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ES WAR EIN KÜHLER SONNTAGNACHMITTAG. Aus der ganzen Gemeinde strömten die Bauern von ihren Höfen und Haziendas herbei und suchten sich einen Platz seitlich der Pferderennbahn, gleich hinter den Drahtzäunen, die die Strecke von den Häusern trennten. Man hatte ein paar Bretter auf zwei Böcke gelegt und verkaufte Empanadas, dazu wurde Gin und ein einfacher Landwein ausgeschenkt, der schon beim bloßen Anschauen zu Kopfe stieg. Das Feuer für das Asado war bereits entfacht worden, und man sah die vielen, an Grillkreuzen befestigten Rippenstücke und die Würste und anderen Vorspeisen, die man auf einer Plane auf dem Rasen ausgebreitet hatte. Es herrschte eine festliche Stimmung, und ein nervöses, freudig-angespanntes Stimmengewirr lag in der Luft, so wie immer, wenn ein lang herbeigesehntes Rennen bevorsteht. Nirgends waren Frauen zu sehen, nur Männer aller Altersstufen, junge und alte, Männer im reiferen Alter und Jugendliche, alle in ihren Sonntagskleidern. Die Landarbeiter trugen bestickte Hemden und Westen, die Großgrundbesitzer Wildlederjacken und Halstücher und die Dorfjugendlichen Jeans und um die Hüften geknotete Pullover. Unruhig wogte die Menge auf und ab, dann fingen die Männer an, auf die Pferde zu setzen, die Geldscheine in der Hand, zwischen den Fingern gefaltet oder hinter das Hutband gesteckt.

Auch viele Auswärtige waren gekommen, um sich das Rennen anzuschauen. Sie drängten sich am Ende der Strecke, in der Nähe des Zielstrichs, nicht weit entfernt vom Flussbett. An ihrer zurückhaltenden Art, dieser Unsicherheit von Leuten, die sich auf unbekanntem Terrain bewegen, erkannte man sofort, dass sie nicht von hier stammten. Aus den Lautsprechern eines lokalen Werbebüros – Die Stimme aller: Anzeigen, Sonderangebote und Feste – plärrten Musik und irgendwelche Mitteilungen. Schließlich wurde um einen kräftigen Applaus für Kommissar Croce gebeten, der bei dem Rennen der Zielrichter sein würde.

Begleitet von Saldías, seinem Schatten, erschien der Kommissar in Anzug und Krawatte, auf dem Kopf ein Hut mit schmaler Krempe.

»Es lebe das Pferd des Kommissars!«, brüllte ein Betrunkener.

»Reiß dich zusammen, Cholo, oder ich buchte dich wegen Beamtenbeleidigung ein«, entgegnete ihm der Kommissar, und der Betrunkene schmiss seinen Hut in die Luft und rief: »Es lebe die Polizei!«

Alle fingen an zu lachen, die Stimmung entspannte sich. Penibel, mit großen Schritten, maßen Croce und sein Assistent die Länge der Rennstrecke ab, dann wiesen sie zwei Burschen an, sich mit roten Tüchern an den Seiten zu postieren, um ein Zeichen zu geben, wenn alles fertig wäre.

Als die Musik für einen Moment aussetzte, hörte man plötzlich ein Auto mit hohem Tempo aus dem Wald kommen. Es war Durán, der das Coupé des alten Belladona steuerte, das Dach zurückgeklappt, neben sich auf dem schmalen Beifahrersitz die beiden Schwestern, hübsch und rothaarig, mit müden Gesichtern, als hätten sie in letzter Zeit zu wenig geschlafen. Während Durán den Wagen parkte und den beiden jungen Frauen beim Aussteigen behilflich war, blieb der Kommissar stehen, drehte sich um, damit er sie sehen konnte, und sagte mit leiser Stimme etwas zu Saldías, der resigniert den Kopf schüttelte. Es war eigenartig, die beiden Schwestern gemeinsam zu sehen, was nur in ganz außergewöhnlichen Situationen vorkam, und es war etwas Besonderes, sie an diesem Ort zu sehen, denn sie waren die einzigen Frauen (außer den Damen, die die Empanadas verkauften).

Durán und die Zwillinge suchten sich einen Platz in der Nähe des Starts, grüßten Bekannte und machten Späße über die Fremden, die sich am anderen Ende der Rennstrecke versammelt hatten. Die Mädchen hatten sich auf ihre Klappstühle mit Leinenbezügen gesetzt, und er stand hinter ihnen. Tony trug ein grau kariertes Sporthemd, eine elegant gestreifte Hose und zweifarbige Wildlederschuhe. Sein dichtes, schwarzes Haar glänzte von der Pomade oder einem dieser Öle, die dem Haar Halt und Form verleihen. Die Schwestern – beide waren in ausgesprochen heiterer Stimmung – trugen identische Sommerkleider und weiße Bänder im Haar. Natürlich hätten sie sich nicht mit einer solchen Selbstverständlichkeit zwischen all den Männern bewegen können, die um sie herumstrichen und ihnen mit einer Mischung aus Begierde und Respekt verstohlene Blicke zuwarfen, wenn ihr Vater nicht der wichtigste Mann im Dorf gewesen wäre. Durán grüßte lächelnd, und die Landarbeiter drehten sich weg und schlichen mit zerstreutem Gesichtsausdruck davon. Damit nicht genug, begannen die Schwestern auch noch, Geld zu setzen, wobei sie die Scheine aus winzigen Brustbeuteln zogen, die sie um den Hals trugen. Sofía setzte hohe Summen auf das Dorfpferd, während Ada einen größeren Haufen aus Fünfhundert- und Tausend-Peso-Scheinen auf das Pferd aus Luján wettete. So war es immer, die eine gegen die andere, wie zwei Katzen in einem Sack, die darum kämpfen, als erste hinauszukommen und zu verschwinden.

»Na gut, wie du willst«, sagte Sofía und erhöhte den Einsatz. »Die Siegerin lädt zum Essen ins Náutico ein, die Verliererin bezahlt.«

Durán fing an zu lachen und machte einen Scherz. Man sah, wie er sich zwischen die beiden beugte und einer von ihnen mit einer zärtlichen Geste eine widerspenstige Haarsträhne hinter das Ohr strich.

Dann kam für einen endlos anmutenden Augenblick alles zum Stillstand, der Kommissar stand regungslos an der Strecke, die Fremden schienen eingeschlafen zu sein, die Bauern starrten abwesend auf die Sandpiste, die Großgrundbesitzer blieben stehen und zogen missmutige oder überraschte Grimassen, umgeben von Vorarbeitern und Standverkäufern, die Lautsprecher verstummten, der Mann am Grill betrachtete mit einem Messer in der Hand das auf dem Blech lodernde Feuer und der verrückte Calesita drehte sich immer langsamer im Kreis, bis auch er sich nicht mehr rührte – abgesehen von einem leichten, kreisförmigen Hinundherwiegen, das das Flattern der Karussellplane im Wind darstellen sollte. (Das Wort »Karussell« hatte Tony dem Verrückten beigebracht, als er stehen geblieben war, um ein paar Worte mit ihm zu wechseln, so wie er es immer tat, wenn er am Platz vorbeikam und ihn seine Runden drehen sah.) Es war ein ganz besonderer Moment. Die zwei Schwestern und Tony Durán waren die Einzigen, die noch zu leben schienen. Sie unterhielten sich leise und lachten, und er fuhr fort, der einen über das Haar zu streicheln, während die andere an seinem Sakkoärmel zupfte, damit er sich zu ihr hinunterbeugte und sich anhörte, was sie ihm ins Ohr flüstern wollte. Der Grund jedoch, warum alle in ihrem Tun innegehalten hatten, war, dass der Großgrundbesitzer aus Luján – ein Engländer namens Cooke, groß und schwer wie eine Eiche – zwischen den Bäumen aufgetaucht war, an seiner Seite – mit wiegendem Schritt, einstudierter Arroganz, die Reitpeitsche unter die Achsel geklemmt – der winzige, vom vielen Matekonsum leicht gelblich-grüne Jockey, der die Bauern herablassend taxierte, denn schließlich war er früher einmal im Hippodrom von La Plata und in San Isidro geritten und folglich ein wahrer Turfprofi. Das Gerücht hatte die Runde gemacht, er habe seine Lizenz verloren, weil er einen Rivalen während des Rennens am Ausgang einer Kurve geschubst hatte. Das Pferd des anderen sei gestürzt und habe den Reiter unter sich begraben, der daraufhin grausam gestorben sei. Anscheinend saß er dafür in Haft, aber weil er behauptete, das Pferd habe sich erschreckt, als es das Signal eines Zuges hörte, der gerade in den hinter der Pferderennbahn gelegenen Bahnhof von La Plata einfuhr, ließ man ihn wieder laufen. Es hieß, er sei grausam und streitsüchtig, verschlagen und heimtückisch, dass zwei Tote auf sein Konto gingen und er ein kleiner, hochmütiger Zwerg sei, fieser als eine Chilischote. Weil er aus der Provinz Maldonado in Uruguay stammte, wurde er von allen nur El Chino genannt, obwohl er kein Uruguayer zu sein schien, so aufgeplustert und großmäulig wie er war.

Der Grauschimmel des krummen Ledesma wurde von Monito Aguirre geritten, einem Lehrling, der kaum älter als fünfzehn war, aber bereits im Sattel zur Welt gekommen zu sein schien. Mit schwarzer Baskenmütze, Halstuch, Leinenschuhen, dunkelgrauer Pumphose und kurzer Reitgerte mit dickem Knauf der Monito, und auf der anderen Seite der Jockey, winzig klein in seinem bunten Jäckchen und seiner Reithose, die linke Hand behandschuht, mit verächtlichem Blick, die Augen zwei bösartige Schlitze in einer gelblichen Gipsmaske. Grußlos musterten sie sich, der Chino mit der Reitpeitsche unter der Achsel und seiner Hand mit dem schwarzen Handschuh, die aussah wie eine Kralle, und der Monito, der pausenlos wie besessen Steinchen wegtrat – fast so, als wollte er den Boden säubern –, denn das war seine Methode, sich auf ein Rennen vorzubereiten.

Als es so weit war, schickten sie sich an aufzusitzen. Monito zog sich die Leinenschuhe aus und stieg barfuß in die Steigbügel, den Daumen wie die Indianer in der Zügelschlinge, während der Chino kurze, sehr hoch sitzende Steigbügel nach englischer Art benutzte, wodurch er halb über dem Pferd stand, beide Zügel in der behandschuhten Linken und mit der Rechten den Hals des Pferdes tätschelnd, während er ihm in einer fremden, gutturalen Sprache etwas ins Ohr flüsterte. Anschließend führte man sie nacheinander auf eine in den Boden eingelassene Maiswaage, und Monito musste noch etwas beschwert werden, denn dünn wie er war, fehlten ihm gute zwei Kilo im Vergleich zum Gewicht des Uruguayers.

Man einigte sich darauf, den Wettkampf mit fliegendem Start durchzuführen, bei einer Distanz von fünf cuadras, also knappen fünfhundert Metern, vom Schatten, den die Kasuarinen warfen, bis zum Erdwall über dem Flussbett nahe der Lagune. Am Zielstrich hatte einer der Helfer ein gelbes Sisalband gespannt, das in der Sonne wie Gold glänzte. Der Kommissar ging zum Start und machte den Reitern mit seinem Hut das Zeichen, ihre Positionen einzunehmen. Die Musik verstummte, erwartungsvolles Schweigen setzte ein, und nur das leise Murmeln derjenigen, die weiterhin Wetten annahmen, war zu vernehmen.

Die beiden Rennpferde trabten gemeinsam bei der Baumgruppe los. Es gab einen Fehlstart, und erst im zweiten Anlauf gelang es, die Pferde wieder auf eine Linie zu bewegen. Endlich kamen sie im leichten Galopp dahergeritten, ohne dass eines von ihnen davonzog, nahmen immer mehr Geschwindigkeit auf – meisterhaft Kopf an Kopf geritten –, und als sie auf gleicher Höhe waren, klatschte der Kommissar laut in die Hände und rief ihnen zu, dass der Start geglückt sei. Der Grauschimmel stürmte los und lag sofort mit einer Kopflänge vor dem Chino, der dicht, aber ohne sie zu berühren, über die Ohren seines Pferdes gebeugt ritt, die Peitsche noch immer unter die Achsel geklemmt, während der Monito mit der kurzen Reitgerte auf sein Pferd eindrosch und sie immer schneller wurden, wie ein einziger Blitz.

Ein gewaltiger Chor aus Jubelschreien und Schimpftiraden erfüllte die Luft. Auch nach dreihundert Metern lag Monito knapp in Führung, dann begann der Chino, den Rotbraunen anzuspornen und den Abstand zu verkürzen, bis sie Seite an Seite ritten, und als sie das Zielband durchtrennten, hatte Ledesmas Grauschimmel mit einer halben Kopflänge Vorsprung gewonnen.

Rasend vor Wut sprang der Chino vom Pferd und schrie, er sei beim Start benachteiligt worden.

»Der Start war einwandfrei«, erwiderte der Kommissar gelassen. »Der Mono hat gewonnen, wenn auch knapp.«

Ein heftiger Tumult brach aus, und inmitten des allgemeinen Durcheinanders begann der Chino mit Ledesma zu streiten. Zuerst warf er ihm Beleidigungen an den Kopf, dann wollte er ihn schlagen, doch Ledesma, der groß und schlank war, hielt ihn auf Distanz, indem er einfach seine Hand gegen die Stirn des kleinen Jockeys drückte, der wütend um sich schlug und trat, ohne einen Treffer landen zu können. Schließlich ging der Kommissar dazwischen, schrie die beiden an, und der Chino beruhigte sich allmählich wieder. Er klopfte seine Kleidung ab und sah Croce an.

»Ist das wahr, dass das Ihr Pferd ist?«, fragte er. »Das Pferd vom Kommissar schlägt hier niemand.«

»Von wegen Pferd des Kommissars«, antwortete Croce. »Wenn ihr verliert, sagt ihr, dass alles abgesprochen war, aber wenn ihr gewinnt, ist natürlich alles mit rechten Dingen zugegangen.«

Alle waren aufgebracht und stritten heftig miteinander, und die Wettgewinne waren noch immer nicht ausbezahlt worden. Die Schwestern hatten sich auf die Leinenstühle gestellt, um besser sehen zu können, was vor sich ging. Dabei stützten sie sich auf Duráns Schultern, der zwischen den beiden stand und lächelte. Der Großgrundbesitzer aus Luján wirkte gelassen, während er sein Pferd am Zaum festhielt.

»Ganz ruhig, Chino«, sagte er zu dem Jockey und wandte sich an Ledesma. »Der Start war nicht ganz einwandfrei. Mein Pferd ist kurz ins Straucheln gekommen, und Sie« – er schaute Croce an, der sich eine Toscano angezündet hatte und wütend an ihr sog – »haben das gesehen, aber trotzdem das Zeichen gegeben.«

»Und warum haben Sie das nicht gleich gesagt und ›Fehlstart‹ gerufen?«, fragte Ledesma.

»Weil ich ein Ehrenmann bin. Wenn man mich zum Verlierer erklärt, werde ich die Wetten auszahlen, aber mein Pferd bleibt unbesiegt.«

»Ich mach da nicht mit«, sagte der Jockey. »Ein Pferd hat seine Ehre und akzeptiert niemals eine ungerechte Niederlage.«

»Dieser Zwerg ist ja völlig verrückt«, bemerkte Ada verwundert. »Ein richtiger Sturkopf.«

Als hätte er sie trotz der großen Entfernung gehört, warf der Chino den Zwillingen einen dreisten Blick zu, erst der einen, dann der anderen, musterte sie hochmütig und eitel von oben bis unten und drehte sich sogar leicht in ihre Richtung, um sie direkt von vorne anblicken zu können. Ada grinste und machte mit Daumen und Zeigefinger ein provozierendes Zeichen in seine Richtung.

»Das Hähnchen muss erstmal krähen lernen«, sagte sie.

»Ich war noch nie mit einem Jockey zusammen«, bemerkte Sofía.

Der Jockey sah die beiden an und verbeugte sich in ihre Richtung. Dann ging er mit leicht wankendem Schritt, so als wäre ein Bein kürzer als das andere, die Reitpeitsche unter der Achsel, den kleinen Körper stolz aufgerichtet, zu einer Pumpe und hielt seinen Kopf unter den Wasserstrahl. Während er pumpte, betrachtete er Monito, der sich unter einen Baum gesetzt hatte.

»Du bist zu früh gestartet«, sagte er zu ihm.

»Und du redest zu viel«, antwortete ihm Monito, und sofort bauten sich die beiden voreinander auf, aber Schlimmeres geschah nicht, denn der Chino ging rückwärts zu seinem Rotbraunen und fing an, auf ihn einzureden und ihn zu streicheln, als wollte er ihn beruhigen, obwohl in Wirklichkeit er es war, der ziemlich aufgebracht war.

»Also gut, ich gebe mich geschlagen«, sagte der Großgrundbesitzer aus Luján, »aber ich habe nicht verloren. Die Wetten werden ausgezahlt, und das war’s.« Er sah Ledesma an. »Wir wiederholen das Rennen, wann immer Sie wollen, suchen Sie einen neutralen Ort aus. In Cañuelas gibt es nächsten Monat ein paar Rennen, falls Ihnen das zusagt.«

»Ich danke Ihnen«, sagte Ledesma.

Doch er nahm die Herausforderung nicht an, und ihre Pferde liefen nie wieder gegeneinander. Es heißt, die Schwestern hätten den alten Belladona überzeugen wollen, das Pferd aus Luján zu kaufen – einschließlich des Jockeys –, um das Rennen zu wiederholen, doch der Alte habe sich geweigert. Aber das sind nichts als Mutmaßungen.

Dann kam der März, und die Schwestern gingen nicht mehr zum Schwimmen ins Náutico. Jetzt erwartete sie Durán immer in der Bar des Hotels, oder er setzte sie am Ortseingang ab, fuhr an der Lagune entlang und machte eine Pause in der Ladenschänke der Madariagas, um sich einen Gin zu genehmigen. Zu jener Zeit interessierten ihn die Pferderennen schon nicht mehr, so als wäre er irgendwann bitter enttäuscht worden oder als benötigte er den Vorwand nicht mehr. Fast jede Nacht sah man ihn in der Hotelbar. Er hatte sich seine sympathische, vertraueneinflößende Art bewahrt, doch allmählich begann er sich immer mehr abzusondern. Die Vermutungen und Gerüchte, weshalb er in das Dorf gekommen war, nahmen eine andere Richtung, es hieß, man habe das und das gesehen oder habe ihn gesehen, er habe das und das gesagt oder jemand anderes habe das und das gesagt, und dabei senkte man die Stimme. Immer öfter konnte man ihn zerstreut im Dorf umherirren sehen, und offenbar schien er sich wohler zu fühlen, wenn Yoshio, der ihm gleichzeitig als persönlicher Gehilfe, Cicerone und Führer diente, an seiner Seite war. Der Japaner lenkte ihn in eine unvorhergesehene Richtung, die niemandem gefiel. Während der Siesta badeten sie nackt in der Lagune. Und mehr als einmal wurde Yoshio dabei beobachtet, wie er mit einem Handtuch am Ufer wartete und Durán kräftig den Körper abrubbelte, bevor er eine Decke unter den Weiden ausbreitete und ein Picknick herrichtete.

Manchmal standen die beiden schon im Morgengrauen auf und fuhren zum Angeln an die Lagune. Sie mieteten ein Ruderboot, warfen die Angelschnur aus und betrachteten den Sonnenaufgang. Tony war auf einer karibischen Insel aufgewachsen und die Lagunen, die sich mit ihren stillen Flussarmen und kleinen Inseln, auf denen Kühe grasten, im Süden der Provinz aneinanderreihten, ließen ihn schmunzeln. Doch ihm gefielen die leeren, weiten Ebenen, die man vom Boot aus sah, jenseits der sanften Wellen, die sich zwischen den Binsen auflösten. Ausgedehnte Felder, von der Sonne versengte Weiden und hin und wieder ein kleiner Tümpel zwischen den Baumgruppen und Wegen.

Zu der Zeit hatte sich die Legende um seine Person bereits gewandelt. Er war kein Don Juan mehr, kein Glücksritter, der reichen südamerikanischen Erbinnen nachstellte. Jetzt war er ein Reisender neuen Typs, ein Abenteurer, der schmutzige Geschäfte machte, ein kühler Ganove, der mithilfe seiner Eleganz und seines amerikanischen Passes Dollars durch den Zoll schmuggelte. Er besaß eine doppelte Persönlichkeit, zwei Gesichter, zwei Wesen. Es schien unmöglich, dass sich eine der Versionen erhärtete, denn sein rätselhaftes Leben sorgte immer wieder für neue Überraschungen. Er war ein verführerischer, extrovertierter Fremder, der viel erzählte, und gleichzeitig ein geheimnisvoller Mann mit einer dunklen Seite, jemand, der in den Bann der Belladonas geraten war und dem es nicht mehr gelang, sich aus diesem Strudel zu befreien.

Das ganze Dorf beteiligte sich daran, die unterschiedlichen Versionen anzupassen und ständig zu ergänzen. Die Motive und der Blickwinkel hatten sich geändert, nicht aber die Person. Die Begebenheiten waren nicht neu, nur die Art, sie zu betrachten. Es gab keine neuen Erkenntnisse, nur andere Interpretationen.

»Aber deshalb haben sie ihn nicht umgebracht«, bemerkte Madariaga und betrachtete den Kommissar im Spiegel, der noch immer nervös im Laden auf und ab ging, die Reitgerte in der Hand.

Ein Rest Abendlicht drang durch das Fenstergitter, hinter dem sich die weite Ebene in der Dämmerung auflöste, als wäre sie aus Wasser.

Sie saßen in Korbsesseln in der zum Garten hin offenen Galerie und unterhielten sich vom späten Nachmittag bis Mitternacht. Immer wieder stand Sofía Belladona auf und trat ins Haus, um neues Eis oder die nächste Flasche Weißwein zu holen. Auch von der Küche aus – oder während sie die Glastür durchschritt, oder während sie sich an das Gitter der Galerie lehnte – sprach sie weiter mit ihm, bevor sie sich wieder setzte und dabei ihre sonnengebräunten Oberschenkel sehen ließ, die weißen Sandalen, die den Blick auf ihre rot lackierten Fußnägel freigaben – die langen Beine, die zarten Knöchel, die perfekten Knie –, die Emilio Renzi versonnen betrachtete, während weiterhin die tiefe, ironische Stimme der jungen Frau ertönte, eine Stimme, die sich wie Musik in der Nacht entfernte und wieder näher kam, bis er sie mit einer Bemerkung unterbrach oder sie für einen Augenblick bat innezuhalten, um ein paar Worte oder einen Satz in seinem schwarzen Notizbuch festzuhalten, wie jemand, der mitten in der Nacht aufwacht und das Licht einschaltet, um ein Detail aus einem Traum, den er gerade eben geträumt hat, auf dem erstbesten Stück Papier zu notieren, in der Hoffnung, ihn sich am folgenden Tag wieder vollständig ins Gedächtnis rufen zu können.

Sofía hatte oft gespürt, dass die Geschichte ihrer Familie ein Teil des historischen Erbes der Gegend war – eine rätselhafte Geschichte, die das ganze Dorf kannte und sich immer wieder neu erzählte, aber nie vollständig zu deuten verstand –, und sie war auch nicht sonderlich beunruhigt wegen der vielen unterschiedlichen Versionen und Verfälschungen, denn schließlich bildeten sie einen Teil des Mythos, den sie und ihre Schwester – die beiden Antigones (oder Iphigenien?) dieser Legende – nicht erklären mussten (sie mussten sich »nicht dazu herablassen, ihn zu erklären«, wie sie immer sagte), doch jetzt, in all dem Durcheinander, das das Verbrechen nach sich gezogen hatte, war es möglicherweise angebracht, den Versuch zu unternehmen, die Ereignisse zu rekonstruieren oder »zu verstehen«. Familiengeschichten gleichen sich, hatte sie einmal gesagt, die Personen wiederholen und überlagern sich – es gibt immer einen durchgedrehten Onkel, eine Verliebte, die ihr Leben lang ledig bleibt, es gibt einen Verrückten, einen Ex-Alkoholiker, einen Cousin, der sich auf den Festen gerne als Frau verkleidet, einen Gescheiterten, einen Gewinner, einen Selbstmörder –, doch was die Sache in ihrem Fall komplizierter machte, war die Tatsache, dass sich die Familiengeschichte der Belladonas und die allgemeine Geschichte des Dorfes überlagerten.

»Mein Großvater hat das Dorf gegründet«, sagte sie verächtlich. »Als er ankam, gab es hier nichts außer karger Erde. Die Engländer haben den Bahnhof errichtet und ihn damit betraut.«

Ihr Großvater war in Italien geboren worden, hatte Ingenieurswissenschaften studiert und war Eisenbahntechniker geworden. Als er nach Argentinien kam, brachte man ihn in diese Einöde und ließ ihn mitten auf dem Land an einer Abzweigung stehen, einer Haltestelle, die in Wahrheit nur der Kreuzungspunkt zweier Bahnstrecken war.

»Manchmal glaube ich«, fuhr sie fort, »dass Tony nicht gestorben wäre, wenn mein Großvater in Turin geblieben wäre. Und wenn wir ihm nicht in Atlantic City über den Weg gelaufen wären oder er weiter bei seinen Großeltern in Río Piedras gelebt hätte, wäre er auch nicht getötet worden. Wie nennt man so etwas?«

»Man nennt es das Leben«, antwortete Renzi.

»Platsch!«,8 sagte sie. »Sei nicht so kitschig … Was ist los? Sie haben ihn ausgewählt, sie haben ihn getötet, genau an jenem Tag, genau zu jener Stunde, sie hatten nicht viele Gelegenheiten dazu, begreifst du? So viele Chancen, einen Mann wie ihn zu töten, bekommt man nicht.«

Ins Weiße zielen

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