Читать книгу Die Wächter der Teufelsbibel - Richard Dübell - Страница 11
1.
ОглавлениеDer Kaiser war tot, und mit ihm war all das gestorben, was an ihm menschlich gewesen war. All das Bizarre, Unverständliche, Monströse, all das Phantastische, Visionäre und Irrsinnige aber, das die Welt darüber hinaus mit seiner Person verbunden hatte, würde bleiben. Es würde in der Erinnerung an ihn konserviert sein für alle Zeiten – und es war hier konserviert, in seinem Reich, seiner Drachenhöhle, seinem Hort tief in den Eingeweiden der Burg auf dem Hradschin.
Sebastiàn de Mora, ehemaliger Hofnarr des toten Kaisers Rudolf, erschauerte. Er erwartete jeden Moment, dass der Geist des Toten um eine der Säulen in der Wunderkammer kommen würde.
„Heiliger Wenzel, was ist denn das?“, flüsterte einer der vermummten Mönche. Er hatte einen Behälter ein Stück weit aus einem Regal gezogen. Glas schimmerte im Licht der Laterne, die der Mönch hielt. Sebastiàn wusste, was es war, er kannte fast alle Sammlerstücke des verstorbenen Kaisers.
Konserviert, dachte er. Genau.
Hastig warf er einen Blick zu den anderen hinüber. Er hatte sich stets gefragt, ob Kaiser Rudolf eines Tages, wenn sein Hofnarr vor ihm sterben sollte, dafür sorgen würde, dass auch dessen Leichnam konserviert werden würde.
Die anderen waren nie hier hereingekommen, aber an ihren Mienen sah er, dass sich diese Frage nun auch ihnen unwillkürlich stellte. Die Bedrohung durch die Mönche, die Rapiere und Dolche in den Händen hielten, war nur zu greifbar; doch wenn man sah, was sich in diesen Regalen befand, und sein eigenes Spiegelbild kannte, dann drängte sich die Frage in den Vordergrund.
Der Mönch wich zurück. Das Glas rutschte aus dem Regal, fiel durch den Lichtschein und zerbarst auf dem Boden. Der Inhalt schwamm heraus und kam auf den Fliesen zu liegen. Ein Gestank von Alkohol und Fäulnis wallte auf.
„Herr im Himmel!“
Der Mönch sprang beiseite. Sebastiàns Leidensgenossen wandten den Blick von der bleichen, aufgedunsenen Gestalt auf dem Boden ab. Der Hofnarr holte tief Luft, obwohl der Geruch ihm in die Nase stach. Er hätte erklären können, dass in den Dutzenden von Gläsern in diesem Regal weitaus entsetzlichere Dinge konserviert waren als ein Säugling mit zwei Köpfen, die beide mit blinden Augen aus ihren halb zerfallenen Gesichtern starrten.
„Das nisst risstige Mönken seien“, flüsterte die Stimme von Brigitta. Er warf ihr einen Seitenblick zu; im Laternenlicht war ihr Antlitz eine Ansammlung von missgestalteten Schattenflächen, die beinahe Ähnlichkeit mit den grauen Gesichtern der Scheußlichkeit auf den Fliesen aufwiesen. Sie war als eine der Letzten an Rudolfs Hof gekommen, ein Geschenk des schwedischen Königs. Sie alle, wie sie hier standen, kleinwüchsige, krummbeinige, kurzgliedrige Wesen mit knolligen oder schiefen Gesichtszügen, hatte Kaiser Rudolf auf der halben bekannten Erdkugel zusammengesammelt.
„Man sollte das alles verbrennen, all diese grässlichen … Monstrositäten!“, stieß der falsche Mönch hervor, der das Glas aus dem Regal gekippt hatte. Sein Blick fiel auf die sechs Zwerge, die sich unwillkürlich zusammendrängten.
„Weiter“, sagte der Anführer der Mönche. „Wir vertrödeln nur Zeit.“
Sebastiàn führte sie tiefer in das Kuriositätenkabinett hinein. Er hatte keine andere Wahl. Er hatte auch keine andere Wahl gehabt, als das böse Spiel der Männer mitzuspielen, als sie plötzlich in dem einsamen Flur aufgetaucht waren, in den Sebastiàn sich zurückgezogen hatte, um Kaiser Rudolfs Tod beweinen zu können. Sie waren zu zweit gewesen. Zuerst hatte er sie für wirkliche Mönche gehalten, dann hatte er das Knallen der Stiefelabsätze gehört, einen Blick in die dunklen Kapuzen geworfen – und zu fliehen versucht. Der Anführer der Männer hatte ihn erwischt und mit einer Hand hochgehoben, ihm mit der anderen den Mund zugehalten; dann hatten sie ihn in eine der vielen Kammern geschleppt, und er hatte sich den anderen Hofzwergen gegenübergesehen und zwei weiteren Mönchen, die Sebastiàns Leidensgenossen mit gezückten Klingen in Schach gehalten hatten.
„Du weißt, wo der Kaiser die Teufelsbibel versteckt hält?“, hatte der Anführer ihm ins Ohr geflüstert. Sebastiàn hatte geschwiegen. Der Anführer hatte ihn geschüttelt. Sebastiàn hatte weiterhin geschwiegen und gefühlt, wie seine Blase vor Angst nachzugeben gedroht hatte. Der Anführer hatte eine kleine Kopfbewegung gemacht, und einer seiner Männer hatte den ihm zunächst stehenden Zwerg gepackt – es war zufällig Miguel gewesen, mit dem Sebastiàn schon am spanischen Königshof zusammen gewesen war – und mit dem Rapier ausgeholt.
Sebastiàn hatte wie wild genickt, halb erstickt vom eigenen trommelnden Herzschlag.
„In einer Truhe in der Wunderkammer, verschlossen mit einer Kette? Und den Schlüssel zur Truhe trägt der Kaiser am Leib?“
Resigniert hatte er ein weiteres Mal genickt.
„Der Kaiser liegt aufgebahrt auf seinem Bett. Glaubst du, du kommst an den Schlüssel ran, Toro?“ Die Stimme des Anführers hatte erregt geklungen. Dass er Sebastiàns Spitznamen kannte, wies ihn als Mitglied von Rudolfs Hofstaat aus. Die Stimme war Sebastiàn dennoch unbekannt gewesen.
Er hatte erneut genickt. Und dann war er losgegangen, hatte seine Aufgabe erfüllt, weil niemand auf die kleine, täppisch vorwärtsstapfende Gestalt geachtet hatte, die sich zum Bett des toten Kaisers vorgearbeitet hatte, während die Würdenträger und Hofbeamten alle in einer Ecke gestanden und flüsternd beratschlagt hatten. Danach war er in die kleine Kammer zurückgekehrt, wider alle Erwartungen hoffend, dass die verkleideten Männer ihn und seine Kameraden freilassen würden.
Die Gruppe blieb erneut stehen, als sie im letzten der Räume angelangt war. Hier hatte Rudolf all die Dinge gehortet, die ihn am meisten faszinierten. Bezoare, mit Gold überzogen, in Silber gefasst oder zu Kelchen umgearbeitet, lagen und standen in Regalen. Ein präparierter Hase mit einem Kopf und zwei Körpern, einer verkrüppelter als der andere, und ein zweiköpfiges Kalb starrten ihre Besucher mit Glasaugen an. Das Laternenlicht strich hastig über die Ausstellungsstücke. Ein äußerlich unscheinbarer Stock glitt aus den Schatten; der Kaiser war überzeugt davon gewesen, dass es sich um den originalen Stock Mosis handelte, so wie er auch geglaubt hatte, dass die lange, elfenbeinerne Spindel in ihrer opulenten Gold- und Juwelenfassung das Horn eines Einhorns gewesen sei. Mechanische Spielzeuge glitzerten matt; das Gewicht der vielen Menschen in der Kammer verschob ein paar Holzbohlen, die nicht ganz abgelaufene Feder eines der Automaten reagierte, und mit lautem Schnarren setzte sich eine metallene Diana auf einem ebenso metallenen Zentauren in Bewegung und rollte ein paar Zoll weit über den Boden. Einer der falschen Mönche fluchte.
Sebastiàn deutete auf einen Ring im Boden. Die Laterne beleuchtete die feinen Umrisse einer meisterlich eingepassten Falltür. Als sie geöffnet war, drangen die scharfen Dünste von Schwefel und Salpeter, der Staubgeruch von getrockneten Pilzen, Totenmoos und anderen Flechten, die Düfte von Rosenöl, Leinöl, Terpentin und Sandelholz nach oben, schwimmend auf einer undefinierbaren, kaum wahrnehmbaren Note von Heimlichkeit, Verstohlenheit und schwarzer Magie.
Sebastiàn und die anderen wurden gezwungen, die Leiter als Erste hinunterzusteigen. Er hörte, wie einer von den Männern die Luft durch die Zähne saugte. Er wollte es nicht, aber dann drehte er sich doch um.
Kaiser Rudolf hatte ein mächtiges Pult für die Teufelsbibel anfertigen lassen. Ein Eisenkäfig war darum herum angebracht, eine kurze Treppe wendelte sich zu ihm empor; es sah aus wie die Kanzel in einer Kirche, in der nicht Gott, sondern abseitigen Experimenten gehuldigt wurde. Sebastiàn erinnerte sich an die Gelegenheiten, bei denen er die Teufelsbibel auf dem Lesepult gesehen hatte: Das weiße Leder schien von sich aus zu schimmern, die metallenen Beschläge sahen darauf aus wie schwarze Tatzenspuren, das ebenfalls metallene Ornament in der Mitte des Deckels wirkte wie ein magischer Schlüssel zu einer Welt jenseits der Realität. Er hatte nie ein ähnlich großes oder gar noch größeres Buch gesehen. Für jemanden wie ihn, der sich auf Zehenspitzen stellen musste, um über eine Tischkante zu spähen, dräute sie auf dem Lesepult wie eine mächtige, schimmernde Klippe. Sebastiàn hörte das Dröhnen in seinen Ohren, das er immer hörte, wenn er hier war; es schien von der Teufelsbibel zu kommen, aber es war tatsächlich nur das Blut, das in seinem Schädel pochte.
„Leer“, sagte der Anführer der Mönche.
Sebastiàn wies zum Fuß der unheiligen Gebetskanzel, wo eine gewaltige Truhe stand. Ein Kettenschloss hing davor. Unaufgefordert watschelte er zur Truhe und sperrte das Schloss auf. Ein langer Arm fasste an ihm vorbei und öffnete den Deckel. Etwas leuchtete matt in der Finsternis des Truheninneren, Beschläge funkelten. Sebastiàn wurde schlecht.
„Gute Arbeit“, sagte der Anführer der Mönche. „Ihr könnt gehen, Zwerge.“
Noch im Umdrehen hörte Sebastiàn das metallene Geräusch, wie eine Sense, die ein zu dickes Büschel Gras mäht. Miguel stand vor Sebastiàn, und einen gähnenden Augenblick lang fragte Sebastiàn sich verwirrt, was anders an Miguel war als sonst, dann wusste er es. Miguels Beine knickten ein, soweit seine verkrüppelten, steifen Gelenke es zuließen, dann fiel er seitlich um wie eine Holzpuppe. Aus dem Halsstumpf schoss ein langer, schwarzer Strahl Blut. Miguels Kopf kam am Fuß des Pults zur Ruhe.
Stille.
Einen Wimpernschlag lang herrschte Stille, einen Wimpernschlag lang, der sich bis in die Ewigkeit ausdehnte.
Miguels Blut prasselte auf den Steinboden nieder wie ein Regenschauer.
Dann begann Brigitta zu kreischen, und die Stille zerstob in panisch wirbelnder Bewegung.
Fünf kleine, stämmige Gestalten rannten kopflos im Labor umher. Die falschen Mönche fluchten und schwangen die Klingen, aber die Todesangst machte die kurzen Beine wieselflink, und das zum Bersten mit Tischen, Bänken und Trögen vollgestopfte Labor hinderte die großen Männer daran, ihren Vorteil auszuspielen. Ein Rapier zuckte einem Flüchtling hinterher, schlug aber in die Kante eines Tisches statt in dessen Rücken. Die Phiolen und Kolben darauf klirrten und tanzten, fielen herunter und zerplatzten, als der Besitzer des Rapiers hastig versuchte, es aus dem Holz zerren. Funken sprühten auf, als eine andere Klinge über einen Steintrog schrammte und die bunte Gestalt, die hineingekrabbelt war, verfehlte. Brigitta kreischte wie von Sinnen, während sie unter Tischen hindurchschlüpfte und mit wedelnden Ärmchen versuchte, die Leiter zu erreichen. Jemand rannte in vollem Lauf gegen das Pult mit der Teufelsbibel, prallte zurück und fiel zu Boden, und ein Rapier zuckte an der Stelle durch die Luft, wo eben noch ein fliehender Zwerg gestanden hatte.
„Macht die Missgeburten fertig!“, schrie der Anführer der Mönche, stolperte über den kopflosen Leib Miguels und fiel gegen die Truhe. Seine Kapuze rutschte zurück, und Sebastiàn, der wie erstarrt inmitten des Chaos stand, sah ein von einem schwarzen Kopf- und Halstuch verhülltes Gesicht, in dem nur die Augen nicht vermummt waren. Ebendiese Augen starrten auf das weiße Leder der Teufelsbibel, nur eine Handbreit entfernt. Sebastiàn sah Gier und Angst gleichermaßen in ihnen, dann wurden sie blind vor Zorn. Der falsche Mönch fuhr herum und trat gegen Miguels Körper, so dass dieser unter einen Labortisch rutschte. Er hob das Schwert und machte einen riesigen Schritt auf Sebastiàn zu, doch jemand – Hänschen, Sebastiàn war sicher, es war Hänschen, der so dick war, dass er bei einer Aufführung einmal in dem Drahtkorb unter der Pastete steckengeblieben war, aus der er hätte herausspringen sollen – warf sich gegen die Beine des Mannes und brachte ihn zum Wanken. Eine Stiefelsohle glitt in Miguels Blut aus, und der falsche Mönch stürzte zusammen mit einem Tisch zu Boden, eine Explosion aus Glasscherben, vielfarbigen Flüssigkeiten, Pulvern und magischen Kristallen auslösend. Hänschen taumelte in die andere Richtung und entging dadurch einem Klingenstoß, der einen Ledersack durchbohrte. Feinster Rotwein, den Rudolf zur Waschung von Erdwürmern verwendet hatte, spritzte in hohem Bogen heraus.
Sebastiàn erwachte aus seiner Erstarrung und sprang zurück. Seine Blicke hefteten sich auf das Licht der Laterne auf einem Tisch. Wenn er sie löschen könnte, wäre es stockdunkel im Labor; dann wäre die Größe und Stärke der vier Männer ihnen kein Vorteil mehr. Er sah, dass Brigitta sich auf die Leiter gerettet hatte und bereits halb nach oben geklettert war, aber ein kuttenverhüllter Arm streckte sich nach ihr aus. Er sah, dass Hänschen versucht hatte, einem der Angreifer zwischen den Beinen hindurchzuschlüpfen, und es nicht geschafft hatte und eben hervorgezerrt wurde; er sah die beiden anderen Zwerge, die sich in die entfernteste Ecke geflüchtet hatten und sich dort gegenseitig umklammert hielten, gelähmt wie in die Enge getriebene Kaninchen … Wenn es ihm gelang, die Laterne zu erreichen, konnte er seine Kameraden retten.
Er ließ sich gegen den Tisch fallen, auf dem sie stand. Sie schwankte. Seine Ärmchen waren zu kurz; er konnte sie nicht erreichen. In blinder Panik stemmte er sich gegen die Tischplatte, hob den Tisch fast hoch und knickte dann unter ihm ein, aber der Aufprall der Tischbeine auf dem Boden ließ die Laterne tanzen, sie tanzte auf Sebastiàn zu, drohte, von der Kante zu fallen, er kriegte sie zu fassen, verbrannte sich die Finger, warf sich herum, um sie zu Boden zu schmettern …
… und die Szene stand eingefroren vor seinen Augen und würde es für den Rest seines Lebens bleiben: Brigitta, die der lange Arm in der dunklen Kutte von der Leiter gefegt hatte und die gegen eine Wand flog in einem Aufprall, der alle Knochen in ihrem Leib brechen ließ. Ihr Kreischen verstummte. Hänschen, der mit Armen und Beinen zappelnd auf dem Rücken lag und den Mann anstierte, der über ihm stand und das Schwert in seinen dicken Leib trieb. Die beiden in der Ecke, einander immer noch umklammernd, aber jetzt zu Boden gesunken und still liegend, während der Anführer der Mönche sich von ihnen abwandte und das Blut von seiner Schwertklinge troff.
Die Lampe zerplatzte. Plötzliche absolute Dunkelheit, das Tropfen von Flüssigkeiten, das Geräusch von Scherben, die langsam tanzend zum Stillstand kamen, das Knarren von Holz. Ein blubberndes, lang gezogenes Ächzen, das aus Hänschens Mund gekommen sein musste. Ein gezischter Fluch. Das Stolpern von Stiefeln und ein lauterer Fluch. Jemand, der sagte: „He?“, als wäre alles ein Spiel und einer hätte versehentlich die Kerze ausgeblasen. Dann Stille. Und Sebastiàn, der an der Stelle stand, an der er die Lampe zerschmettert hatte, bewegungslos, atemlos, blutlos, keines Gedankens fähig, halb irre vor Entsetzen.
„Das hat man überall gehört“, sagte eine Stimme.
„Hauen wir ab.“
„Toro?“ Es war die Stimme des Anführers. Sebastiàn erschauerte von Kopf bis Fuß. „Nicht schlecht, Toro!“
„Lass uns abhauen, Henyk! Jeden Moment werden die Palastwachen hier sein.“
„Toro?“
Sebastiàn hielt den Atem an.
„Lass die kleine Missgeburt. Hier, ich hab die Leiter gefunden.“
Sebastiàn hörte förmlich das Zögern des Anführers.
„Na gut, na gut. Wir sehen uns wieder, Toro! Los, schnappen wir uns das Ding und verschwinden wir, solange es noch geht.“
Die nächsten Minuten – Stunden? Tage? Jahrhunderte? – waren angefüllt von Ächzen, Fluchen, Herumtappen und Sebastiàns vorsichtigem Kriechen über Glasscherben, stinkende Flüssigkeiten und durch die Finsternis, bis er unter einem der umgefallenen Tische lag, sicher vor einem versehentlichen Tritt, der seine Position verraten hätte. Er hörte die Diebe, wie sie zu viert die Truhe, die zusammen mit dem Buch so viel wiegen musste wie zwei erwachsene Männer, die Leiter hinaufwuchteten; er hörte die Schritte über sich, wie sie schnell in Richtung Ausgang verschwanden. Er wusste nicht, wie lange er noch so dagelegen hatte, als alles wieder verhältnismäßig still war und er seinen Beinen den Befehl gab aufzustehen, während sie sich weigerten. Schließlich kroch er die Leiter empor; seine Haut kribbelte bei dem Gedanken, dass sie ihn hereingelegt hatten und oben bei der Falltür auf ihn warteten, doch nichts geschah. Er torkelte durch das Kuriositätenkabinett, von seinem Instinkt durch die Finsternis gelenkt; als er dachte, er müsse bei den Regalen mit den missgestalteten Fehlgeburten angelangt sein, roch er auch schon den Alkohol und spürte die Konservierungsflüssigkeit um seine Schuhe herum aufspritzen.
Dann flog die Tür auf, Lichtschein drang herein, und ein weiterer Instinkt ließ Sebastiàn hinter das nächste Regal huschen.
„Los, mehr Licht!“
Eine Handvoll Männer drang in das erste Gewölbe. Rüstungen schimmerten. Sebastiàn kroch tiefer in das Regal hinein. Das Licht näherte sich, während die Gruppe die Gewölbe durchquerte. Auch sie hatte einen Anführer, einen Mann mit einem langen, dunklen Mantel. Die Soldaten folgten ihm.
„Mein Gott, was ist das da vorn?“
„Heilige Maria …!“
„Eine Missgeburt“, sagte die erste Stimme und hörte sich krank an. Sebastiàn kannte sie nicht – dafür wurde ihm plötzlich klar, was der knöchellange Mantel tatsächlich war: die Soutane eines Pfarrers. „Seine Majestät hat sie gesammelt. Ich glaube, hier gibt es Dutzende davon.“
„Heilige Maria …“
„Wo ist das geheime Labor?“
„Unterhalb der letzten Kammer, Ehrwürden.“
Das Licht glitt an Sebastiàns Versteck vorbei. Sein Blick fiel auf einen schmuckvoll gefassten Pokal direkt vor ihm. Ein Gesicht starrte ihn aus dem Pokal heraus teilnahmslos an, schwerlidrige Augen, eine breite Nase, wulstige Lippen, ein Kopf, der auf keinem Hals saß und oberhalb der Augen einfach abgeflacht war wie ein Brett. Das Licht verschwand im Kuriositätenkabinett. Sebastian hörte die überraschten oder angeekelten Ausrufe der Wachen und dann die plötzliche, schockierte Stille, als sie die Falltür entdeckt und mit ihren Lampen hinuntergeleuchtet hatten. Er kroch aus seinem Versteck heraus und rannte zum Ausgang des Kuriositätenkabinetts, so schnell er konnte, merkte nicht, dass ihm die Tränen über die Wangen liefen und dass sein Mund versuchte, Worte zu rufen, die seine verformte Kehle niemals würde hervorbringen können, die sich wie ein dumpfes Muhen anhörten und der andere Grund waren, der ihm seinen Spitznamen eingebracht hatte.
Er lief in den Gang hinaus, rannte an die gegenüberliegende Wand, rutschte an ihr zu Boden und schluchzte. Durch die Tränen in den Augen sah er eine Gestalt in gelb-rotem Gewand eilig herankommen, sah einen breitkrempigen Hut mit langen Federn in denselben Farben darüber wippen. Es war ihm egal, dass der Mann ihn auf dem Boden liegen und weinen sah; das Entsetzen über das, was er gesehen und mit knapper Not überlebt hatte, überdeckte alle anderen Gefühle. Er krümmte sich zusammen und wünschte sich, nicht mehr am Leben zu sein.
Plötzlich fühlte er sich hochgehoben; er starrte in ein hübsches Jungengesicht über den Flammenfarben des Gewandes, sah es lächeln.
„Leb wohl, Toro“, sagte das Gesicht, und falls das Entsetzen in Sebastiàns Seele noch größer werden konnte, dann war die Stimme daran schuld. Er kannte sie. Wenige Augenblicke vorher hatte er sie sagen hören: „Macht die Missgeburten fertig!“
Der junge Mann mit dem flammenfarbenen Gewand hielt ihn mühelos mit einer Hand in die Höhe. Sebastiàn schlug mit seinen kleinen Fäusten gegen den Arm, an dem er hing. Es war, als kämpfe ein Schmetterling mit seinem Flügelschlag gegen einen Löwen. Er hörte das Geräusch des Fensters, als sein Gegner es mit der freien Hand öffnete, fühlte die Januarkälte hereindringen. Er hörte sich ächzen …
… dann war er auf einmal schwerelos. Ein Teil seines Wesens fühlte, wie lächerlich die Erinnerung in diesem Augenblick war, die Erinnerung an einen warmen Sommertag, die erhitzten Gesichter, die auf ihn zukamen und sich von ihm wegbewegten, die Decke, die sich spannte und ihn in die Höhe schleuderte, die ihn weich in Empfang nahm, als er wieder nach unten stürzte, nur um ihn von Neuem nach oben zu katapultieren … das Lachen und Kreischen der Hofdamen, die an der Decke ruckten … die kleinen Flügel, die man ihm auf den Rücken geschnallt hatte und die sich in Federgestöber auflösten, während er auf und ab flog, so dass er in einem weichen, warmen Schneegestöber zu taumeln schien … das knielange Hemdchen, das sein einziges Kleidungsstück war und das ihm bei jedem neuen Emporschnellen bis zu den Achseln hochrutschte, zum johlenden Vergnügen der Hofdamen … ein lebender, drei Fuß großer Puttenengel mit feschem schwarzen Schnauz- und Kinnbart und einem Gehänge, das an einem normal großen Mann schon mächtig gewesen wäre und das den ersten Grund für seinen Spitznamen darstellte … das Gelächter ringsherum und die Angst, dass ihn die kreischenden Weiber danebenstürzen ließen, vermischt mit der Erregung, wieder und wieder hochgeschleudert zu werden, zu fliegen …
Er hörte Gebrüll und wunderte sich über den Lärm, bis er merkte, dass er ihn selbst verursachte. Überrascht erkannte er, dass er tatsächlich nichts so sehr wollte wie leben! Er vernahm die Stimme seiner Mutter, die sagte: „Mein kleiner, kleiner Glücksstern!“, und ihn an sich drückte, während Tränen ihre Wangen hinunterliefen und er sich wunderte, worüber sie traurig war, er war doch gesund ...
Er hörte den Wind brausen.
Ein winziger Mann, der dem Tod entgegenstürzte.