erste urkundliche Erwähnung Lüneburgs vom 13. August 956 durch König Otto I.
Schon zur Zeit Karls des Großen gab es einen Ort Lüne, und Hermann Billung, der Slawenbesieger, stiftete das Kloster St. Michael auf dem Kalkberg, an dessen Fuß die Salzquelle entspringt. In der Michaelskirche wurden die welfischen Herzöge bestattet, darunter zwei Söhne Heinrichs des Löwen. Beim Tod seines ältesten Sohnes Heinrich, der in Lüneburg infolge eines Sturzes vom Pferd jung starb, schenkte der Vater den Benediktinern des Klosters die Abtsmühle zum Seeltrost. Das Grab Wilhelms, des Älteren, des jüngsten in der Verbannung in England geborenen Sohnes Heinrichs des Löwen, musste einer Stiftung zufolge jährlich am Todestag mit Kerzen und Blumen geschmückt werden, was bis zum Jahr 1532 ausgeführt wurde. Auch die nach der Zerstörung des Jahres 1371 unterhalb des Kalkberges neu auferbaute Michaelskirche wurde Begräbnisstätte der Fürsten. Von den Grabmälern der alten Kirche ist nur das Ottos des Strengen und seiner Gemahlin Mechtildis von der Pfalz übriggeblieben.
Nach der Zerstörung von Bardowik nun ließen sich viele von den dortigen Bewohnern im benachbarten Lüneburg nieder und vermehrten nicht nur die Volkszahl, sondern gaben auch dem Ort, der sich bisher noch nicht recht entfaltet hatte, einen neuen Antrieb. Es füllte sich damals der Raum zwischen dem alten Modesdorp, der Siedelung, deren Mittelpunkt die Johanniskirche war, und der Altstadt unter dem Kalkberg durch eine neue Anlage mit einem Markt, wo später das Rathaus entstand. Heinrich der Löwe, zu dessen Eigengut Lüneburg gehörte, wachte so eifersüchtig über dem Gedeihen seiner Stadt, dass er die neuentdeckte Salzquelle zu Oldesloe bei Lübeck verschütten ließ, um Lüneburg vor dem Wettbewerb zu schützen.
Der unschätzbare Born, aus dem so viele ihre Nahrung zogen, entwickelte sich zu einer Anlage, die fast ein Ort für sich war. Um den Sod herum lagen eng zusammengedrängt 54 Siedhäuser oder Kotten, und zwar so tief unter der Erde, dass nur die Dächer hervorragten. Sie hatten Namen alten Klanges, z. B. Eying und Berding, die auf längst verschwundene Geschlechter hinweisen und die mit den Namen langobardischer Fürsten verwandt sein sollen.
Von dem Großen Sod unterschied man den Gottessod, in welchem das wilde, nämlich das süße Wasser zusammenlief. In der frühesten Zeit wurde das Wasser mit großen Eimern, seit der Mitte des 16. Jahrhunderts mit Druckpumpen und hundert Jahre später mit Saugpumpen gehoben. In Bewegung gesetzt wurden die Pumpen durch die sogenannten Sodeskumpanen, erst seit 1782 durch ein Gestänge, das ein Wasserrad der Ratsmühle trieb. Das Sammelbecken für die ausgeschöpfte Sole hieß Küntje; daneben gab es noch eine Kanzel, wo der Sodmeister bei Übernahme seines Amtes eine Anrede an die Sodeskumpanen über ihre Pflichten hielt. Der ganze Kreis von Baulichkeiten war von einer Mauer umschlossen, die vier Tore und mehrere Türme hatte. Das geschah wohl, um die kostbare Anlage zu schützen; aber man erkennt daran auch die Vorliebe des Mittelalters für geschlossene Bildungen. Als man für Luft, Licht und Weiträumigkeit schwärmte, am Ende des 18. Jahrhunderts, wurde die Schutzmauer mit den Türmen niedergelegt. Zwischen einem der Tore und der Salzbrüderstraße lag der altheilige Gerichtsplatz Up den Stenen.
Die Salzquellen gehörten ursprünglich den welfischen Herzögen, allmählich aber gingen die Einkünfte daraus durch Schenkung oder Kauf an andere über, und zwar zumeist an Geistliche, die auf diese Weise ihr Geld anlegten. Geistliche Besitzer von Salzanteilen waren z. B. die Äbte der Klöster Hersfeld, Walkenried, Amelunxborn, Dobberan, Loccum, Riddagshausen, die Pröpste der Domkapitel von Verden, Braunschweig, Hamburg, Bardowik; man nannte sie insgesamt die Sülzprälaten. Da diese entfernt und zerstreut wohnenden Herren den Betrieb nicht selbst führen konnten, verpachteten sie die Besiedung der Sülze an Lüneburger Herren, die zum Entgelt dafür, dass sie für alles zum Betrieb Notwendige sorgten, die Hälfte des Ertrages bekamen und außerdem noch das, was über den durchschnittlichen jährlichen Betrag, der gemäß der Zahl der Kotten und Pfannen berechnet und festgestellt war, produziert wurde. Da der Überschuss gewöhnlich mehr als das Doppelte betrug, machten die Pächter ein gutes Geschäft. Sie, die Sülzherren, bildeten das Patriziat Lüneburgs, aus welchem der sich selbst ergänzende Rat hervorging.
Wie überall wurde das Regiment in der Weise geführt, dass das Patriziat allein die Geschäfte besorgte, was schon dadurch geboten war, dass in den ersten Jahrhunderten die Regierenden keine Entschädigung erhielten, also wohlhabend sein mussten. Sie waren in Lüneburg vernünftig genug einzusehen, dass Einmütigkeit und Zufriedenheit die sicherste Grundlage des Gedeihens der Stadt bildete, und nützten wenigstens in der älteren Zeit ihre vorteilhafte Stellung nicht allzusehr für sich aus und befragten auch bei wichtigen Gelegenheiten die Bürgerschaft, insbesondere die Innungen, um ihre Meinung. Dementsprechend war die amtliche Bezeichnung des Stadtkörpers: „De rad unde de menheit“ oder „Use rad ud use borgere“. Zu den vornehmsten Geschlechtern gehörten die Viskule, Abbenborg, Garlop, vom Sande, van der Salten, Thode, Floreke, Springintgut, Semmelbecker, van der Molen. Ackerbau wurde in Lüneburg wenig betrieben; der Wohlstand beruhte auf dem Salz und denjenigen Gewerben, die mit dessen Gewinnung oder Betrieb in Verbindung standen, wie z. B. die Herstellung der Tonnen, die Herbeischaffung des Holzes, dem Transport durch Schiffer und Fuhrleute. Gehandelt wurde außer mit Salz mit Heringen. Seit dem Jahr 1273 bestand der Brauch des sogenannten Köpefahrens: der neugewählte Sülzmeister musste ein mit Steinen gefülltes Fass, durch das eine Achse gesteckt war, zu Pferde in scharfem Trab durch die Stadt ziehen; es sollten dadurch Kraft und Kühnheit des Mannes erprobt werden, wie ja damals von den Geschlechtern wie auch von den Handwerkern Wehrhaftigkeit und Kampfbereitschaft erwartet wurden. Durch die Teilnahme reitender Trompeter und der älteren, gleichfalls berittenen Sülzmeister wurde dem Vorgang ein festlich-fröhlicher Charakter gegeben.
Das Verhältnis zu den Landesherren, den braunschweigischen Herzögen, war lange Zeit sehr gut. Sie folgten dem Beispiel Heinrichs des Löwen, indem sie das Aufblühen der Stadt begünstigten, die ihnen dafür, wenn es die Umstände erforderten, mit Geld beistand. Gleichzeitig wuchsen aber auch Wohlstand und Selbstgefühl der Bürger, und sie suchten sich planmäßig von der welfischen Herrschaft freizumachen, die, nachdem die Herzöge ihnen auch die Gerichtsbarkeit verpfändet hatten, nur noch dem Namen nach bestand. Die Steuern, die sie zahlten, waren freiwillige, daher Bede, also Bitte genannt. Urkundlich erwähnte Herzog Wilhelm im Jahr 1366 die „sunderlike vrundschop unde woldad“, die der Rat von Lüneburg ihm durch Geldhilfe getan hätte. Auch Kriegshilfe bei Fehden des Herzogs leisteten die Lüneburger nur freiwillig: „alle de hulpe de se us doen in desen stucken, de doen se us umme vrundschop unde nidt umme recht nogh dor woenheyd.“ Dies freundschaftliche Verhältnis wurde zerstört durch Herzog Magnus Torquatus, der mit Hilfe der Ritterschaft sich die Stadt zu unterwerfen trachtete. Klug benutzten die Lüneburger den Umstand, dass gerade damals Kaiser Karl IV. die Herzöge von Sachsen-Wittenberg, die Erbansprüche vorbrachten, mit der Herrschaft Lüneburg belehnte, indem sie sich diesen anschlossen und dadurch zugleich Magnus loswurden und sich eine Reihe von Privilegien vonseiten der neuen Landesherrschaft erwarben. In die Zeit der Kämpfe mit Magnus Torquatus fällt ein Ereignis, welches im Gedächtnis der Lüneburger als heroisch-tragischer Augenblick ihrer Geschichte lange fortlebte.
Es war im Jahr 1371 ein Waffenstillstand geschlossen worden, der die Lüneburger dazu ermutigte, nach langer Zeit zum ersten Mal die Bewachung der Mauern einzustellen, um sich satt zu schlafen. Da, es war die Nacht des 21. Oktober, zog eine Schar von Rittern und Knappen im Dienst des Herzogs auf verschiedenen Wegen über die Heide vor Lüneburg, angeführt von dem edlen Herrn Heinrich von Homburg und dem Ritter Sievert von Saldern. Schweigsam, von dem leise durch das dürre Kraut pfeifenden Herbstwind begleitet, näherten sie sich den Mauern, von denen die dicken Türme in die Nacht starrten wie drohende Finger. Schwarz und totenstill lag die Stadt unter den eiligen Wolken; schliefen die Wächter? oder griffen sie vielleicht schon zum Schwert, wenn sie das dumpfe Trotten und Klirren der Mörderschritte hörten? Sie überstiegen, sieben- bis achthundert an Zahl, die Mauern und töteten, was ihnen erschreckt und verwirrt entgegentrat. Zwei Bürgermeister stellten sich sofort an die Spitze der aufgestörten, entsetzt herbeieilenden Bürger und fielen: Heinrich Viskule und Heinrich van der Molen; denn es war eine Zeit, wo die Häupter des Volkes noch ihre Person einsetzten und mit eigenem Blut zahlten. Die Stadt schien verloren, als, nach der Überlieferung, ein kluger Mann, Ulrich von Weißenburg, sie durch List und Opfer rettete. Er bat die Feinde vom Kampf abzustehen, bis er die Bürgerschaft zur Unterwerfung überredet haben würde, wodurch er Zeit zu gewinnen und die verscheuchten Lüneburger zu sammeln hoffte. Anstatt zur Unterwerfung überredete er sie zu kräftigem Widerstand und teilte zurückkehrend den Herzoglichen mit, dass die Bürgerschaft auf Fortführung des Kampfes bestehe. „Dann stirb zuerst!“ sollen ihm die Überlisteten zugerufen haben, indem sie ihn töteten. Mit solchem Ungestüm warfen sich nun die Bürger, von ihren Frauen unterstützt, auf die Ritter, dass sie die Flucht ergriffen; Sievert von Saldern und 54 Ritter und Knappen fielen, der Bannerherr von Homburg wurde mit vielen anderen gefangen. Von einem tapferen Bäcker wird erzählt, dass er 22 Feinde erschlagen habe, bis er selbst den Streichen der Gegner erlegen sei. An dem Giebel eines Hauses in der Großen Bäckerstraße befindet sich noch das angebliche Bild dieses Recken. Zum Gedächtnis des Bürgermeisters Heinrich Viskule wurde an der Straße Auf dem Meere, da, wo er gefallen war, ein Kruzifix errichtet, das man später in die Nikolaikirche versetzte. Lange noch wurde dieser teuer erkaufte Sieg am Jahrestag in allen Kirchen Lüneburgs gefeiert.
Durch die furchtbare Schlacht bei Winsen an der Aller, wo die Stadt Braunschweig den Herzögen beistand, kam Lüneburg wieder an das braunschweigische Haus, ohne aber seine alten Freiheiten zu verlieren. Noch war der Stern der Städte im Steigen, die Zeit der Fürsten noch nicht reif; der Herzog musste im Jahre 1392 mit seinen Ständen ein Landfriedensbündnis eingehen, Satebrief genannt, welches den Ständen im Fall, dass der Herzog die Sate verletzte, das Recht bewaffneten Widerstandes zusicherte. Die Lüneburger erklärten, jeder Fürst sei seinen Untertanen soviel Treue schuldig wie sie ihm, und ihre Vorfahren hätten mit eigenem Gelde die Stadt erbaut, sie gehöre also ihnen, nicht ihm. Das Bewusstsein ihrer Tüchtigkeit, ihrer Arbeitskraft, ihres Zusammenhaltens und Gelingens erfüllte sie mit dem Glauben an ihr Recht und ihre Zukunft. Der Anschluss an den großen und mächtigen Bund der Hanse steigerte ihre Macht und ihr Ansehen. Innerhalb der Hanse gehörte Lüneburg zu den wendischen Städten und trat gewöhnlich mit Lübeck, Hamburg, Wismar, Rostock und Stralsund gemeinsam auf. Welche Stellung Lüneburg einnahm, kann man aus der Tatsache schließen, dass in einem Kampfe Lübeck 30, Hamburg 20 und Lüneburg 10 Mann stellte. Das Lüneburger Salz war den Seestädten unentbehrlich und dementsprechend wurde die Stadt geschätzt. Wer Lübeck durch das Holstentor betreten will, sieht noch jetzt an der Trave entlang die altersgrauen, massiven Gebäude, die als Niederlage der Lüneburger Salzsendungen dienten. Nicht selten fanden Versammlungen der Hanse in Lüneburg statt, so eine im Jahr 1412, auf welcher Abgeordnete des Königs von Dänemark, des deutschen Kaufmanns in Brügge und in Bergen und des friesischen Seeräuberhäuptlings Keno ten Broke erschienen.
Je deutlicher sich das Bestreben der Fürsten kundgab, die selbständigen Einzelglieder des Reiches von einem Mittelpunkt, ihnen selbst und ihrer Residenz abhängig zu machen, desto energischer und planmäßiger setzten sich die städtischen Republiken zur Wehr. In der Mitte des 15. Jahrhunderts ging Lüneburg mit 35 Städten ein Bündnis auf 6 Jahre ein, das zuerst mit 40, dann mit 64, zuletzt mit 50 Städten erneuert wurde. Man nannte eine solche Verbindung eine Tohopesate, weil sie zuhauf geschlossen war. Sie sahen ausdrücklich den Angriff von Fürsten und Herren vor und verpflichteten die Teilnehmer zu gegenseitiger Unterstützung in solchen Fällen.
Eine ernstliche Erschütterung der lüneburgischen Eintracht und Macht bewirkte der sogenannte Prälatenkrieg. Misserfolge in der äußeren Politik und Geldmangel sind es gewöhnlich, die den in einem Gemeinwesen Zurückgesetzten und Unzufriedenen den Mut geben, sich hervorzuwagen. Die Rolle, die Lüneburg namentlich in der Hanse spielte, vielleicht auch zunehmende Verschwendung der regierenden Kreise hatte eine solche Schuldenlast aufgehäuft, dass sie abzutragen geboten schien. Der Rat wendete sich in seiner Verlegenheit an die Sülzprälaten, die an einer guten wirtschaftlichen Lage der Stadt interessiert waren und auch früher schon geholfen hatten. Sie waren auch jetzt nicht abgeneigt, etwas Außergewöhnliches zu leisten, aber ihre Bereitwilligkeit wurde hintertrieben durch eine dem Rat übelgesinnte Person, Dietrich Schaper, den Propst des alten Klosters Lüne. Im raschen Ärger über den unvorhergesehenen Widerstand veranlasste der Rat die Absetzung des Propstes, der nun es seinerseits dahin brachte, dass der Papst, der wegen der geistlichen Aktienbesitzer in diesem Streit die höchste Instanz war, Lüneburg in den Bann tat. Der Rat erwiderte den Schlag dadurch, dass er das Sülzgut der Prälaten einzog, worauf nicht nur der Papst den Bann erneuerte, sondern der Kaiser noch die Acht dazuwarf. Die Mittel waren noch wirkungsvoll genug, um auf Handel und Wandel zu drücken und dadurch die Bürgerschaft kleinmütig zu machen; in die Enge getrieben, dankte der Rat ab, nachdem die Bürger versprochen hatten, Gut und Leben der bisherigen Regenten nicht anzutasten. Die Untersuchung des Finanzwesens hatte den Bruch des Versprechens im Gefolge; denn man war mit der Rechnungsablage, die gegen das Herkommen erzwungen wurde, nicht zufrieden und gründete darauf ein strenges Vorgehen. Mehrere Ratsmänner mussten Geld und Waffen abliefern, andere wurden in die für Gefangene niederen Standes bestimmten Türme geworfen. Bürgermeister Springintgut, der sich dem Verfahren widersetzte, kam in den Turm am Grahlwall, erkrankte dort und starb. Der Sturz des Bürgermeisters soll weniger durch die Handwerker als durch einen persönlichen Feind aus dem Patriziat, Johann van der Molen, herbeigeführt worden sein; aber in ihrem Verlauf stützte sich die Bewegung auf die durch die ganze verfahrene Angelegenheit gereizte und benachteiligte Bürgerschaft und nahm eine demokratische Färbung an. Da nun aber der neue Rat die verzweifelte Lage, in die er hineingeraten war, nicht bessern konnte, zuletzt sich sogar hilfesuchend an die welfischen Fürsten wendete, wurde man seiner überdrüssig und rief den alten Rat zurück. Ein kaiserlicher Spruch verhängte Geldbußen und Verbannungen über die Aufrührer und der Tod des Bürgermeisters Springintgut wurde durch Enthauptung zweier Führer der Umwälzung gerächt. Mehrere Jahre vergingen noch, bevor die Sülzprälaten, namentlich durch Lübecks Vermittlung, dazu vermocht wurden, dem Rat zur Schuldentilgung die Hälfte ihrer Salineneinkünfte auf 10 Jahre abzutreten, woraus eine dauernde Abgabe wurde; ein Entschluss, der, rechtzeitig gefasst, den ganzen Jammer verhütet hätte.
Aus diesem Sturm ging das Patriziat gekräftigt hervor und schloss sich mehr als früher von der übrigen Bürgerschaft ab. Auch kirchlich war man unabhängig geworden; denn der Rat setzte es durch, dass das alte Archidiakonat von St. Johannes, das die geistliche Gerichtsbarkeit ausübte, und das vom Bischof von Verden abhing, beseitigt wurde und die betreffenden Befugnisse auf den Pfarrer der Johanniskirche übertragen wurden. Der Handel kostete den Magistrat 1.000 Dukaten, die an Rom, und 2.000 Mark Silber, die an Verden gezahlt wurden. Umso fester hielt er sich im Beginn der Reformation zur Kirche, jede Änderung, jede Umwälzung fürchtend, die zu einem Eingreifen der Herzöge hätte Anlass geben können. Aber der Bewegung war kein Einhalt zu gebieten, sie ergriff die Bürgerschaft unwiderstehlich, und selbst der Abt des Michaelisklosters, Baldwin von Mahrenholz, musste mit ansehen, dass, bald nachdem er eine große Messe an der goldenen Tafel zelebriert hatte, der Prior mit mehreren Mönchen in der Kirche das Abendmahl auf lutherische Weise feierte, und starb, im Innersten von diesem Anblick erschüttert, nach wenigen Tagen.
Die goldene Tafel war ein Altar, dessen Herkunft auf Heinrich den Löwen, der ihn aus Palästina mitgebracht habe, auf Karl den Großen, auf Hermann Billung, auf Kaiser Otto II. zurückgeführt worden ist, der ihn aus arabischer Beute habe anfertigen lassen. Seine Rückwand bildete eine große, in Goldblech getriebene figürliche Darstellung der heiligen Geschichte und war überreich mit Rubinen und Smaragden bedeckt. Dazu gehörten einige mit Reliquien und Kostbarkeiten gefüllte Fächer, worunter sich ein silbernes Fläschchen mit Milch der heiligen Jungfrau, der Beutel Judae mir den Silberlingen und ein Nadelkissen der Maria befand, ferner prächtige Kreuze, edelsteinbesetzte Bücher und Monstranzen. Im Jahr 1698 wurde diese Kostbarkeit durch eine Diebesbande gestohlen. Führer der Bande war ein kluger, begabter Mann, Nikolaus List, Sohn eines sächsischen Tagelöhners. Er hatte im Dienst des Kurfürsten von Brandenburg die Schlacht bei Fehrbellin mitgemacht und in Ungarn gegen die Türken gekämpft; heimgekehrt ließ er sich als Gastwirt nieder, studierte nebenbei den Parazelsus und kurierte Kranke, weshalb er der Doktor genannt wurde. Spitzbuben, die in seiner Wirtschaft verkehrten, verleiteten ihn zur Teilnahme an einem großen Diebstahl, der gut gelang, worauf er den Plan fasste, es in diesem Geschäft zu möglichst großer Vollkommenheit zu bringen. Er lernte vorzüglich gute Wachsabdrücke von Schlössern und Schlüsseln zu machen und schwang sich durch diese Kunst und ein gewiegtes Auftreten zum Haupt einer geübten Gaunergesellschaft auf. Er pflegte als Herr Heinrich Rudolf von der Mosel mit Allongeperücke, Samtmantel und Reitstiefeln aufzutreten, ohne dass er jemals Verdacht erregt hätte; seine verkleideten Spießgesellen bildeten seine Dienerschaft. Nachdem sie in der Katharinenkirche in Braunschweig einen schwierigen Diebstahl glücklich ausgeführt harren, begaben sie sich, um die goldene Tafel zu rauben, nach Lüneburg, wo einer von der Bande, ein Hamburger Schiffer, beheimatet war. Zwar glückte das Unternehmen; aber es gelang auch ziemlich rasch, der durch ihre Erfolge sichergewordenen Diebe habhaft zu werden, worauf sie teils gerädert, teils geköpft und gehängt wurden.
Der Riss zwischen den Regierenden und der Bürgerschaft, die einst eine starke Einheit gebildet hatten, schloss sich nicht mehr. Was schon einmal zum Unheil geführt hatte, dass einer aus den Geschlechtern sich an die Spitze der Unzufriedenen stellte, wiederholte sich im 17. Jahrhundert einmal durch Franz Töbing, ein anderes Mal durch einen aus der Buchdruckerfamilie Stern. Die Gegner des Rats pflegten mit den Herzögen gemeinsame Sache zu machen; diese beiden, die unteren Volksklassen und das Fürstentum lösten miteinander das patrizische Regiment auf. Hat einmal der Abstieg begonnen, drängt alles in die abschüssige Richtung. Verschiedene äußere Umstände verdarben den Wohlstand. Im Jahr 1569 wurde die Elbschifffahrt dem Handel freigegeben, wodurch die Ilmenau entwertet wurde; neue Salinen traten in Wettbewerb mit dem Lüneburger Salz, die Hanse sank durch den Aufschwung der Holländer, der Verkehr ging durch andere Straßen. Während sich die Einkünfte verringerten, musste man von den Herzögen, deren zentralistische Neigung stetig zunahm, die Erneuerung der alten Freiheiten teuer erkaufen. Herzog Georg benutzte die Verwirrung und Verarmung des Dreißigjährigen Krieges, um im Bund mit der Bürgerschaft die Patrizier aus dem lange so rühmlich geführten Regiment zu verdrängen. Die alten Familien jedoch erlebten den Untergang der Republik nicht: die stolzen und ehrliebenden Geschlechter, die sich zwischen Fürst und Gemeinheit zu behaupten gewusst hatten, neigten sich, da sie eben ihre Blüte und die Blüte der Stadt erreicht hatten, dem Ende zu. Im 16. Jahrhundert starben die Garlop, die van der Molen, die Schellepeper, die Schneverdinge und Viskule aus, im 17. die Düsterhop, Schomaker und endlich die v. Tzerstede, die Stöterogge, die v. Töbing und v. Laffert. Das Schwinden der persönlichen Kraft, die ein Staatswesen aufgebaut und lange erhalten hatte, bedeutete hier wie anderswo das Schwinden einer Epoche.
Lüneburg um 1598
Die äußere Erscheinung der Stadt überdauerte das innere Leben bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts. Nach dem Siebenjährigen Krieg, der das Ungenügende der alten Befestigung dargetan hatte, wurde sie niedergelegt. Zuerst wurde das Altenbrücker Tor abgerissen, durch welches die armen Sünder entweder auf den Köppelberg, wo mit dem Schwert gerichtet wurde, oder auf den Galgenberg, wo der steinerne Galgen stand, geführt wurden. Dann fiel das Lüner Tor, die Löwenkuhle, das Bardowiker Tor, die starke Papenmütze; der Grahlturm, wo der Bürgermeister Springintgut gefangen gelegen hatte, war schon im Dreißigjährigen Krieg abgetragen. Im 19. Jahrhundert verschwanden die Marienkirche, die Lambertikirche und das 1506 gestiftete Haus der Barmherzigkeit im Grahl. Und doch hat die trotzige, phantastische Stadt in der Heide viel von ihrer fremdartigen Schönheit bewahrt. Ihrer Mauern beraubt, gleicht sie einem Ritter, der den Harnisch ablegen musste, aber dessen Haltung und dessen Gang man immer anmerkt, dass er gerüstet war und dass metallisches Klirren seine Schritte begleitete. Die Häuser mit den gestuften Backsteingiebeln stehen da wie versteinerte Schilde, die unerschütterlich ein anvertrautes Leben hüten, das längst verronnen ist. Zugleich aber hat die Stadt etwas niedersächsisch Behagliches, Träumerisches und verrät sich als Teil der Heide, wo unter der Sonne violettes Kraut Würze aushaucht.
Foto: Wladyslaw
Der Turm der Johanniskirche, die den Sand beschirmt und beherrscht, erinnert an jene hohen Wachholder draußen, die seit unvordenklichen Zeiten mit dem Sturm kämpfen.
Ihr Gewölbe, das hochgereckte Backsteinpfeiler tragen, füllt eine ruhmwürdige, durch ein barockes Gehäuse verkleidete Orgel, an der ein Lehrer Bachs, Georg Hahn, Organist war, mit gewitterndem Wohllaut. Am Sande, einer großartigen Anlage, halb Straße, halb Platz, stehen eins ans andere gereiht, prächtige Giebelhäuser, die der flutenden Zeit getrotzt haben, mit ausgedehnten Hintergebäuden und Stallungen; denn dort war, als der Speditionshandel blühte, der Sitz der Herbergierer.
Am Sande – Foto: Michael J. Zirbes
Dort befindet sich auch die im Jahre 1614 gegründete, durch ihre Bibelausgaben berühmte Sternsche Buchdruckerei, von allen Buchdruckereien Deutschlands, die im Besitz derselben Familie geblieben sind, die älteste. An der Grenze des Johanniskirchhofs und des Sandes lag einst ein kleines Haus, wo man den zum Tode Verurteilten auf ihrem letzten Gange einen Labetrunk reichte. Unweit der Kirche steht, auserlesen im Schmuck verschieden geformter Fenster, das Kalandshaus, für eine vornehme, geistlich-weltliche Bruderschaft erbaut. Die Papenstraße, die an das verschollene Kloster Heiligental erinnert, führt zur alten Gottestreu Zum roten Hahn, einem malerischen Beieinander traulicher kleiner Häuser mit roten Ziegeldächern, die zur Aufnahme armer Leute gestiftet waren. Unter dem breitfüßigen Abtswasserkunstturm hindurch betritt man ein Zauberland: da steht dem Kaufhaus mit der vornehmen Barockfront und dem Zwiebeltürmchen gegenüber der im Jahr 1346 erbaute, vielfach restaurierte Kran, ein wunderlicher Alraun mit langer, grünpatinierter Nase, auf einer Seite von grauen Weiden umhangen, die tief in das vorüberfließende Wasser der Ilmenau tauchen. Dort am Wasser sind auch die Häuser, die das Geschlecht der Viskule bewohnte, welches Jahrhunderte hindurch die stolze Geschichte Lüneburgs leitete.
Den Mittelpunkt Lüneburgs bildet das Rathaus, ein Haus der Häuser, dem Bedürfnis der Zeiten gemäß entstanden.
Rathaus – Foto: Christian Fischer
Das 18. Jahrhundert entfernte die Spitzen der fünf schlanken gotischen Türme, die die Hauptfront gliedern, und ersetzte sie durch einen barocken Aufbau mit zierlicher Laterne. Der gediegenen Würde des 15. Jahrhunderts begegnen wir in der Gerichtslaube mit prächtig und sinnvoll bemalter Decke, mit schönen farbigen Glasfenstern und gotischen Wandschränken, in denen einst das Ratssilber verwahrt wurde: Pokale, Becher, Kannen und Schüsseln aus vergoldetem Silber, von Lüneburger Goldschmieden verfertigt und von patrizischen Familien gestiftet, ein Schatz von bedeutendem Wert, der nach einer Verordnung des Rates nicht veräußert werden durfte, wenn nicht höchste Not es erforderte. Im Dreißigjährigen Krieg trat dieser Fall ein, und es wurde ein Teil der Kostbarkeiten für 4.863 Taler verkauft. Den übriggebliebenen größeren Teil erwarb der preußische Staat im Jahr 1873 um 220.000 Taler für das Berliner Kunstgewerbemuseum. Die galvanoplastischen Nachbildungen, ein böser Ersatz, sind im Festsaal des Rathauses ausgestellt.
Dieser herrliche, um 1500 gebaute Riesensaal wäre einer mächtigen Reichsstadt würdig. Die Eingangstür, die an ein Scheunentor erinnert, ist nach innen mit einem großen doppelköpfigen Reichsadler bemalt, dessen Körper über und über mit den Wappen der Reichsstände bedeckt ist. An den Wänden befinden sich über der Täfelung die Bilder der lüneburgisch-welfischen Fürsten mit ihren Frauen, von der reichbemalten Balkendecke hängen Geweihleuchter mit holzgeschnitzten Heiligenfiguren herab. Aus dem 16. Jahrhundert stammt die große Ratsstube, die ganz und gar geschmückt ist durch wundervolle Holzschnitzereien des Meisters Albert von Soest. Sämtliche Räume des Rathauses verkörpern den großen Sinn und das sichere Selbstgefühl einer rühmlich regierenden Aristokratie und gleichwohl treuherzige Gemütlichkeit.
Den zum Teil erneuerten Brunnen vor dem Rathaus krönt eine kleine Bronzefigur der Diana aus dem 16. Jahrhundert; sie ist als Mondgöttin mit der Mondsichel dargestellt, daran erinnernd, dass der Name Lüneburg in früherer Zeit als Burg des Mondes gedeutet wurde, und dass man annahm, auf dem Kalkberge sei einst die Luna verehrt worden.
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