Читать книгу Der Medicus aus Thamm - Richard Fuhrmeister - Страница 7
ОглавлениеAm Morgen des 24. Februar 1812 umarmte der Schultheiß Adam Groß im württembergischen Thamm seinen einzigen Sohn und wünschte ihm Gottes Segen. Ernst dankte Christoph dem Vater, wandte sich dann den jüngeren Schwestern Wilhelmine und Charlotte zu, zog sie an sich und küsste sie. Die Stiefmutter, des Schultheißen zweite Frau, stand regungslos in der Tür. Plötzlich eilte sie mit wenigen Schritten zur Hofmitte auf Christoph zu, umfasste mit beiden Händen seinen rechten Arm, drückte ihn kurz, wobei sie ihm nur flüchtig ins Gesicht sah, und sagte leise: „Leb wohl!“ Dann ging sie ebenso schnell ins Haus zurück.
Christoph, verwundert über ihr Verhalten und den so endgültig klingenden Abschiedsgruß, zögerte kurz, fasste sich aber schnell und stieg auf seinen ungeduldig schnaubenden, bereits gesattelten Grauschimmel. Langsam ritt er zum Hoftor hinaus. Vater und Schwestern folgten ihm auf die hartgefrorene Dorfstraße. Mehrmals drehte sich Christoph im Sattel um und hob den Arm. Stumm winkten ihm der Vater und Wilhelmine nach, während die kleine Charlotte immer wieder die Arme hochwarf und fröhlich rief: „Ade, Christoph, ade!“
Der so ernst und heiter zugleich Verabschiedete trieb den Wallach durch Zuruf und Schenkeldruck zu schnellerer Gangart und war binnen Kurzem den Blicken der Zurückbleibenden entzogen.
Über reifbedeckte Stoppelfelder und Wiesen führte der Weg den Reiter nach Süden. Noch am Vormittag wollte er das Garnisonshospital in Stuttgart erreichen, um am nächsten Tag nach zweijähriger Beurlaubung wieder seinen Dienst als Bataillonsarzt anzutreten.
Der frostige Wintermorgen verjagte schon bald Christophs Benommenheit, Folge des gestrigen Abends, als er mit zwei
Freunden im „Ochsen“ beim Wein gesessen und Abschied genommen hatte.
„Na, Christoph, schickt dich unser König wieder in den Krieg?“, hatte der als Dorfschullehrer vom Militärdienst befreite rothaarige Frieder gespöttelt.
Christoph zeigte wortlos mit dem Kopf auf den Fremden ein paar Tische weiter, der sich uninteressiert und gleichgültig gab, seine Neugier aber nicht völlig verbergen konnte.
Frieder verstand. Man musste vorsichtig sein, die Spitzel des Königs waren überall. Ludwig, der Dritte in der Freundesrunde und nicht mehr kriegstauglich - eine preußische Musketenkugel hatte ihm fünf Jahre zuvor bei Glatz den linken Unterarm zerschmettert - hatte Christophs zur Vorsicht mahnende Kopfbewegung ebenfalls verstanden.
„Bist du jetzt fertig mit deinem Medizinstudium, Christoph?“, fragte er, Unwissenheit vortäuschend.
Der Befragte weilte, von Tübingen zurückgekehrt, schon seit einer Woche im Ort und alle wussten, dass er sein Studium vor Kurzem abgeschlossen hatte.
„Ja, endlich. Hat lange genug gedauert.“
„Das war aber nicht deine Schuld. Du musstest ja zwischendurch immer wieder unterbrechen und mit in den Krieg ziehen.“
Der Fremde sah von seinem Glas auf. Hoffte er auf eine weitere unbedachte Äußerung?
Aber die Freunde waren vorsichtig geworden und unterhielten sich nur noch über unverfängliche, belanglose Dinge. Frieder erzählte lustige Begebenheiten aus seinem Schulalltag, die selbst den sonst griesgrämigen Wirt zum Lachen zwangen.
Es dauerte nicht lange und der schweigsame Gast rief nach dem Wirt, bezahlte seine Zeche, erhob sich, zog seinen langen, schwarzen Mantel an, setzte seinen breitkrempigen, ebenfalls schwarzen Hut auf, brummte, jetzt durch Größe und Kleidung bedrohlich wirkend, einen unverständlichen Abschiedsgruß und verließ die Gaststube.
Die Freunde blickten einander an, schwiegen gerade so lange, wie sie annahmen, dass der Fremde sich weit genug vom Gasthaus entfernt hätte. Der Wirt trat sogar auf die Straße hinaus, um sich zu vergewissern. Gleich darauf kam er nickend zurück.
„Er ist weg.“
Frieder, der sich nicht länger beherrschen konnte, prustete los:
„Wenn das kein Spitzel war! Aber wir haben ihn wohl enttäuscht. Hat sich für ihn nicht gelohnt, hier rumzusitzen und lange Ohren zu machen.“
„Wenn es ein Spitzel war.“, wandte Wilhelm, der Wirt, ein. „Ich glaub’s nicht. Zu mir hat er gesagt, dass er auf der Durchreise ist und beim Pfarrer übernachtet, den er von früher kennt.“
„Na, verdächtig sah er schon aus. Und finster geguckt hat er auch.“, beharrte Frieder.
„Ach, ist doch egal.“, meinte Ludwig. „Zerbrechen wir uns nicht den Kopf. Von uns hat er jedenfalls nichts gehört, was man uns anlasten könnte.“
Nach kurzer Pause fügte er hinzu:
„Außer vielleicht deine Bemerkung, Frieder, zu Christoph über den König. Die war nicht ganz ungefährlich. Berechtigt war sie ja schon.“
„Und wie berechtigt sie war!“, erhob Frieder die Stimme. „Christoph hätte wirklich schon viel früher mit dem Studium fertig sein können, wenn er nicht immer wieder hätte einrücken müssen.“
Jetzt schaltete sich Christoph ein:
„Warum hätte es mir besser als anderen ergehen sollen? War nur schade, dass ich gleich zu Beginn meines Studiums einrücken musste.“
Er war damals achtzehn und hatte noch kein halbes Jahr in Tübingen studiert, als der Befehl kam. Es lag nahe, dass er als Student der Medizin dem Sanitätsdienst zugeteilt wurde.
Glück im Unglück, dachte er später oft. Als kämpfender Soldat hätte er auf andere Menschen schießen oder mit dem Bajonett einstechen, sie töten müssen oder aber, und die Wahrscheinlichkeit war groß, hätte selbst den Tod gefunden.
Ihm musste niemand sagen, auch wenn er nie selbst gekämpft hatte, was es bedeutete, Soldat zu sein. Er hatte Hunderte in der Schlacht Verwundete gesehen, ihr Stöhnen und Schreien gehört, war oft verzweifelt, weil er jenen nicht helfen konnte, die den Tod erflehten, der sie von unerträglichen Schmerzen erlöste.
Der Wunsch, Arzt zu werden, anderen zu helfen, war früh in ihm gereift. Oft hatte er, schon in der späten Kindheit und in seiner Jugend, den Vater begleiten dürfen, wenn dieser als ausgebildeter Chirurgus im Dorf oder in der näheren Umgebung Kranke besuchte, sie zur Ader ließ, schröpfte, Wunden versorgte, Zähne zog, gebrochene Arme oder Beine schiente, im schlimmsten Fall unrettbare Gliedmaßen amputierte. Er hatte den Vater stets bewundert, wollte es ihm später gleichtun. Und der Vater übertrug Christoph, dessen Interesse an seinem Tun erfreut wahrnehmend und seine wohl ererbte Geschicklichkeit erkennend, zuerst kleinere, dann mit den Jahren schwierigere Aufgaben, die Christoph mühelos bewältigte. Aufgefallen war dem Vater auch immer wieder Christophs freundliche, beruhigende Art, die den Patienten die Angst nahm und ihnen die Zuversicht, wenn nicht die Gewissheit auf Heilung gab.
So wurde bald klar, dass Christoph nach dem erfolgreichen Besuch der Ludwigsburger Lateinschule Medizin studieren würde. Der Vater unterstützte ihn in diesem Wunsch, auch wenn die Kosten für das Studium nicht unerheblich erschienen. Mag sein, dass er selbst gern Arzt geworden wäre, die Umstände aber, nicht die fehlende Begabung, dies verhindert hatten. Bedauert hatte er das nie. Auch als Chirurgus auf dem Land durfte er alle notwendigen medizinischen Behandlungen durchführen, die in der Stadt meist von den studierten Medici übernommen wurden, deren Honorare nur die Wohlhabenderen zahlen konnten.
Frieder, vom Wein erhitzt und nach dem Verschwinden des Fremden nichts mehr befürchtend, begann aufs Neue:
„Das könnt ihr doch nicht abstreiten: Seit Napoleon unseren dicken Friedrich zum König gemacht hat, müssen unsere Soldaten immer wieder mit den Franzosen in den Krieg ziehen. Du, Ludwig, weißt das doch am besten. Hast deinen Arm verloren, als es gegen die Preußen ging. Hättest leicht noch mehr verlieren können. Du weißt, was ich meine.“
Ludwig, wie immer zurückhaltend und wortkarg, nickte nur.
„Und du, Christoph, du musst es ja noch besser wissen. Du hast all das Elend gesehen, die vielen Toten und Verwundeten nach jeder Schlacht.“
Auch Christoph erwiderte nichts.
Frieder betrachtete dies als Zustimmung, was seinen Eifer noch steigerte und ihn jegliche Vorsicht vergessen ließ. Warum sollte er auch vorsichtig sein? Von den Freunden drohte keine Gefahr und vom Wirt wusste er, dass er nur scheinbar ein ergebener Untertan seines Königs war, sich Vertrauten gegenüber aber kritisch über den machtbesessenen, ungeliebten Landesherrn äußerte.
„Jetzt haben wir zwar einen König und leben in einem Königreich, aber was haben wir davon, wir einfachen Leute? Immer mehr Abgaben und Steuern, damit Friedrich in immer größerem Prunk und Pomp residieren kann. Und damit er Napoleon immer mehr Soldaten zur Verfügung stellen kann.“
Er musste Luft holen.
„Und immer wieder ziehen ganze Regimenter hier durch und werden im Ort einquartiert. Ihr wisst, was das heißt. Die Soldaten, besonders die Herren Offiziere wollen verpflegt werden. Trinken unseren Wein weg. Für ihre Pferde verlangen sie Heu und Hafer. Die Bauern müssen ihre Gäule und Ochsen für Gespanne ausleihen, die sie auch noch selber führen müssen. Und oft nimmt man ihnen ihre Zugtiere sogar ganz weg.“
Jetzt unterbrach Christoph Frieders Redefluss:
„Du hast ja Recht, Frieder. Aber was du da an Beispielen bringst, das haben wir doch schon alles erlebt, bevor Friedrich König von Napoleons Gnaden wurde. Vor den Franzosen zogen schon die Österreicher bei uns durch und ließen es sich gut gehen auf unsere Kosten. Und das nicht nur einmal.“
Seit nun zwanzig Jahren wurde Thamm immer wieder von durchziehenden Soldaten heimgesucht. Christoph, damals erst fünf Jahre alt, erinnerte sich noch gut daran, wie er zum ersten Mal Fremde, eine Schwadron österreichischer Dragoner, ins Dorf einreiten sah. An der Hand des Vaters stand er, halb ängstlich, halb neugierig, vor dem Haus, starrte auf die Reiter hoch über ihm, die nur mit Mühe ihre unruhig tänzelnden Pferde in Zaum halten konnten.
Vier Jahre später, im Sommer 1796, besetzten Franzosen das von den vertriebenen Österreichern geräumte Herzogtum Württemberg. Trotz eines für vier Millionen Gulden teuer erkauften Waffenstillstands führten sich die französischen Soldaten wie Eroberer auf. Auch Thamm hatte erheblich darunter zu leiden. Ein ganzes Korps lagerte dort wochenlang auf den Feldern und richtete großen Schaden an.
Im Herbst desselben Jahres verjagten die Österreicher die Franzosen wieder aus der Thammer Gegend und erzwangen neben vielen anderen Leistungen die Lieferung von großen Mengen Brot, Mehl, Hafer und Heu an ihr Magazin im badischen Karlsruhe. Fast immer waren Thammer Bauern mit ihren Gespannen unterwegs, um die nicht endenden Forderungen der Besatzer zu erfüllen, einmal sogar, diesmal wieder für die Franzosen, bis ins weit entfernte Straßburg. Oft tagelang, manchmal für mehrere Wochen sahen sie ihre Familien nicht und mussten ihre Felder, Äcker und Wiesen vernachlässigen.
Lange noch erzürnten sich die Freunde über zahllose weitere durch die ausländischen Besatzer aufgezwungenen Lasten, die besonders die Bauern, aber ebenso die restliche Bevölkerung zu ertragen hatten. Auch ihren König, der seine Untertanen durch ständig neue Steuern und Abgaben auspresste, verschonten die empörten Zecher nicht.
Jetzt schritt der Wirt ein, der fürchtete, dass trotz der späten Stunde ein draußen Vorbeigehender die immer lauter schimpfenden Gäste hören könnte. Es geschah zwar selten, dass jemand aus dem Dorf einen anderen an die Obrigkeit verriet. Zu sehr litten alle unter der Bürde der ständigen Kriege und der Willkür ihres Herrschers.
„So, meine Lieben, Schluss für heute!“
„Aber Wilhelm, sei doch nicht so hart! Schenk halt nochmal ein!“ bettelte Frieder. „Wir sehen unseren Christoph doch für lange Zeit nicht mehr. Wer weiß, ob er ...“
Schnell brach er ab, stammelte dann nach kurzem Schweigen verlegen:
„Ich...ich...wollte nur sagen, dass du vielleicht eine weite Reise vor dir hast, Christoph, und deshalb lange fort sein wirst. Genau weiß man es ja nicht, aber es heißt, Napoleon will einen Krieg mit Russland. Russland ist nicht Österreich oder Preußen, sondern weit, weit weg. So weit weg warst du noch nie in deinem Leben, Christoph.“
Der Wirt hatte sich erweichen lassen und nachgeschenkt.
„Ich weiß, Frieder.“, erwiderte Christoph.„Ich weiß auch, was du sagen wolltest. Einen Krieg mit Russland zu beginnen und ihn sehr wahrscheinlich auch noch auf russischem Boden auszutragen, ist ein großes Wagnis. Keiner weiß, ob und wann er von dort zurückkommt. Mit den bisherigen Kriegszügen gegen Österreich oder Preußen, zu denen uns Napoleon gezwungen hat, kann man das nicht vergleichen. Das wissen alle. Und glaub mir, Frieder, kaum einer zieht gern in diesen Krieg. Außer vielleicht ein paar junge Offiziere, die sich im Kampf bewähren möchten und nach Ruhm und Ehre streben. Und meinst du nicht auch, ich würde tausendmal lieber Dienst im Garnisonshospital in Stuttgart tun als an einem so waghalsigen Unterfangen teilzunehmen?“
Frieder, der seine unbedachte Äußerung sofort bereut hatte, wollte seinen Fehler wettmachen und erhob sein frisch gefülltes Glas:
„Christoph, ich wünsche dir von ganzem Herzen, dass du heil zurückkommst. Egal, wo es hingeht. “
Ludwig und der Wirt schlossen sich Frieders in feierlichem Ernst vorgebrachten Wunsch an.
Bis Mitternacht noch redeten die Freunde, mal hitzig aufgebracht, mal bekümmert, über Christophs nahenden Abschied von der Heimat, über das ferne Russland und den langen Marsch dorthin, über die Gegner Napoleon und Zar Alexander, stritten heftig über die Schuldfrage am offenbar unvermeidlichen Kriegsausbruch, verurteilten die Unnachgiebigkeit Napoleons gegenüber dem Zaren.
„Nur weil Napoleon die Engländer mit seiner Kontinentalsperre in die Knie zwingen will, soll sich Russland wie die anderen europäischen Länder auch daran halten und seine Häfen für englische Schiffe sperren.“, schimpfte Frieder. „Und umgekehrt soll Russland keine Güter an England liefern dürfen. Vor allem kein Holz für den Schiffbau.“
„Die Niederlage der französischen Flotte in der Schlacht von Trafalgar hat Napoleon nie verwunden. Danach musste er den Briten endgültig die Seeherrschaft überlassen.“, fügte Ludwig hinzu. „Und er will auf jeden Fall verhindern, dass sie noch mehr Schiffe bauen.“
„Und seinen Plan, den Kanal zu überqueren und mit seiner Streitmacht in England zu landen, musste er auch aufgeben, nachdem Frankreichs Flotte ausgeschaltet war.“
„Dass Russland sich nicht mehr an die Kontinentalsperre halten will, weil sie seine Wirtschaft schwächt, ist verständlich.“ meinte Christoph. „Das sollte Napoleon einsehen.“
„Aber das tut er nicht. Er riskiert lieber einen Krieg als sich mit dem Zaren zu verständigen.“, erzürnte sich Frieder. „Und wir müssen es ausbaden. Ich will mir gar nicht vorstellen, wie viele unserer Soldaten deshalb dran glauben müssen.“
Immer wieder kamen sie auf ihren ungeliebten, aber auch unglückseligen König zurück, dem keine andere Wahl blieb, als das Schicksal seiner Soldaten in die Hände des Franzosenkaisers zu legen, beklagten vor allem den, wie sie glaubten, aussichtslosen bevorstehenden Krieg, den die Grande Armée trotz ihres gewaltigen, niemals zuvor gesehenen Aufgebots an Menschen und Waffen nicht gewinnen konnte.
***
An all das dachte Christoph während seines Ritts nach Stuttgart. Kaum hatte er Thamm hinter sich gelassen, erhob sich zu seiner Linken, noch halb vom Morgennebel verhüllt, wie drohend der Hohenasperg. Christoph fröstelte bei dem Gedanken an das gefürchtete Gefängnis, dem die Inhaftierten so bezeichnende Namen wie Tränenberg, Höllenberg oder Jammerbuckel gegeben hatten. Der Dichter Christian Schubart war dort auf Geheiß des Herzogs Karl Eugen zehn Jahre eingekerkert gewesen, ohne Urteil und ohne den Grund für die Haft zu erfahren. In einem Brief an seinen Bruder schilderte Schubart sein unvorstellbares Leid: „Gefangenschaft ist Hölle. Einsamkeit, gähnende Langeweile, Frost, Hunger, Höllenangst, stechende Sehnsucht nach Weib und Kind, Erniedrigung aller Art, Schlaflosigkeit in langen Schauernächten, rastloses Wälzen auf einem faulen Strohlager sind die Furien, die mich dicht an den Rand der Verzweiflung geißeln.“ Friedrich Schiller, damals noch junger Militärarzt im Stuttgarter Garnisonshospital, hatte Schubart Ende 1781 an jenem elenden Ort besuchen dürfen und war betroffen von dort zurückgekehrt. Hätten ihn knapp ein Jahr später die Häscher Karl Eugens bei seiner Flucht aus Württemberg gefasst, wäre sicher auch er zur Festungshaft auf dem Schreckensberg verurteilt worden. Ob er dort seine großen Werke geschrieben hätte, die ihn so berühmt werden ließen, bezweifelte Christoph.
Er, der den fast dreißig Jahre früher Geborenen verehrte und dessen Dichtung begeistert aufnahm, hatte mit Schiller einiges gemeinsam. Beider Väter waren Wundärzte, wie die Chirurgi auch genannt wurden, beide führten neben anderen den Vornamen Christoph, beide hatten die Lateinschule in Ludwigsburg besucht, Medizin studiert und waren wider ihren Willen Militärärzte geworden. Schiller, der sich nicht zum Arzt, sondern früh schon zum Dichter berufen fühlte, nur für kurze Zeit, Christoph dagegen hatte das aus Neigung gewählte Medizinstudium in Tübingen mehrmals unterbrechen müssen, um an Feldzügen teilzunehmen.
Christoph fand insgeheim Gefallen an diesen Gemeinsamkeiten, hätte aber einen Vergleich mit dem Unerreichbaren als vermessen weit von sich gewiesen. Es genügte ihm, Schillers Werke zu lesen oder sich im Theater von seinen Dramen mitreißen und in eine andere als die eigene vertraute Welt entführen zu lassen. Wenn er eine Aufführung besucht hatte, wirkten die Handlung und das Schicksal der Personen eines Stücks noch lang in ihm nach. Er suchte dann nach Übereinstimmungen mit sich, besonders mit dem Helden des jeweiligen Dramas. Am stärksten ergriff ihn das tragische Schicksal der ungleichen Brüder Karl und Franz Moor in „Die Räuber“. Schillers umfangreiches „Lied von der Glocke“ hatte er auswendig gelernt und rezitierte es wie auch einige seiner Balladen, wenn er darum gebeten wurde. Als 1808 die erste vollständige Ausgabe von Goethes Faust Erster Teil veröffentlicht wurde, war Christoph zutiefst beeindruckt von Inhalt und Sprache der Tragödie und empfand es nicht als Verrat an seinem verehrten schwäbischen Landsmann, auch aus Goethes Werk zu zitieren und rezitieren. Besonders gern trug er daraus, wenn die Jahreszeit es gebot, den „Osterspaziergang“ vor.
In seiner Zeit auf der Lateinschule und später während des Medizinstudiums waren Christoph einige mit Beifall bedachte Gedichte gelungen, in denen er schwärmerisch die Natur, noch mehr aber die Liebe besang. Heimlich zugesteckt, verzauberten sie die wohlerzogenen, sittsamen Tübinger Bürger- und Professorentöchter, die dem hochgewachsenen, blonden Studiosus ohnedies zugetan waren. Seiner wohlklingenden Stimme, seinem anziehenden Lächeln, gepaart mit dem klaren, jedoch nicht kalten Blick aus blauen Augen, konnten nur wenige widerstehen. Sein höfliches, nie aufdringliches Benehmen taten ein Übriges. Nicht wenige Väter und Mütter hätten den zukünftigen Arzt gern als Schwiegersohn gesehen.
Aber aus keiner der flüchtigen Romanzen mit dieser oder jener Schönen aus dem Universitätsstädtchen am Neckar erwuchs eine dauerhafte Bindung. Zu sehr nahmen Christoph das Studium der Heilkunst und sein Drang nach immer neuem Wissen, nach fachlicher Vollkommenheit ein. Zu viel Zeit hatte ihm die erzwungene Teilnahme an den verhassten Kriegszügen des Franzosenkaisers geraubt.
Eines aber konnte Christoph nicht leugnen: Trotz seines ausgeprägten Widerwillens gegen den Krieg, gegen das Töten hatte er auf den Schlachtfeldern und in den Lazaretten hinreichend Gelegenheit, chirurgisch zu wirken, Verwundete zu versorgen, auch Erkrankungen wie Ruhr oder Typhus kennen zu lernen, die nicht durch den Kampf herbeigeführt waren, und sie zu behandeln. Möglichkeiten, die ihm das Studium allein nicht geboten hätte.
Aber diese Kenntnisse und Fähigkeiten auf solche Weise zu erwerben, hatte in Christoph Spuren hinterlassen. Jedes Mal, wenn er nach einem Feldzug zum Studium ins beschauliche Tübingen zurückkehrte, war er ernster geworden und brauchte längere Zeit, sich wieder an den ungewohnt friedlichen Alltag zu gewöhnen.
Nachdem der Hohenasperg hinter ihm lag, löste sich die Beklommenheit in Christophs Brust und er atmete wieder freier. Unwillkürlich hatte er sein Pferd angetrieben, um die Bergfestung nicht länger als unvermeidlich im Blick zu haben. Ein Wäldchen aus Buchen und Eichen, deren kahle Äste mit einer dünnen Reifschicht überzogen waren, nahm ihn auf. Der schmale, unebene Pfad und herabhängende Zweige zwangen den Grauschimmel, im Schritt zu gehen.
Christoph wie auch das Pferd genossen den Ritt durch den frostigen Wintermorgen. Der Schimmel, weil er zwei Tage nur im Stall gestanden hatte, und der Reiter, weil sein Kopf nach dem weinreichen Abend zunehmend klarer wurde.
Reiten zu können, nicht gehen zu müssen, welch ein Fortschritt für die Feldärzte der Infanterie, der Christoph bisher angehörte und der er auch bei seiner neuerlichen Einberufung zugeteilt war.
Lebhaft erinnerte er sich an seinen ersten Feldzug 1805, als er im Alter von achtzehn Jahren als Unterarzt mit einem württembergischen Bataillon gegen die Österreicher ziehen musste. Schon auf den ersten Märschen wurde er, im langen Gehen ungeübt, von schmerzhaften Wadenkrämpfen befallen, die sich so sehr steigerten, dass er ab Ulm zusammen mit anderen Maroden auf einem Pferdewagen gefahren wurde. In Günzburg quartierte man ihn bei einem alten, kinderlosen Ehepaar ein. Die mitleidige Frau, dem inzwischen fiebernden Patienten in mütterlicher Sorge zugetan, wich die ganze Nacht hindurch nicht von seinem Lager, das sie ihm in der Wohnstube bereitet hatte. Immer wieder bot sie ihm Speise und Trank an, wovon er nur letzteren zu sich nehmen konnte, und betete für ihn.
Trotz leichter Besserung seines Zustandes war er auch in den folgenden zwei Tagen noch nicht fähig zu gehen und musste gefahren werden. In einem Dorf bei Augsburg, dessen Name ihm entfallen war, geschah etwas, das Christoph sein Leben lang nicht vergessen würde.
Mit einigen anderen Soldaten hatte er, wiederum in der Wohnstube, bei Bauersleuten ein Nachtlager aus Stroh bezogen. Er lag weit hinten in der Stube, vor ihm die Kameraden. Wer zu ihm wollte, musste über die Schlafenden hinwegsteigen. Noch immer, obschon weniger als in den Tagen und Nächten zuvor, von Schmerzen geplagt, fand er nicht zu echtem Schlaf, sondern nur zu einem leichten Schlummer, aus dem er mehrmals erwachte. Tief in der Nacht wachte er erneut auf und sah zu seiner Linken, ganz nah bei ihm stehend, eine menschliche Gestalt in einer lichtnebelartigen Hülle. Eine innere Stimme sagte ihm sofort: „Deine Mutter!“. Gleich darauf verschwand die Gestalt.
Außer seinem Vater erzählte er nie jemandem von jener Erscheinung und er beteuerte ihm gegenüber, dass er, obschon gerade aus dem Schlummer erwacht, in diesen wenigen Sekunden geistig völlig klar und bei vollem Bewusstsein gewesen sei. Zudem hatte er damals wie heute Zweifel an der Unsterblichkeit, an ein Weiterleben nach dem Tod. Aber deutlich habe er die geisterhafte Gestalt zwischen sich und den Kameraden gesehen, die in der vom Mondschein erhellten Stube auf dem Boden lagen. Auch habe er in jenen von Schmerzen geprägten Tagen nicht öfter an seine früh verstorbene Mutter gedacht als vorher. Er konnte sich ohnehin nur schwach an sie erinnern. In seiner letzten und stärksten Erinnerung sah er sie auf dem Totenbett liegen. Durch ein Faul- und Gallenfieber war sie dem Vierjährigen entrissen worden.
Sein Vater, gottesgläubig und anders als Christoph von einem Weiterleben im Jenseits überzeugt, zweifelte nicht an der Echtheit jener Erscheinung und bestärkte den noch zaudernden Sohn im Glauben, dass ihm seine Mutter erschienen sei, um ihn aufzurichten und ihm Mut zu machen.
Dass er in jener Nacht einer Sinnestäuschung infolge eines leichten, kaum mehr vorhandenen Fiebers erlegen sein könnte, glaubte Christoph bis heute nicht. Wie oft hatte ihn in den folgenden Jahren noch weit höheres Fieber geschüttelt und ihn die absonderlichsten Erscheinungen und Geschehnisse sehen lassen. Aber niemals mehr war ihm die Lichtgestalt erschienen, von der er annahm, dass sie seine Mutter gewesen sei.
So lag er zum Beispiel, von dem nur kurzen, siegreichen Feldzug gegen die österreichisch-russische Koalition zurückgekehrt, einige Monate später in dem mal von badischem, mal von württembergischem Militär besetzten Kraichgaustädtchen Bischofsheim zehn Tage und Nächte mit Typhus danieder. Im Fieberdelirium sah und hörte er immer wieder einen mit vier Pferden bespannten Wagen durch sein Krankenzimmer rasen. Der Fuhrmann knallte entsetzlich mit der Peitsche und die Vorder- und Hinterräder des Wagens krachten dröhnend eine Treppe hinunter, so dass dem Fiebernden der Kopf zu zerspringen schien.
In Bischofsheim war es auch, dass sich Christoph das erste Mal verliebte. Klara, die sechzehnjährige Tochter des Kaufmanns, bei dem er einquartiert war, pflegte den nur zwei Jahre Älteren mit liebevoller Hingabe und trug so außerordentlich zu seiner Gesundung bei. In den Wochen und Monaten, nachdem er mit seiner Einheit weitergezogen war, fragte er sich manchmal: War es ihre aufopfernde Pflege oder ihr Liebreiz oder beides, warum er so oft an sie denken musste? An das besorgte, aber auch fröhliche Mädchen mit den langen blonden Zöpfen, das sich flink und anmutig durch sein Zimmer bewegte, was er allerdings erst wahrnahm, als sich sein Zustand gebessert hatte.
Er fand dann keine Antwort auf seine Frage und sagte sich, dass es doch ohne Bedeutung sei zu wissen, warum genau seine Gedanken sich immer wieder ihr zuwandten, warum er glaubte, sich in sie verliebt zu haben.
Und wie stand sie zu ihm? Fühlte sie wie er? Maßte er sich nicht etwas an, wozu es gar keinen Grund gab, bildete sich nur ein, sie könnte empfinden, was er empfand?
Später als Student in Tübingen verliebte er sich auch einige Male. Aber nie fühlte er dabei so stark wie für Klara und was er für die durchaus hübschen Eroberungen empfand, war bald wieder verflogen, dauerte nicht länger als ein paar Tage, kaum einmal mehr als zwei bis drei Wochen.
Er hatte bald begonnen, Klara zu schreiben. Anfangs sich behutsam vortastend, ihre Gefühle auslotend und darauf bedacht, sie nicht zu verschrecken. Wie leicht hätte sie sich zurückziehen können, noch bevor er sich ihr offenbart hatte. Er durfte nicht vergessen, dass sie noch ein Mädchen war, als einziges Kind von den Eltern unendlich geliebt und behütet und von unschuldiger Reinheit des Fühlens und Denkens.
Er schrieb ihr, wie dankbar er für ihre damalige Pflege sei und dass er oft an sie denke, sie nicht vergessen könne.
Sie antwortete ihm nicht sofort. Wollte sie sich erst über ihre Gefühle klar werden? Oder hatten ihre Eltern, die Christoph so gastfreundlich aufnahmen und ihn wie einen Sohn behandelten, ihr den Brief nicht ausgehändigt, weil sie glaubten, Klara sei noch zu jung für etwas so Ernstes, wie die Liebe es in ihren Augen war?
Aber Christophs Bedenken wurden bald zerstreut. Im Stuttgarter Garnisonshospital, wo er in untergeordneter Stellung Dienst tat und die Invaliden des letzten Feldzugs versorgte, erreichte ihn Klaras erster Brief. Sein Herz schlug schneller, als er ihn öffnete. In großen, schön geschwungenen Lettern schrieb sie, Christophs erste Vermutung bestätigend:
Lieber Christoph!
Über Deinen Brief habe ich mich sehr gefreut. Ich hoffe, Du verstehst, warum ich Dir nicht sogleich geantwortet habe. Ich war mir nicht einmal sicher, ob ich Dir überhaupt schreiben soll. Weißt Du, eigentlich schickt es sich nicht, dass ein junges Mädchen wie ich Briefe an einen fast fremden Mann schreibt. Wenn Du mein Bruder oder ein Onkel oder Vetter wärst, wäre das etwas anderes. Aber Dich kenne ich doch kaum. Fast zwei Wochen hast Du bei uns gelegen und warst die ganze Zeit sehr krank und hast gar nichts mitbekommen von dem, was um Dich herum geschah. Ich weiß auch nicht, ob Du Dich so gut an mich erinnern kannst, wie Du schreibst. Du warst doch nur selten bei Bewusstsein. Dass Du oft an mich denkst, darüber freue ich mich natürlich. Auch ich habe Dich nicht vergessen und denke an Dich. Aber mehr als schreiben können wir uns wohl nicht. Um uns zu sehen, wohnen wir leider nicht nah genug beieinander. Immerhin wäre es schon möglich, aber Du müsstest halt mindestens zwei Tage abkömmlich sein und das wirst Du wohl kaum einrichten können, weil Du entweder zum Studieren in Tübingen oder im Garnisonshospital oder im Krieg bist. Aber vielleicht kommst Du mal wieder mit Deinem Regiment in unsere Gegend und besuchst uns dann.
Zur Zeit sind badische Soldaten im Ort und bei uns ist ein alter, unfreundlicher Feldwebel einquartiert. Wir hoffen, dass er und die anderen Soldaten bald wieder abziehen.
Lieber Christoph, sei recht herzlich gegrüßt, auch von meinen Eltern! Klara
Nachdem er den Brief gelesen hatte, war er sich noch weniger sicher als vorher, ob Klara etwas für ihn empfand. Er sah aber ein, dass, selbst wenn es mehr war als ihre freundlichen Worte vermuten ließen, sie eine bestimmte, durch Anstand und Erziehung gesetzte Grenze nicht überschreiten konnte. Je öfter er ihren Brief las, desto klarer meinte er hinter ihrer unverbindlichen Wortwahl Zuneigung zu erkennen.
Noch am selben Abend saß er an dem kleinen Holztisch in seiner nur unzureichend beheizten Stube und antwortete ihr, kaum imstande, seine Gefühle zu zügeln:
Liebe Klara!
Wie habe ich mich gefreut, dass Du auf meinen Brief geantwortet hast! Ich gestehe, dass meine Hoffnung auf Deine Antwort von Tag zu Tag geringer wurde. Ich dachte schon, ich hätte etwas geschrieben, was Dich verärgert oder Dein Missfallen hervorgerufen hat. Umso größer ist jetzt meine Freude, Deinen Brief in Händen zu halten.
Immer wieder lese ich Deine Worte und stelle mir Dich beim Schreiben vor und wünschte, ich könnte Dir dabei zuschauen. Aber wie töricht ist diese Vorstellung: Wenn ich bei Dir sein könnte, würdest Du mir ja nicht schreiben. Da siehst Du, wie über alle Maßen Dein Brief mich gefreut hat, dass sogar meine Gefühle über meinen Verstand siegen, wo es doch umgekehrt sein sollte.
Der Gedanke, dass wir, wie Du schreibst, uns in Zukunft nicht mehr oder nur noch ganz selten sehen könnten, macht mich traurig und ich wehre mich heftig gegen diese Vorstellung. Ich werde sicher einen Weg finden, das unmöglich Scheinende möglich zu machen. Ich möchte Dich unbedingt wiedersehen.
Klara, ich weiß, dass ich das nicht schreiben dürfte, aber ich vermisse Dich vom ersten Tag unseres Abschieds an. Wie gern hätte ich Dich beim Abschied umarmt, Dich nur ganz kurz in den Armen gehalten. Aber unter den wachsamen Augen Deines Vaters hatte ich nicht den Mut dazu. Ich weiß auch nicht, ob Du es gebilligt hättest.
So bleibt mir nur, von einer solchen Umarmung zu träumen. Von Dir zu träumen, ist das Einzige, was mir den wenig erbaulichen Alltag erträglicher macht.
Ich will ja nicht klagen, aber die Arbeit im Hospital ist nur selten erfreulich. Nur ab und zu, wenn ich einem der Verwundeten helfen oder einem hoffnungslos Verzweifelten Mut zusprechen kann und seine Dankbarkeit sehe, denke ich, dass ich den richtigen Beruf gewählt habe, obwohl ich kein Militärarzt werden wollte und in Zukunft auch nicht sein möchte. Ich hoffe, dass ich, wenn ich irgenwann mein Studium beendet habe und nicht mehr mit in den Krieg ziehen muss, in einer friedlicheren Zeit als der jetzigen als ganz gewöhnlicher Medicus den Arztberuf ausüben kann. Aber solange Napoleon die Württemberger mit in seine Kriege zwingt, werde ich wohl noch warten müssen.
Aber dann, liebe Klara, spätestens dann werde ich das tun, was ich mir schon heute sehnlichst wünsche: Ich werde bei Deinem Vater um Deine Hand anhalten.
Verzeih, dass ich schon in meinem zweiten Brief davon schreibe, aber meine Gefühle für Dich sind so übermächtig, dass ich sie nicht weiter vor Dir verbergen kann und auch nicht will.
Natürlich steht Deine Entscheidung an erster Stelle, selbst wenn Dein Vater nichts gegen unsere Verbindung einzuwenden hätte. Du musst entscheiden, ob Du mich genug liebst oder lieben wirst, dass Du Dein ganzes Leben mit mir verbringen möchtest und ob Du so lange auf mich warten willst. Denn von Dir zu verlangen, dass Du auf mich wartest, dazu habe ich kein Recht. Bis Du meine Frau werden kannst, wird es vielleicht noch einige Jahre dauern. Das hängt nicht von mir ab, darauf habe ich keinen Einfluss.
Liebe Klara, vergib mir, wenn ich zu viel gesagt habe, wenn ich zu weit gegangen bin. Vielleicht haben Dich meine Worte erschreckt. Das täte mir leid. Aber ich würde es auf ewig bedauern, wenn ich versäumt hätte, Dir meine Gefühle und Wünsche nicht offenbart zu haben und Du nie davon erfahren hättest. Denn auch wenn Du ähnlich oder ebenso wie ich fühlst, hättest Du bestimmt nicht zuerst davon gesprochen. Sind Deine Gefühle aber die gleichen, weißt Du nun, dass nicht nur Du etwas (oder mehr als etwas) für mich empfindest, sondern ich dasselbe für Dich.
Wenn aber nur ich es bin, der so fühlt, dann muss ich das als unabänderliches Geschick annehmen und Dich für immer aus meinem Herzen reißen. Dann behalte mich in guter Erinnerung!
Aber vielleicht werden wir doch einmal vereint sein. Für mich wäre das die Erfüllung meiner schönsten Träume.
Ich grüße Dich und Deine lieben Eltern und wage eine zarte Umarmung.
Christoph
Als er diesen Brief absandte, war es Anfang April und der Winter neigte sich zögernd seinem Ende zu. In ihrem zweiten Brief, auf den Christoph noch länger wartete als auf den ersten, was erneut Ungewissheit über ihre Gefühle für ihn aufkommen ließ, antwortete Klara weniger zurückhaltend, aber dennoch in sittsamer, ihrem Alter und Geschlecht entsprechender Weise. Festlegen wolle sie sich jetzt noch nicht, schrieb sie, dazu sei sie zu jung. Sie habe bisher noch keine Erfahrung in der Liebe und bedaure dies auch nicht. Sie wolle damit warten, bis sie einem Mann angetraut sei. Vielleicht sei er dieser Mann. Aber sie müssten beide noch warten, bis die Zeit gekommen sei. Wann das sei, wisse keiner von ihnen.
Christoph, Klaras Worte beim ersten Lesen als Zurückweisung empfindend, war anfangs enttäuscht. Er hatte gehofft, dass sie sich ihm ebenso offenbare, wie er es ihr gegenüber getan hatte. Er begann an ihrer Liebe zu zweifeln. Aber nicht lange, dann wich sein Zweifel der Bewunderung: Wie klar und von Vernunft und Reife geprägt waren ihre Worte, so gar nicht die einer Sechzehnjährigen. Er fragte sich, ob es ihm besser gefiele, wenn sie schwärmerisch von Liebe geschrieben hätte, die sie noch nicht erlebt hatte, die sie allenfalls aus den Romanen und Gedichtbändchen der bescheidenen elterlichen Bibliothek kannte.
Ihre Worte, bestärkte er sich selbst, sollten ihm die Kraft geben, auf sie zu warten. Er würde Klara nicht vergessen, sei es im Studium, sei es im Krieg oder zu Friedenszeiten bei seiner Arbeit im Hospital.
***
Der Sommer kam und verging und als es Herbst wurde, erhielt das Infanteriebataillon, dem Christoph als Unterarzt zugeteilt war, den Befehl zum Ausrücken. Es war Christophs zweiter Feldzug und es ging gegen Preußen. Klara hatte in den Monaten nach ihrem letzten Brief nur noch einmal geschrieben, nachdem er ihr geantwortet und ihren Ausführungen zugestimmt hatte. Beide hatten bemerkt, dass sie sich in weiteren Briefen nur wiederholen konnten und ihre bisher nie voll eingestandene, aber dennoch bestehende Liebe zerreden würden. Deshalb entsagte jeder für sich dem Verlangen, seine Empfindungen und Gedanken dem anderen immer wieder schriftlich mitzuteilen.
Dann geschah etwas, das Christoph in seinen Gefühlen für Klara sehr verunsicherte. Auf dem Vormarsch gegen die Preußen erreichte sein Bataillon Ende Oktober 1806 eines Abends das sächsische Städtchen Plauen, wo Christoph bei einer Offizierswitwe einquartiert wurde, die nur wenige Jahre älter war als er. Luise, mit zwei kleinen Jungen ein Häuschen in der Nähe des Rathauses bewohnend, bewirtete den ungebetenen Fremden aufs Freundlichste. Im nahen Gasthaus hatte sie sogar einen Krug Bier geholt. Christoph, nach dem langen Tagesmarsch erschöpft und hungrig, hielt sich aus Rücksicht auf die Gastgeberin und die Kleinen beim Essen zurück. Die bescheidene Witwenrente erlaubte sicher kein üppiges Leben.
Als alle ihr einfaches Mahl verzehrt hatten, erhob sich die Witwe mit den Worten:
„Ich muss die Kinder zu Bett bringen. Bleiben Sie ruhig noch sitzen! Wenn Sie mögen, können wir uns ein bisschen unterhalten, wenn die Kinder im Bett liegen. Falls Sie nicht zu müde sind.“
„Nein, überhaupt nicht.“, beeilte sich Christoph zu sagen. Er war zwar müde, aber er glaubte in ihrem Blick etwas Bittendes bemerkt zu haben. Vielleicht täuschte er sich, vielleicht aber verlangte es sie wirklich nach ein wenig Abwechslung im Einerlei sich täglich wiederholender Verrichtungen und Pflichten. Hinzu kam, dachte Christoph, die Einsamkeit an den Abenden, wenn die Kinder schliefen und sie nach der mühsamen Tagesarbeit noch nicht die Schlafstatt aufsuchen wollte, die sie mit ihrem Mann geteilt hatte. Allein hatte sie als Frau eines Soldaten noch zu dessen Lebzeiten schon viele Nächte verbringen müssen, aber er war stets vom Schlachtfeld zurückgekehrt, bis man ihr eines Tages die traurige Nachricht von seinem Tod überbrachte. Er war nicht im Kampf gefallen, wie sie immer gefürchtet hatte, sondern während eines Manövers beim Überqueren der Schmelzwasser führenden Müglitz mit seinem Pferd von der Strömung erfasst und fortgerissen worden. Pferd und Reiter ertranken.
An der einen Hand den kleineren der beiden Jungen, in der anderen den Kerzenhalter, stieg die Witwe die knarrenden Holzstufen des einstöckigen Häuschens hinauf.
Christoph sollte auf dem Sofa unten in der Wohnstube schlafen, wo es zweifellos wärmer war als oben in den ungeheizten Schlafräumen.
Während er wartete, blickte er sich in der von Kerzen schwach beleuchteten Stube um. Die Möbel und die Art, wie sie aufgestellt waren, erinnerten Christoph an zu Hause. Eine wohlige Wärme durchströmte seinen Körper und verwundert bemerkte er, dass er die baldige Rückkehr der jungen Witwe ersehnte. Er hörte sie mit den Kindern ein Schlaflied singen, dem ein kurzes Nachtgebet folgte. Mit sanfter Stimme sagte sie:
„Gute Nacht. Schlaft gut!“
Dann schloss sie die Tür und kam leise die Treppe herunter, stellte den Kerzenhalter auf den kleinen, rechteckigen Holztisch und setzte sich Christoph gegenüber.
Sie lächelte. Verlegen lächelte Christoph zurück. Während des Essens hatte er sie aufmerksam betrachtet, ohne dass es ihr auffiel. Zu sehr war sie mit den Kindern beschäftigt. Sie sah anders aus als die Mädchen und Frauen in seiner schwäbischen Heimat. Auch anders als Klara. Die langen schwarzen Haare, hinten zusammengeknotet und vorne in verspielten kurzen Löckchen die hohe Stirn teilweise bedeckend, die kräftigen Wangenknochen und die leicht gebogene, schmale Nase verliehen ihrem Gesicht ein fremdländisches Aussehen. Der beim Betrachter aufkommende Eindruck von Härte wurde durch die warmen, braunen Augen und die vollen, samtweich erscheinenden Lippen rasch wieder verdrängt.
Die beiden Schwangerschaften hatten ihrem schlanken Körper nichts anhaben können. Künstliche Korrekturen wie Schnürbrust oder Korsett brauchte sie nicht. Der rechteckige Ausschnitt ihres schlichten dunkelgrünen Wollkleides gestattete den Blick auf ihre durch die modisch hohe Taille angehobenen Brüste.
Während sie sprach und er ihr zuhörte, bemühte sich Christoph, seinen Blick einzig auf ihre Augen zu richten, aber immer wieder glitt er hinab zu ihren Lippen und weiter zu den Rundungen ihrer Brüste. Er verspürte ein heftiges Verlangen, diese ihm fremde Frau zu küssen. Es war nicht wie bei Klara die Sehnsucht nach einem sanften, zärtlichen Kuss. Luise wollte er in seine Arme reißen und ihren Mund völlig mit dem seinen verschließen, sie küssen, bis sie nach Luft ringend, ihn zurückstieß.
Gänzlich von diesem Verlangen beherrscht, fiel es Christoph immer schwerer, den Worten der Witwe zu folgen. Ihre Fragen beantwortete er nur einsilbig.
Längst hatte Luise seine begehrenden Blicke wahrgenommen, konnte das aber dem sichtlich unerfahrenen Gast gegenüber gut verbergen. Sie, die so viele einsame Abende und Nächte verbracht hatte, fand Gefallen an dem anziehenden, jungen Mann, der sich seiner Wirkung auf Frauen noch nicht bewusst war.
Die Unterhaltung stockte. Christophs Verlangen wuchs mit jeder Sekunde. Es gelang ihm kaum noch, auf Luises Fragen zu antworten. Zu sehr begehrte er sie.
Luise merkte, dass sie nicht länger warten durfte. Sie musste den Anfang machen. Ihr schüchterner Gast konnte es nicht. Ein wenig verworfen kam sie sich zwar vor, aber der Reiz, ihn zu verführen, war stärker als ihre anerzogene Sittsamkeit.
„Du willst mich“, sagte sie leise, nahm seine Hand, legte sie auf den unbedeckten Teil einer Brust und schob sie langsam weiter unter den Rand ihres Kleides, bis sie ihre wohlgerundete Weiblichkeit voll umfasste.
Er fühlte ihre weiche Haut unter seiner leicht zitternden Hand. Niemals zuvor in den neunzehn Jahren seines noch jungen Lebens war er einem weiblichen Körper so nahe gekommen.
Luise lächelte wieder, diesmal ermunternd. Sein Versuch, ihr Lächeln zu erwidern, gelang ihm nur leidlich.
„Komm mit nach oben!“ sagte sie sanft.
Sie erhob sich und zog ihn zu sich hoch. Er wollte sie endlich küssen. Sie aber drehte den Kopf zur Seite und lachte:
„Warte, bis wir oben sind! Du musst ein wenig Geduld haben.“
Geduld hatte er in diesem Augenblick überhaupt nicht. Aber er fügte sich und nachdem sie alle Kerzen bis auf die eine, die sie im Halter vorantrug, gelöscht hatte, ließ er sich wie vorher ihr kleiner Sohn die Treppe hinaufführen.
Sein Herz raste.
Oben führte sie ihn, vorbei am Schlafraum der Kinder, bis zum Ende des kurzen Flurs, öffnete, seine Hand kurz loslassend, die Tür zu ihrer Kammer, stellte den Kerzenhalter auf ein Tischchen, fasste erneut seine Hand, zog ihn hinein und schloss leise die Tür. Sie legte den Kopf in den Nacken und flüsterte:
„Komm! Küss mich!“
Christoph, der diesen Augenblick herbeigesehnt hatte wie kaum etwas zuvor und endlich dem Ziel so nahe war, zögerte plötzlich. Zu sehr fürchtete er, sie in seiner Unerfahrenheit zu enttäuschen.
Luise, sein Zögern wahrnehmend, aber sich nach seinen Küssen sehnend, flüsterte wieder:
„Komm doch und küss mich!“
Er umarmte sie und seine Lippen fanden die ihren zu einem langen Kuss, der beider Erregung zu weiterer, größerer Erfüllung drängte.
Immer fordernder wurden Christophs Küsse, immer stärker wurde Luises Verlangen, sich ihm hinzugeben.
„Nimm mich!“, stieß sie heiser hervor.
Hastig streifte sie ihr Kleid ab, entledigte sich ebenso schnell der Unterwäsche und Strümpfe und stand nach wenigen Augenblicken nackt vor Christoph, der ihr mit stockendem Atem zugesehen hatte.
Nun weniger, aber doch erneut zögernd folgte er ihrem Beispiel und zog sich aus.
Luise hatte sich auf das schmale Bett gelegt. Wie erstarrt war Christophs Blick auf ihre Nacktheit gerichtet, die sich ihm im schwachen Schein der flackernden Kerze darbot.
„Leg dich zu mir!“, sagte sie mit nun weicher Stimme.
Willenlos, wie in Trance legte er sich neben sie, die sich ihm zuwandte und ihn umarmte. Inbrünstig, jedoch zärtlicher als vorher küssten sie einander.
„Küss meine Brüste!“, hauchte Luise, sich auf den Rücken drehend.
„Nicht so fest! Ganz sanft!“, unterbrach sie seine ungestümen Versuche.
Christoph zeigte sich als gelehriger Schüler. Ihr Seufzen verriet ihm, dass er auf dem richtigen Weg war. Unaufgefordert dehnte er seine Küsse auf ihren Hals, ihre Arme, die Handflächen und den Bereich um ihren Nabel aus. Als er sich gerade noch tiefer vorwagen wollte, zog sie ihn am Kopf hoch und küsste ihn.
„Du hast noch nie eine Frau geliebt, nicht wahr? Ich meine körperlich.“
Christoph verneinte.
„Dafür lernst du aber schnell.“, flüsterte sie.
Ihr Lob ließ ihn ruhiger werden. Er gewann an Sicherheit und fühlte sich ihren Wünschen zunehmend gewachsen.
Und dann geschah, was er am stärksten herbeigesehnt hatte. Luise wandte sich ihm zu und bewegte, ihn dabei küssend, ihre Hand ganz langsam abwärts über seine Brust und seinen Bauch zu seinem Glied, umfasste es, drehte sich wieder auf den Rücken und führte es ins Paradies.
Er war wie von Sinnen und drang tiefer in sie ein.
Sie seufzte. Als seine Bewegungen heftiger wurden, begann sie zu stöhnen, stammelte unkontrolliert Worte der Lust, trieb ihn an.
Trotz der niemals zuvor erlebten Ekstase musste Christoph plötzlich an Luises Kinder im Nebenzimmer denken, die sie, verzückte Schreie ausstoßend, offenbar völlig vergessen hatte. Was, wenn sie aufwachten und unerwartet im Raum stünden?
Aber daran dachte er, erstmals von so unbändiger Leidenschaft erfasst, nur kurz. Luises Wildheit steigerte sich derart, dass sie laut stöhnend sehr bald den Gipfel ihrer Lust erreichte.
Auch Christoph konnte sich nicht länger zurückhalten und ergoss sich, von ihr flehend gedrängt, in ihren sich aufbäumenden Leib.
Sie hatten beide nicht bemerkt, dass die Kerze verloschen war. Dennoch konnten sie einander sehen, helles Mondlicht fiel durchs Fenster auf ihre nackten Körper.
Noch heftig atmend umarmten sie einander. Immer wieder küsste er sie, ihre Lippen, ihre Stirn, ihre geschlossenen Lider, ihren Hals und verweilte besonders bei ihren Brüsten.
„Ach, Doktorchen“, seufzte sie, „es war wundervoll. Du warst wundervoll.“, fügte sie hinzu. „War es schön für dich, dein erstes Mal?“
„Es war einmalig schön. Noch schöner, als ich es mir vorgestellt hatte.“
Er wusste schon damals, dass er jede Einzelheit dieser Nacht für immer in seiner Erinnerung behalten würde. Es war, als ob er und nur er allein einen unbekannten, unerforschten Erdteil betreten hätte. Und er fühlte sich in seinem bisherigen Verhalten bestätigt, dem Drängen der Kameraden zu widerstehen, doch auch einmal eine Dirne aufzusuchen und so die Liebe kennen zu lernen, wie sie es nannten.
Nachdem sie eine Weile still beieinander gelegen hatten, wollte sich Christoph, dem wieder die Jungen im Nebenraum einfielen, erheben und nach unten gehen, um dort bis zum Morgen zu bleiben.
Aber Luise hielt ihn zurück:
“Nein, bleib bei mir! Wenn du morgen fortgehst, muss ich die Nächte wieder allein verbringen.“
„Vielleicht hast du bald wieder einen Gast.“
Empört fuhr sie hoch:
„Was denkst du von mir! Ich bin doch keine Hure! Wie kannst du so etwas sagen!“
Sofort bedauerte Christoph seine unbedachten Worte. Es kostete ihn große Mühe, Luise, die er zutiefst gekränkt hatte, zu besänftigen.
„Du warst der Erste nach dem Tod meines Mannes. Und wirst es auch lange, vielleicht sogar für immer bleiben.“
„Verzeih mir, Luise!“ bat er eindringlich. Was war er doch für ein Dummkopf, sie, die ihm ein so unvergessliches, einmaliges Erlebnis hatte zuteil werden lassen, auf so tölpelhafte Weise zu verletzen.
Er küsste und streichelte sie und benannte sie mit den zärtlichsten Kosenamen, die sein noch begrenzter Liebeswortschatz ihm einflüsterte, bis sie endlich sagte:
„Weil du noch so jung bist, will ich dir verzeihen. Einem älteren Mann hätte ich solche Worte nicht verziehen.“
Die restliche Nacht lag sie in seinen Armen und er sog den Geruch ihrer Haare, ihrer Haut tief in sich ein, als wollte er ihn auf ewig in seinem Gedächtnis bewahren.
Ein leichtes Zucken ihres Körpers verriet ihm, dass sie einschlief. Er lag noch längere Zeit wach. Zu neu, zu überwältigend war das gerade Erlebte. Plötzlich dachte er an Klara und fühlte sich schuldig. Hatte er Klara betrogen? War er ihr untreu geworden? Ihr, die er zu lieben glaubte wie keine andere und die er später einmal heiraten wollte.
Mitten im Grübeln und dem vergeblichen Versuch, eine Antwort auf seine Fragen zu finden, schlief auch er ein.
***
Luise blieb nicht die Einzige, aber sie würde für immer die Erste bleiben. Erinnerte er sich deshalb auch später noch so lebhaft und eindringlich an sie und die Nacht mit ihr, verglich ihre leidenschaftliche, aber auch zärtliche Hingabe mit der anderer Frauen, die er in den Jahren danach eroberte oder die ihm willig ihre Liebe schenkten?
Nach seinem Abschied von Luise hatte er erst drei Wochen später Gelegenheit, ihr während der fast zweiwöchigen Belagerung Glogaus zu schreiben. In Worten auszudrücken, was er in jener Nacht empfunden hatte und was er nun fühlte, wenn er an sie dachte, fiel ihm nicht leicht. Worte konnten nur unvollkommen wiedergeben, was so unbeschreiblich für ihn gewesen war.
Es blieb bei diesem einen Brief. Luise antwortete ihm nicht. Vielleicht erreichte ihn auch ihre Post nicht, weil er während des Feldzugs gegen Preußen mehrmals einem anderen Regiment zugeteilt wurde und nie lange an einem Ort verweilte. Aber da Briefe auch in Kriegszeiten den Soldaten selbst an weit entfernten Orten zugestellt wurden und selten verloren gingen, nahm Christoph an, dass Luise es bei ihrer einmaligen Begegnung belassen wollte. Mehr zu erwarten oder zu wollen, wäre, da nur aus dem Zauber einer einzigen Nacht geboren, vermessen gewesen. Im Krieg konnte er nicht bei ihr sein, was sie zwar von ihrem Mann zu dessen Lebzeiten gewohnt war, und im Frieden musste er sich ganz dem Studium widmen. Und wie hätte er mit seinem geringen Sold als Unterarzt, den er ohnehin nur während eines Feldzugs oder für den Dienst im Garnisonshospital bekam, für sie und ihre Kinder sorgen sollen? Als Student war er dazu erst recht nicht in der Lage. Wäre sie letztlich überhaupt bereit gewesen, ihre sächsische Heimat zu verlassen?
Ob Luise sich derartige oder andere ihn betreffende Gedanken machte, wusste er nicht, konnte er nur vermuten. Vielleicht maß er dem Geschehenen eine zu große Bedeutung bei, während Luise längst wieder von ihren alltäglichen Pflichten eingeholt worden war. Er versuchte sich klarzumachen und zugleich ihr damit gerecht zu werden, dass, was für ihn so überwältigend gewesen, für sie nicht neu war und sie ihn einfach nur begehrt hatte.
Es fiel ihm auf, dass sowohl Luise, von der er es nur annahm, als auch Klara, von der er es wusste, ihre Gefühle besser der Vernunft unterordnen konnten als er. Auch als er älter wurde und seine Erfahrungen mit Frauen zunahmen, war es fast immer er, der sich mehr von Gefühlen leiten ließ.
Je mehr Zeit verging, je mehr Wochen und Monate sich zwischen ihn und Luise schoben, desto seltener dachte er an sie. Die Tage waren ausgefüllt mit der Versorgung der Verwundeten, deren Zahl während der Kämpfe mit den Preußen ständig stieg, besonders für Christoph auch mit der Behandlung von Erkrankungen allgemeiner, nicht ausschließlich kriegsbedingter Art.
Anfang Mai, sechs Monate nach seinem Abschied von Luise, geriet Christoph im schlesischen Striegau in Gefangenschaft. Ein preußisches Streifkorps überfiel das nur von wenigen Württembergern und Franzosen besetzte Städtchen und zog weiter zum außerhalb gelegenen Klosterspital, um alle dort befindlichen, zum Transport fähigen gegnerischen Verwundeten wie auch deren Ärzte gefangen zu nehmen. Christoph versuchte noch, sich mit einigen Ärzten und Offizieren im Gartenhaus des Klosters zu verstecken, sie wurden aber entdeckt und vor dem Abtransport ihrer Habe beraubt.
Christoph hatte dabei anfangs noch Glück. Er musste sich „nur“ von seiner silbernen Uhr, einem Geschenk seines Vaters, trennen. Den seidenen Geldbeutel mit einigen Talern darin ließ der preußische Ulan vor ihm zu Boden fallen.
„Nimm's man nur hin, Brüderchen! Wirst's man wohl brauchen.“, lachte er.
Nur kurz danach, als sich alle Gefangenen auf dem Marktplatz versammelten, nahm ihm ein anderer auch noch den Geldbeutel weg. Vom Inhalt überließ er, wohl aus Mitleid, Christoph ein paar Groschen, die wieder ein anderer ihm zwei Tage später in Waldenburg abnahm.
Für Christoph blieb die Gefangennahme durch die Preußen die einzige. Nach sechs Tagen wurden er und weitere Ärzte, da sie nicht unmittelbar zur kämpfenden Truppe gehörten, freigelassen. Von der anfänglichen Beraubung seitens preußischer Soldaten abgesehen, hatte man den jungen Unterarzt wie auch seine Kameraden gut behandelt, so dass Christoph später immer ohne Hass oder ähnliche Empfindungen an die Tage in preußischer Gefangenschaft zurückdachte.
***
Nach der Niederlage Preußens und dem Tilsiter Friedensschluss Napoleons mit Russland und Preußen im Juli 1807 tat Christoph Dienst in einem der Spitäler Breslaus, wo es viele Verwundete aus dem gerade zu Ende gegangenen Krieg zu versorgen gab.
Wenn es sein Dienst zuließ, sah sich Christoph in Breslau um, besuchte, obwohl nur in Ansätzen gläubig, den Dom und einige der zahlreichen anderen Kirchen, bewunderte die astronomische Uhr an der Ostfassade und die Skulpturen an der Südfassade des gotischen Rathauses am Großen Ring, dem mittelalterlichen Marktplatz der Stadt.
Bei einem seiner Stadtbummel erlebte er ein ganz besonderes Schauspiel, das sich täglich gegen vier Uhr nachmittags wiederholte. Napoleons jüngster Bruder Jérome, erst vor kurzem zum Divisionsgeneral befördert, der noch im selben Jahr zum König von Westfalen aufsteigen durfte, ritt unter aufwändigem militärischem Schutz durch das besetzte Breslau. Die Spitze des Zuges bildeten zwei bayerische Chevauxlegers, jeder eine Pistole mit gespanntem Hahn vor sich auf dem Sattel haltend, dann ein Offizier mit gezogenem Säbel. Ihm folgte in prächtiger Uniform Jérome Bonaparte, an seiner linken Seite ein französischer General, hinter ihnen Ordonanzoffiziere und zum Schluss des Umzugs noch einmal Chevauxlegers, etwa sechzig an der Zahl, mit blanken, in der Nachmittagssonne blitzenden Säbeln.
Jérome war bemüht, seine Selbstdarstellung stets zum gleichen Zeitpunkt stattfinden zu lassen. Er wollte sicher sein, dass die Breslauer Bürger diesen kannten und deshalb möglichst zahlreich erschienen, um ihn in seiner ganzen Herrlichkeit erblicken zu können. Vereinzelte Hochrufe während seines Ausritts zauberten ein breites Lächeln auf sein schmales junges Gesicht.
In Breslau ging damals das Gerücht um, Jérome bade täglich in rotem Wein, was zur Folge hatte, dass man sich dort scheute, Rotwein zu trinken. Ein sicher übertriebenes Verhalten, dachte Christoph.
Christophs Tage in Breslau wurden zum Ende seines Aufenthalts durch ein tragisches Ereignis getrübt. In seinen freien Stunden ging er mit Kameraden des Öfteren zum Schwimmen an die Oder. Einer seiner Begleiter, ein befreundeter württembergischer Wundarzt und geübter Schwimmer, stieg wie gewohnt als Erster in den Fluss. Von der heißen Julisonne erhitzt, begab er sich hastig ins kühle Wasser, tauchte unter und wieder auf, schwamm ein paar Züge und verschwand plötzlich in der Flut. Kurz erhob sich noch ein Arm aus dem Wasser, dann war nichts mehr von ihm zu sehen. Die Kameraden, andere Badende und herbeigeeilte Oderschiffer suchten mit größtem Eifer nach ihm, mussten die Suche aber bald erfolglos einstellen.
***
Ende Dezember 1807 kehrte Christophs Bataillon nach jeweils mehrwöchigen Aufenthalten in Frankfurt an der Oder und Fürstenwalde in die Heimat zurück und bezog die Garnison in Schorndorf. Im Frühjahr des folgenden Jahres nahm Christoph das unterbrochene Medizinstudium nach erteilter Beurlaubung wieder auf, wurde aber schon vor Ablauf des zweiten Semesters im März 1809 wieder einberufen.
Wie vier Jahre zuvor hieß der Gegner Österreich, das gemeinsam mit Großbritannien Napoleons Vorherrschaft in Europa ein Ende bereiten wollte. Nach spanischem Vorbild sollten die französischen Besatzer in einer Volkserhebung aus Deutschland vertrieben werden. Süddeutschland, Österreich geographisch am nächsten gelegen, bildete den Auftakt und Schwerpunkt der Kämpfe.
Wieder musste auch Württembergs König dem Kaiser der Franzosen ein Truppenkontingent zur Verfügung stellen. Christoph, der zu Beginn des Feldzugs zum Bataillonsarzt ernannt wurde, hätte sich über die Beförderung eigentlich freuen müssen, umso mehr als sein Vater ihn voller Stolz dazu beglückwünschte.
„Jetzt hast du's aber schon weit gebracht, Christoph. Mit einundzwanzig Jahren bist du schon Bataillonsarzt. Du wirst sehen, bald wirst du Regimentsarzt.“
Christoph, vor dem Einrücken zu einem kurzen Besuch in Thamm, lächelte höflich, um des Vaters Freude nicht zu trüben. Er dachte an die neuerlichen Strapazen, an seine blutige Arbeit auf dem Schlachtfeld und in den Hospitälern und wünschte sich ins beschauliche Tübingen zurück, wo er mit großem Eifer sein Studium betrieb, zuweilen auch, sofern Zeit dafür blieb, an den Treffen des schwäbischen Dichterkreises um den ebenfalls Medizin studierenden Justinus Kerner teilnahm, dessen meisterhaftes Spiel auf der Maultrommel alle bewunderten. An den Wochenenden durchwanderten sie mit dem dichtenden Philosophiestudenten Ludwig Uhland die reizvolle Umgebung des Neckarstädtchens. Mit gespielter Fröhlichkeit, im Innern aber beklommen winkten sie vom Flussufer aus dem von ihnen verehrten, unheilbar kranken Hölderlin zu, wenn er am Fenster seines Turmzimmers stand.
Dem anderen Geschlecht nicht minder zugetan, suchte Christoph in gleichem Maße auch dessen Nähe. Von Luise in das letzte Geheimnis der Liebe eingeweiht, war der vorher noch bestehende Rest an Schüchternheit dahingeschmolzen.
Klara hatte er nicht vergessen. Noch immer dachte er voll zärtlicher Zuneigung an sie. Das unausgesprochene Übereinkommen zwischen ihnen, ihre Liebe nicht in häufigem Briefwechsel zu zerreden, hatten beide nicht einhalten können. Christoph hatte nach einigen Monaten das Schweigen gebrochen und Klara in einem langen Brief seiner unveränderten Gefühle für sie versichert. Noch einmal sprach er von seinem Wunsch, um ihre Hand anzuhalten, sobald die Umstände es erlaubten.
Klara antwortete diesmal sofort, als ob sie auf seinen Brief gewartet hätte. Ihre Worte waren auch weniger zurückhaltend als damals. Sie habe sich ihrer Mutter mitgeteilt, schrieb sie, ihr auch seinen Brief gezeigt. Er sei ihr deshalb hoffentlich nicht böse. Ihre Mutter wie auch ihr Vater würden es begrüßen, wenn sie beide heirateten. Nur zum jetzigen Zeitpunkt sei das verfrüht, was er ja selbst auch schon geschrieben habe.
War Christoph wieder einmal den Reizen einer Tübinger Schönen erlegen, spürte er Reue, wenn er an Klara dachte, fühlte sich schuldig, weil er ihr untreu geworden war. Auch sein Studienfreund Heinrich, während des Feldzugs gegen Preußen wie er Unterarzt im selben Bataillon und in kriegsfreien Zeiten ebenfalls fürs Studium beurlaubt, hatte bei dem Versuch, ihm die Selbstvorwürfe auszureden, nur mäßigen Erfolg.
„Christoph, mach dir doch keine unnötigen Gedanken! Ist ja schön, dass du in Klara verliebt bist, sie sogar liebst, wie du sagst. Ich beneide dich darum, um ehrlich zu sein. Mir ist bisher noch keine begegnet, die ich heiraten wollte. Ich könnte auch sagen: Mir ist die Liebe noch nicht begegnet. Genieß doch einfach die Zeit hier in Tübingen! Weißt du, ob du aus dem nächsten Krieg heil zurückkommst? Ich wäre froh, ich würde so gut aussehen wie du und hätte so leichtes Spiel bei den Mädchen hier.“
„Das solltest du dir lieber nicht wünschen. Du siehst ja, wohin das führt.“
Die Worte des Freundes schmeichelten ihm, konnten aber seine Schuldgefühle gegenüber Klara nicht beseitigen. Er nahm sich fest vor, in Zukunft jeder auch noch so großen Versuchung zu widerstehen und Klara treu zu sein. Erleichtert würde sein Vorsatz durch den in Kürze beginnenden Krieg gegen Österreich, der seine ganze Kraft forderte und wenig Zeit für Vergnügungen ließ.
Während eines kurzen Aufenthalts in Thamm erfasste ihn eine so starke Sehnsucht nach Klara, dass er beschloss, in den verbleibenden Tagen bis zum erneuten Einrücken zu ihr zu reiten.
Wie hatte er nur so lange damit warten können? Gewiss, entweder hatten ihn Feldzüge oder das Studium daran gehindert und in den wenigen freien Tagen dazwischen war die Zeit für die Wegstrecke sehr knapp. Dennoch, so warf er sich jetzt vor, hätte es trotz aller Schwierigkeiten sicher irgendwann eine Möglichkeit gegeben, Klara zu besuchen. Hatte er befürchtet, von ihr, die sich inzwischen vielleicht verändert hatte, enttäuscht zu sein? Würde sie ihm noch gefallen? Würde er ihr noch gefallen? Was würden sie füreinander empfinden, wenn sie sich plötzlich gegenüberstanden? War es überhaupt richtig, Klara unangemeldet mit seinem Erscheinen zu überraschen?
Solche und ähnliche Gedanken bedrängten ihn auf seinem Ritt durch die hügelige Kraichgaulandschaft, wo sich, es war Anfang April, Frühlingsboten wie Schlüsselblumen, Adonisröschen, Anemonen und entlang der Bäche Sumpfdotterblumen zeigten und am Wegrand der Weißdorn blühte. Es dunkelte bereits, als er in Neckarbischofsheim, wie es inzwischen hieß, einritt. Die Hauptstraße, in der Klaras Elternhaus stand, war menschenleer. Christoph hielt vor dem Gasthof gleich am Ortseingang. Er mochte nicht durch den Ort reiten, wo er hätte Klara begegnen können, die er erst am nächsten Tag aufsuchen wollte. Ihre gastfreundlichen Eltern hätten sich vielleicht verpflichtet gefühlt, ihn bei sich übernachten zu lassen. Zwar hatten sie ihn vor vier Jahren, als er todkrank mit Typhus daniederlag, gepflegt und behandelt wie einen Sohn, aber jetzt kam er als Besucher, der nicht wie damals bei ihnen zwangseinquartiert war.
Am nächsten Morgen erwachte er schon früh und konnte es kaum erwarten, Klara wiederzusehen. Aufgeregt wusch und rasierte er sich, zog seine Uniform an, wobei er mehr noch als sonst auf ihren korrekten Sitz achtete. Vom Frühstück nahm er nur wenig zu sich. Zu sehr waren seine Gedanken schon bei Klara.
Das Warten wurde ihm unerträglich. Endlich schlug die Kirchturmuhr neun und Christoph verließ den Gasthof. Nach einigen hundert Schritten stand er vor dem Laden von Klaras Eltern. Er zögerte kurz, drückte dann entschlossen die Türklinke nach unten und trat ein.
Eine verwirrende Mischung aus bekannten und fremdartigen Gerüchen umfing ihn. Niemand war im Laden. Er räusperte sich. Aus dem Nebenraum näherten sich Schritte. Klaras Vater erschien in der Tür.
„Guten Morgen, Herr Weber.“, begrüßte ihn Christoph freundlich.
Verwundert, aber ebenfalls freundlich erwiderte der etwas rundlich gewordene Mann den Gruß und fragte Christoph, den er offensichtlich nicht erkannte, nach seinen Wünschen.
„Herr Weber, ich bin's, Christoph Groß. Ich habe vor drei Jahren mit Typhus bei Ihnen gelegen und Ihre Frau und Klara haben mich gepflegt, bis ich wieder gesund war.“
„Ach, Sie sind das, Herr Groß. Jetzt erkenne ich Sie. Schön, Sie wiederzusehen.“ Seine Freude war echt. „Was führt Sie denn hierher?“
„Um ehrlich zu sein, Herr Weber, komme ich, um Ihre Tochter wiederzusehen.“, erwiderte Christoph etwas verlegen.
„Na, da wird sie sich aber freuen.“, meinte der Kaufmann, der über Klaras Gefühle für den jungen Württemberger und beider Heiratswünsche Bescheid wusste. Obwohl er Christophs Ungeduld wahrnahm, rief er nicht sofort nach seiner Tochter, sondern fragte nach dessen Befinden und Erlebnissen in den vergangenen Jahren, nach Studium und Familie.
Höflich beantwortete Christoph alle Fragen, bis der Kaufmann seinem Warten ein Ende bereitete und nach oben rief:
„Klara, komm mal runter! Wir haben Besuch.“
Nur wenige Augenblicke später öffnete sich die Tür zur Treppe und Klara trat heraus. Als sie Christoph erblickte, blieb sie stehen und stieß hervor:
„Christoph! Das ist aber eine Überraschung!“
Sie eilte die Treppe hinab, wollte Christoph umarmen, hielt aber, sich der Gegenwart des Vaters bewusst werdend, inne und reichte ihm nur die Hand.
Lächelnd blickten sie einander an und fühlten beide, dass die lange Zeit der Trennung ihrer Liebe, derer sie sich nur in Briefen versichert hatten, nichts hatte anhaben können.
Klaras Liebreiz verzauberte Christoph sofort aufs Neue. Statt der beiden mädchenhaft wirkenden Blondzöpfe hatte sie ihr Haar jetzt zu einem einzigen langen Zopf geflochten, was sie zusammen mit ihrem schmaler gewordenen Gesicht erwachsener aussehen ließ, wie sie auch insgesamt zu einer jungen Frau herangereift war.
„Ja, das ist aber eine Überraschung!“, waren plötzlich die gleichen Worte wie zuvor von Klara von ihrer Mutter zu vernehmen, die oben am Treppenabsatz stand. Sie kam herab und gab Christoph die Hand.
„Das freut uns aber, Herr Groß, dass Sie uns besuchen. Und Klara freut sich sicher besonders. Nicht wahr, Klara?“
„Ja, Mutter.“, antwortete diese ein wenig verlegen.
„Wie lange bleiben Sie denn, Herr Groß?“, fragte geradeheraus die Mutter, eine selbstbewusste, wie Klara hochgewachsene, blonde Frau.
„Ich muss morgen schon wieder weiter nach Heidenheim, wo ich mich bei meinem Regiment melden muss.“
Das Lächeln verschwand aus Klaras Gesicht.
„Das ist aber schade.“, meinte ihre Mutter. „Jetzt haben wir Sie so lange nicht gesehen und Sie müssen uns schon morgen wieder verlassen.“
„Ich bedauere das auch sehr.“, erwiderte Christoph.
„Freuen wir uns doch, dass Herr Groß uns überhaupt besucht.“, warf Klaras Vater ein und wandte sich einer alten Frau zu, die gerade in den Laden getreten war.
„Komm, Christoph, lass uns nach oben gehen! Dort können wir uns in Ruhe unterhalten.“, sagte Klara, jetzt wieder lächelnd.
„Mutter, möchtest du mitkommen?“, fragte sie höflich, wünschte sich aber, dass diese nein sagen würde.
„Nein, nein. Geht nur ohne mich! Herr Groß hat dir sicher viel zu erzählen.“
Kaum hatten sie das Wohnzimmer betreten und die Tür hinter sich geschlossen, umarmten sie einander. Klara schlang ihre Arme um Christophs Nacken und sah in glückseliger Erwartung zu ihm hinauf. Sekundenlang blickten sie einander in die Augen, dann fanden sich ihre Lippen zu einem langen Kuss, in dem sich die ungestillte Sehnsucht dreier Jahre des Wartens Bahn brach.
Christoph fühlte ein starkes Verlangen nach Klaras schlankem, sich an ihn schmiegenden Körper, aber er zwang sich, seine Erregung zu unterdrücken. Zum einen wollte er Klara in ihrer Jungfräulichkeit nicht bedrängen, zum anderen musste er jederzeit damit rechnen, dass Klaras Mutter oder Vater hereinkäme.
„Klara, ich hatte solche Sehnsucht nach dir.“, sagte er, die Umarmung ein wenig lockernd. „Ich bin so glücklich, jetzt endlich bei dir zu sein.“
„Oh, Christoph, ich habe dich genauso vermisst.“ entgegnete Klara, wie er heftig atmend. „Immer wieder habe ich deine Briefe gelesen und mir gewünscht, dass du bei mir wärst. Manchmal habe ich nicht mehr daran geglaubt, dass wir uns jemals wiedersehen. Oft hatte ich auch Angst, dir würde etwas zustoßen, wenn du wieder mal in den Krieg musstest. Ein paarmal habe ich geträumt, dir wäre etwas Schreckliches geschehen.“
Gerührt strich ihr Christoph über den Kopf.
„Klara, meine Liebe.“
„Kannst du wirklich nicht länger bleiben, Christoph?“
„Nein, Klara. Ich würde bestraft, wenn ich nicht rechtzeitig beim Regiment wäre.“
„Ach, ihr Männer. Immer müsst ihr in den Krieg ziehen.“
„Ja, wir müssen. Da hast du Recht. Wir müssen, aber wir wollen nicht. Auf mich trifft das jedenfalls zu. Auf andere vielleicht nicht. Ich wünsche mir nichts mehr, als endlich mein Studium zu beenden und irgendwo als Arzt zu arbeiten. Vielleicht in Stuttgart oder Tübingen oder sonstwo in meiner Heimat.“
Er hielt inne und fuhr kurz darauf, seine Worte besonders betonend, fort:
„Und dann, Klara, dann könnten wir endlich heiraten. Ich wünsche mir nichts sehnlicher.“
„Oh, Christoph.“, sagte sie leise.
Schweigend verharrten sie noch eine Weile in ihrer Umarmung, als wollten sie einander für immer festhalten. Dann, sich sanft von Christoph lösend, schlug Klara vor, an diesem milden Frühlingstag nach draußen zu gehen.
Als sie zum Eingang des gräflichen Schlossgartens kamen, öffnete Klara das kunstvoll geschmiedete, leicht knarrende Eisentor. Christophs Zögern wahrnehmend, lachte sie:
„Ich habe die Erlaubnis, im Schlossgarten spazieren zu gehen, wenn sich gerade niemand aus der gräflichen Familie dort aufhält. Wir beliefern die Herrschaft mit Lebensmitteln und anderen Dingen und dabei müssen wir sowieso durch den Garten zum Schloss gehen. Anderen ist der Zutritt aber nicht erlaubt.“
Christoph hatte die Gräfin in guter Erinnerung. Als er mit seiner schweren Typhuserkrankung daniederlag, besuchte sie ihn zweimal und zeigte sich sehr besorgt um seinen Zustand. Darin Klaras Mutter ähnlich, empfand sie wohl für ihn wie für einen Sohn, den sie sich nach der Geburt von zwei Töchtern vergeblich gewünscht hatte.
Hand in Hand schlenderten die Liebenden durch den gepflegten Park mit seinen alten Kastanien, Linden und Eichen und den Flieder- und Weißdornbüschen, die alle zu neuerlicher Blüte drängten. Wasser speiende, steinerne Fabelwesen säumten den Schlossteich, kleine Statuen, Göttinnen oder knabenhafte Engel darstellend, die Wege. Immer wieder, wenn sie sich unbeobachtet wähnten, umarmten und küssten sie einander, beteuerten ihren Wunsch, so bald als möglich zu heiraten.
Zu schnell vergingen die Stunden, die ihnen bis zum Abend blieben. Klara führte Christoph durch das Städtchen, das eher einem großen Dorf glich, stellte ihn Verwandten und ihren Freundinnen vor, die alle bis auf eine bereits verheiratet waren. Dass ihnen der hochgewachsene, blonde junge Mann mit dem gewinnenden Lächeln und der angenehmen Stimme gefiel, war nicht zu übersehen und erfüllte Klara mit stolzer Freude.
Klaras Eltern bestanden darauf, dass Christoph zu den Mahlzeiten ihr Gast sei. Am frühen Nachmittag, die Frühlingssonne erwärmte wohltuend die Luft und lockte ins Freie, schlugen Klara und Christoph den schmalen Waldweg in Richtung des Dörfchens Aderspach ein, an das sich Christoph nicht gern erinnerte. Bereits von heftigem typhösem Fieber geschüttelt, lag er damals dort auf dem Wohnstubenboden eines Bauernhauses und musste unter qualvollen Kopfschmerzen das Schnurren und Rasseln von mindestens zehn Spinnrädern ertragen, bis er schließlich gegen Mitternacht ins Delirium fiel. Wäre er nicht zwei Tage später mit dem Gepäckwagen auf holprigem Weg ins benachbarte Bischofsheim gebracht worden, wo der dortige Arzt und Klaras Familie sich um ihn kümmerten, hätte er wahrscheinlich nicht überlebt.
Nur langsam kamen die beiden voran. Ständig unterbrachen Küsse und Umarmungen, mal zärtlich, mal heftig, ihre Wanderung. Christophs Verlangen nach Klara, deren Widerstand ständig schwächer wurde, wuchs bei jedem Halt. Als sie kurz davor war, sich ihm hinzugeben, drängte ihn Klara plötzlich sanft, aber entschlossen zurück.
„Nein, Christoph, wir dürfen das nicht tun. Wir wollen es beide, aber ich möchte nicht schwanger werden, bevor wir verheiratet sind. Bitte versteh das!“
Christoph atmete tief durch, bevor er antwortete.
„Natürlich verstehe ich das, Klara, mein Liebling. Aber mein Verlangen nach dir ist so unbeschreiblich groß, dass es mir schwerfällt, dagegen anzukämpfen.“
„Komm, lass uns umkehren!“, sagte Klara erleichtert und froh, ihn nicht allzu sehr enttäuscht zu haben. Lachend nahm sie seine Hand und zog den noch Widerstrebenden beschwingt hinter sich her, bis er nachgebend sich ihren Schritten anpasste.
Unaufhaltsam rückte der Abschied näher. Schwer lastete das unausgesprochene Wissen um Christophs baldigen Aufbruch auf den Liebenden. Die fröhliche Leichtigkeit, die sie anfangs erfasst und sich in den folgenden Stunden ihres Zusammenseins fortgesetzt hatte, wich einer beklemmenden Wehmut, die sie zunehmend verstummen ließ. Immer öfter versuchten beide, einander nicht anzusehen, um den bangen Ausdruck in ihren Blicken zu verbergen.
Klaras Eltern, die auffällige Veränderung im Verhalten Chris -
tophs und ihrer Tochter mit Sorge wahrnehmend, bemühten sich während des liebevoll zubereiteten Abendbrots, die beiden aufzuheitern und forderten sie mehrmals auf, doch zuzugreifen. Nur aus Höflichkeit gegenüber der Gastgeberin, die den jungen Mann ins Herz geschlossen hatte und sich für Klara keinen besseren Gemahl vorstellen konnte, kam Christoph der Bitte nach.
An Trennungen und Abschiede durch Krieg und Studium eher gewöhnt als Klara, gelang es ihm im Lauf des Abends, diese wieder aufzumuntern, indem er heitere Erlebnisse aus seinem Elternhaus, als Student in Tübingen und aus seinem Militärdienst erzählte. Klara, die seine Absicht zwar durchschaute, entlockte er damit wieder das ungekünstelte, natürliche Lachen, das ihm an ihr von Anfang an gefallen hatte.
Die Zeit, die unerbittlich verstrich, konnte er aber nicht anhalten. Erst als der Abend in die Nacht überging und von draußen kein Laut mehr ins Haus drang, musste sich Christoph schließlich eingestehen, dass der Zeitpunkt noch nicht gekommen war, für immer bei Klara zu bleiben, und zwang sich zum Aufbruch.
Klara bestand trotz der etwas besorgten Mienen ihrer Eltern darauf, ihn zum Gasthof zu begleiten. Mondlicht, durch hastig vorüberziehende Wolken immer wieder verdeckt, erhellte nur schwach die löchrige Hauptstraße. Christoph hatte den Arm um Klaras Schultern gelegt und langsam, die Trennung hinauszögernd, gingen die beiden die kurze Strecke bis zur Herberge. Wie am Nachmittag bei ihrem Waldspaziergang hielten sie mehrmals an, um küssend einander zu umarmen. Wieder spürten sie das heftige Verlangen nach körperlicher Vereinigung, aber auch jetzt widerstand Klara Christophs Drängen.
Als sie endlich den Gasthof erreichten und den Abschied nicht länger aufschieben konnten, fanden sie zu einem letzten, langen Kuss.
„Christoph, Liebster, schreib mir bald!“, bat Klara leise. „Deine Briefe werden mir über die Trennung hinweghelfen. Ich werde immer an dich denken.“
„Ich auch an dich, liebste Klara.“
„Ich werde für dich beten, dass du gesund bleibst und heil aus diesem neuen Krieg zurückkehrst. Ich bin ja so froh, dass du Arzt bist und kein Soldat und nicht kämpfen musst und vielleicht dabei getötet würdest. Gib trotzdem auf dich acht!“
„Mach dir keine Sorgen, Klara! Es wird sicher alles gut gehen.“
„Und warte bitte nicht mehr so lang mit deinem nächsten Besuch!“
„Nein, bestimmt nicht.“
Sie lösten sich voneinander und er sah ihr nach, wie sie im fahlen Mondlicht die verlassene Straße zurückeilte und sich einige Male umdrehte, um ihm zuzuwinken. Erst als er sie nicht mehr sehen konnte, öffnete er die Tür zum Gasthof und stieg die ausgetretenen Holzstufen zu seiner Kammer hinauf.
***
Am elften April 1809 brach das Infanterieregiment Herzog Wilhelm, dem Christophs Bataillon angehörte, im württembergischen Heidenheim nach mehrtägiger Kantonierung auf und erreichte acht Tage später das bayerische Städtchen Abensberg, in dessen Umgebung Napoleons vorwiegend bayerische und württembergische Truppen in mehreren kleinen Gefechten einen weiteren Sieg erkämpften.
Wie stets vor einer Schlacht waren die Ärzte und deren Helfer bestmöglich auf die Versorgung der Verwundeten vorbereitet. Verbandsmaterial war in großen Mengen vorhanden, die chirurgischen Instrumente für Amputationen und zur Entfernung von Geschossen führten die Wundärzte mit sich. Zum Abtransport der Schwerverletzten standen zweispännige Kastenwagen bereit.
Die nahezu perfekte Organisation der ärztlichen Versorgung während und nach jeder Schlacht war maßgeblich einem Mann zu verdanken, dem Chefchirurgen der Grande Armée Jean-Dominique Larrey, der an allen bisherigen Feldzügen Napoleons teilgenommen und das militärische Sanitätswesen entscheidend, auch für die Armeen anderer Staaten wegweisend, reformiert hatte.
Napoleon wurde als genialer, siegreicher Feldherr bewundert und von seinen Gegnern gefürchtet, Larrey aber wurde nicht nur bewundert, sondern verehrt und sogar geliebt. Selbst oder gerade feindliche Soldaten sprachen in Ehrfurcht und, sofern er sie behandelt und gerettet hatte, mit Dankbarkeit von ihm. Auf dem Schlachtfeld machte er keinen Unterschied zwischen den eigenen und gegnerischen Verwundeten, was ihm manche Häme und Vorwürfe seiner Landsleute einbrachte.
„Was kümmert er sich um den Feind! Soll er sich lieber um unsere Leute kümmern!“, war dann zu hören.
Larrey ließen solche Bemerkungen kalt. Im Übrigen fand er vollen Rückhalt bei Napoleon, der für seine Anliegen stets ein offenes Ohr hatte und ihm selten einen Wunsch abschlug, sofern er ihn erfüllen konnte. Larrey konnte es sich auch erlauben, dem Oberbefehlshaber der Grande Armée zu widersprechen, was dieser einem anderen äußerst selten gestattete. Dass er des Kaisers Gunst in hohem Maß genoss, lag sicher an seinen großen Verdiensten um das Wohl der Soldaten. Vielleicht spielte aber auch eine Rolle, dass er im Dezember 1793 bei der Belagerung und Einnahme Toulons dem verwundeten jungen Major der Artillerie Buonaparte, wie er sich noch nannte, das linke Bein vor der Amputation gerettet hatte. Schon damals erkannte der spätere Herrscher über Europa Larreys Gabe, eine Verletzung schnell und erfolgreich zu behandeln. Später sagte Napoleon einmal über Larrey: „Wenn er nicht mein Arzt wäre, könnte er mein Freund sein.“
Larreys größtes Verdienst waren die ambulances volantes, die fliegenden Lazarette. Vor ihrer Einführung bedeuteten schwere Verwundungen auf dem Schlachtfeld meist den sicheren, qualvollen Tod. Die Verwundeten lagen nach einer Schlacht oft noch tagelang unversorgt unter freiem Himmel, bei Hitze oder Kälte, Regen oder Schnee. Wenn sie dann noch am Leben waren, wurden sie auf offenen Wagen in ein manchmal weit entferntes Lazarett transportiert, das notdürftig in Kirchen, Klöstern oder Scheunen eingerichtet war und dessen Ausstattung selten den medizinischen und hygienischen Anforderungen entsprach. Viele starben, falls sie den Transport überlebten, in diesen Hospitälern an Infektionen wie Gasbrand oder Wundstarrkrampf. Oft lag die einzige Rettung in der Amputation eines Armes oder Beines, wenn es dafür nicht auch schon zu spät war.
Die fliegenden Lazarette Larreys brachten eine tiefgreifende Verbesserung der medizinischen Versorgung der Verwundeten. Eine ambulance volante, die der kämpfenden Truppe unmittelbar folgte, bestand anfangs aus drei berittenen Chirurgen und einem Helfer. Verbandszeug und chirurgische Instrumente wurden auf Packpferden mitgeführt und waren so bei Bedarf unverzüglich zur Hand. Schon auf dem Schlachtfeld stillten die Ärzte Blutungen und legten Notverbände an. Selbst dringende, lebensrettende Amputationen wurden dort durchgeführt.
Später wurden die fliegenden Lazarette zuerst mit zwei-, dann vierspännigen Kastenwagen ausgestattet, in denen die bereits Erstversorgten zum nächsten Hospital gebracht wurden.
Eine weitere bahnbrechende Neuerung Larreys war, dass er einen zu amputierenden Körperteil nicht mehr unmittelbar an der verletzten Stelle mittels Säge, sondern ihn im Gelenk mit dem Skalpell abtrennte. Diese Technik, in der Larrey jeden an Präzision und Schnelligkeit übertraf, ersparte den Betroffenen die unnötige Qual des viel länger dauernden und schmerzvolleren Sägens.
***
Bei Abensberg erlebte Christoph Napoleon zum ersten Mal aus der Nähe. Die Kämpfe hatten bereits begonnen, als der Kaiser sich im Galopp Christophs Regiment näherte. Einige hundert Schritte davor hielt er auf einer Anhöhe, stieg rasch ab und setzte sich auf einen kleinen Teppich, den zwei seiner Begleiter schnell auf dem feuchten Ackerboden ausgebreitet hatten. Durch ein kurzes Fernrohr verfolgte er das Gefecht, während er gleichzeitig an einen vorgeführten österreichischen Gefangenen Fragen stellte, die man diesem übersetzte. Die Antworten befriedigten Bonaparte nicht. Er zeigte mit der Reitpeitsche auf den Gefangenen und gab das Zeichen, ihn abzuführen. Kurz danach sprang er auf, stieg aufs Pferd und näherte sich im Trab dem württembergischen Regiment, das sich in zwei Bataillonskolonnen aufgestellt hatte. Bevor er in deren Zwischenraum einritt, rief er:
„Le Tambour! Le Tambour!“
Der Brigadegeneral ließ die Trommel wirbeln und der Kaiser ritt langsam in die gebildete Gasse. In deren Mitte hielt er an und Christoph, der nur einige Schritte von ihm entfernt stand, konnte ihn erstmals ganz von Nahem sehen und hören.
Napoleon trug die Uniform der Linieninfanterie mit dem hellgrauen Überrock, der Christoph ebenso wie der kleine Hut an den stadtbekannten Bäcker Weiß in Stuttgart erinnerte. Die württembergischen Soldaten nannten, wenn sie unter sich waren, Napoleon deshalb oft spöttisch den „Beck Weiß“. Unter dem Rock ragte die schmucklose lederne Scheide seines Degens hervor. Im Gegensatz zu seinem Reiter fiel der braunweiße Schecke umso mehr durch kostbares, reichlich goldverziertes Sattel- und Zaumzeug auf.
In kurzer Entfernung zum Kaiser saß zu Pferd General von Franquemont, wie gewöhnlich den Spanischrohrstock auf dem rechten Stiefel aufgestellt. Illegitimer Spross Herzog Karl Eugens, war er trotz seines französischen Namens Württemberger von Geburt und übersetzte, beider Sprachen mächtig, Napoleons Worte des Öfteren ins Deutsche. So auch diesmal:
„Soldaten von Württemberg!“, begann der Kaiser und alle verstummten. „Ihr seid im Begriff, euch mit einem Feind zu schlagen, der seit langer Zeit Deutschland tyrannisiert. Ihr seht als Feinde vor euch Österreicher, Ungarn, Böhmen, die euch einst verächtlich nur die Reichstruppen genannt haben. Beweist ihnen, dass ihr eines besseren Namens würdig seid! Als Beschützer des Rheinbunds habe ich mich an eure Spitze gestellt. Noch nie habe ich dem Feind den Rücken gekehrt und heute werde ich dies auch nicht tun. Ich habe heute keine Franzosen um mich und befinde mich allein unter euch. Zeigt euch dieser Ehre würdig! Ich rechne vorzüglich auf euch.“
Nach kurzer Pause schloss er mit den Worten:
„In vier Wochen sind wir in Wien!“
Wie auf Befehl ertönte aus allen Kehlen einstimmig der Ruf:
„Vive l'empereur!
Nachdem Napoleon die gebildete Gasse durchritten hatte, rief er:
„Le chirurgien-major!“
Regimentsarzt Baur eilte herbei. Mit stark französischem Akzent fragte ihn der Kaiser:
„Haben Sie Gehülf? Genug Bandage?“
„Ja, Sire!“, erwiderte Baur schnell.
Kaum hatte er die Antwort vernommen, galoppierte Napoleon los, dem Gefecht entgegen.
Christophs Regiment rückte vor, kam aber nicht mehr zum Einsatz. Die Österreicher hatten bereits die Flucht angetreten. Verwundete waren nur wenige zu versorgen.
***
Auf seinem Marsch nach Wien, das er noch früher als von ihm vorhergesagt erreichte, reihte der Franzosenkaiser Sieg an Sieg: Landshut, Eggmühl, Regensburg, Ebelsberg und zuletzt Wagram, das für Österreich die endgültige Niederlage brachte. Einzige und für den siegverwöhnten Feldherrn enttäuschende Ausnahme bildete die Schlacht bei Aspern, die seinen Nimbus als unbesiegbarer Stratege erstmals erschütterte und in Europa kurzzeitig Hoffnung auf den Sturz des Usurpators aufkeimen ließ.
Auch für Christoph wäre dies das Ende der immer wiederkehrenden Unterbrechungen seines Studiums gewesen. Ein baldiger Studienabschluss hätte vor allem eine frühere Heirat mit Klara bedeutet. Aber der Sieg bei Wagram zerstörte allerorten die Zuversicht auf das Ende der französischen Vorherrschaft auf dem Kontinent.
Anders als bei Abensberg gab es beim Vorrücken auf Wien nach heftigen, blutigen Gefechten zahlreiche Tote und Verwundete auf beiden Seiten. Christoph und seine Helfer arbeiteten unermüdlich bis zur Erschöpfung. Gliedmaßen mussten amputiert, Blutungen gestillt, Verbände angelegt, Brüche geschient, Gewehr- oder Kartätschenkugeln entfernt werden, soweit sie nicht zu große oder tiefe Wunden gerissen hatten, die eine Amputation unvermeidlich machten.
Dass Christoph inzwischen den Anforderungen eines Feldarztes gewachsen war, verdankte er nicht zuletzt seinem Vorgesetzten, Regimentsarzt Baur, dem er schon bei seinem ersten Feldzug 1805 zugeteilt worden war und der ihn, den noch Unerfahrenen, fast väterlich betreut hatte. Wie Adam Groß bei seinem heranwachsenden Sohn schon früh die besonnene Art und das handwerkliche Geschick bei der Wundversorgung und anderen medizinischen Verrichtungen festgestellt hatte, so erkannte auch Baur Christophs Fähigkeiten und förderte ihn, so gut er nur konnte. Unter seiner Anleitung erwarb sich Christoph Kenntnisse und praktische Erfahrungen, die ihm in der Folgezeit von großem Nutzen waren. Baur, ein hochgewachsener, kräftiger Mann mit energischen Gesichtszügen, war bereits damals ein Bewunderer Larreys. Ein einziges Mal nur war er Zeuge von dessen Geschicklichkeit geworden, als er einer Beinamputation, genauer einer Exartikulation im Hüftgelenk beiwohnte, bei welcher Larrey seine besondere Technik anwandte, das entsprechende Glied mit dem Skalpell im Gelenk abzutrennen und es nicht an einer willkürlich gewählten Stelle abzusägen. Baur war so sehr von Larreys Vorgehen beeindruckt und von deren Richtigkeit überzeugt, dass er sie bald darauf einige Male selbst anwandte, obwohl Amputationen den Wundärzten vorbehalten waren und nicht zu seinem Aufgabenbereich zählten. Er hatte es des Öfteren erleben müssen, dass während einer Schlacht unaufschiebbare Amputationen nicht durchgeführt werden konnten, weil die Chirurgen selbst verwundet oder getötet worden waren. Das hatte in ihm den Wunsch geweckt, selbst zu amputieren, um Verwundete zu retten, die andernfalls sterben würden. Er bat seinen Regimentskommandeur um die Erlaubnis, die Larreysche Methode zuerst an gefallenen Soldaten zu erproben, um sie dann auf dem Schlachtfeld oder im Hospital an Schwerverwundeten durchzuführen.
Nachdem Baur seine Fertigkeit an Toten vervollkommnet und mehrmals bei Amputationen durch erfahrene Wundärzte assistiert hatte, die ebenfalls Larreys Verfahren der Exartikulation anwandten, wagte er sich selbst an diese Technik bei Verwundeten heran. Bei einer dieser Amputationen bat er Christoph, ihm zur Hand zu gehen, der bereitwillig dem Wunsch des von ihm bewunderten Vorgesetzten folgte. Einem noch sehr jungen Soldaten der Linieninfanterie hatte eine Kartätschenladung den linken Arm bis eine Handbreit unter der Schulter zerschmettert. Um den Schwerverwundeten zu retten, der in ein nahes Behelfshospital gebracht worden war, blieb nur die schnelle Exartikulation im Schultergelenk.
Obwohl der Verletzte sich erstaunlich ruhig verhielt und nur vereinzelt stöhnte, gab ihm Baur vor der Amputation etwas Opium.
„Er wird es brauchen und dafür dankbar sein.“, sagte Baur halblaut zu Christoph. „Es wird für ihn und für uns leichter sein. Wenn wir nicht hier im Hospital wären, würde ich ihn nicht betäuben.“
Der Einsatz von Narkosemitteln aus Opium, Bilsenkraut oder Alraune war zwar möglich, aber deren Wirkung schwer zu kontrollieren, so dass bei Amputationen oder anderen schmerzhaften Behandlungen auf dem Schlachtfeld meistens darauf verzichtet wurde. Solange der Verwundete schrie, wusste der Arzt oder Chirurg, dass dieser noch bei Bewusstsein war und um sein Leben kämpfte.
Zwei Helfer legten den Verwundeten auf einen langen Holztisch, von dem ein weiterer Helfer eilig die Blutreste der vorangegangenen Amputation weggewischt hatte, und brachten ihn in eine für den Eingriff vorteilhafte Position. Dann begann Baur mit einem längs geführten Schnitt vom oberen Teil des Schulterknochens abwärts. Dabei zerlegte er die Fasern des Deltamuskels in zwei gleiche Teile.
Der junge, nur leicht betäubte Infanterist hatte den Kopf zur Seite gewandt, so dass er den Vorgang nicht mitansehen musste. Er zuckte kurz und stöhnte leise, als Baur mit dem Skalpell seinen ersten Schnitt durchführte.
„Ziehen Sie jetzt die Haut ganz nach oben!“ sagte Baur zu Christoph, der ihm aufmerksam zusah und seiner Aufforderung schnell nachkam.
Durch zwei weitere Schnitte entstanden ein vorderer und hinterer Lappen, wobei die beiden Sehnen des großen Brustmuskels und des Rückenmuskels einbezogen wurden. Dann schnitt Baur die Anhängsel beider Lappen weg und hieß Christoph die durchtrennten Kranzarterien des Schultergelenks zusammenzudrücken, das nun völlig freigelegt war. Durch einen weiteren Schnitt um den Oberarmkopf trennte Baur das Kapselband und die hier ansetzenden Sehnen, dann die am hinteren Teil des Oberarmkopfs liegenden Sehnen und Bänder ab. Anschließend durchschnitt er das ganze Bündel der Achselgefäße ohne jeglichen Blutverlust. Mit einer Pinzette erfasste er das Ende der Achselschlagader und unterband sie ebenso wie die Kranzarterien.
Die Operation war beendet, der Arm vollständig amputiert. Christophs Aufgabe war es, die Wunde zu reinigen, die beiden Fleischlappen einander anzunähern und sie mit Heftpflastern zusammenzuhalten. Darüber legte er ein Stück feine, vorher in warmen Wein getauchte Leinwand, darauf etwas Werg und eine längliche Kompresse. Den Abschluss bildete eine Bandage.
Der derart Behandelte hatte während der ganzen, in kürzester Zeit durchgeführten Operation kaum einen Schmerzenslaut von sich gegeben. Er war erstaunt, dass, wovor er sich gefürchtet hatte, so schnell gegangen war. Dass ihm ein Arm fehlte und nun ein Leben als Krüppel vor ihm lag, war ihm noch nicht klar und würde ihm erst nach und nach bewusst werden. Im Augenblick war er nur froh, gerettet worden zu sein und fast keine Schmerzen zu empfinden.
Schon einige Tage später hatte Christoph Gelegenheit, unter Baurs aufmerksamer Beobachtung und Assistenz den gleichen Eingriff selbst durchzuführen. Er wollte Baurs Beispiel folgen und Amputationen durchführen, wenn kein Wundarzt zur Verfügung stand. Wie Baur auch, den er als seinen Mentor betrachtete, hatte er im Studium die erforderlichen anatomischen Kenntnisse erworben und beim Sezieren praktische Erfahrungen gesammelt. Sehr zustatten kam ihm außerdem, dass er seinen Vater oft zu Besuchen von Kranken oder Verletzten begleitet und ihm bei deren Behandlung, darunter auch Amputationen, assistiert hatte.
„Groß, ich gratuliere Ihnen.“, lobte Baur nach dem erfolgreichen Verlauf der Exartikulation. „Ich hätte es nicht besser machen können.“
Nach kurzer Pause fuhr er fort, wobei sein Gesicht einen ernsten Ausdruck annahm:
„Wissen Sie, Groß, es klingt sicher sonderbar, aber ich führe, obwohl ich kein Wundarzt bin, lieber eine Amputation durch, als dass ich einen Bauch- oder Brustschuss behandeln muss. Da sind wir Ärzte doch fast immer machtlos und müssen hinnehmen, dass der Getroffene stirbt, weil wir ihm nicht helfen können. Oder anders gesagt: Ein Schuss in den Brustkorb oder in die Bauchhöhle ist fast immer ein Todesurteil.“
Christoph stimmte ihm zu. Oft hatte er erlebt, wie derart Verletzte qualvoll starben, weil die Bleikugel zu tief in Bauch oder Brust eingedrungen war und nicht entfernt werden konnte. Wenn der Getroffene Glück hatte, gelang es dem Wundarzt, die Kugel oder den Kartätschensplitter mit einer Greifzange zu packen und herauszuziehen. Aber selbst das garantierte nicht das Überleben. Häufig starb der scheinbar Gerettete kurz darauf an einer Wundinfektion, besonders dann, wenn der Arzt mit bloßen Fingern das Geschoss entfernt hatte, was zuweilen vorkam. Bei einer größeren Wunde gab es meist keine Rettung mehr.
Womit Christoph sich nicht anfreunden konnte, war die schon seit dem Altertum angewandte Moxa oder Moxibustion, derer sich Larrey gern bediente. Er zweifelte nicht nur an der Wirksamkeit dieser Methode, ihm missfiel auch, dass nach dem langsamen Abbrennen von Beifußkraut oder Baumwolle über einer Wunde nach ihrer Verheilung oft Brandnarben entstanden.
***
Unauslöschlich brannte sich in Christophs Erinnerung das Bild ein, das sich ihm bot, als er Anfang Mai spätabends mit seinem Bataillon auf dem Weg nach Linz durch Ebelsberg an der Traun zog. Nach erbitterten Kämpfen, in denen die Franzosen die Österreicher einmal mehr geschlagen hatten, war der Ort fast völlig zerstört. Die meisten Gebäude waren niedergebrannt, ihre Reste glühten in der Dunkelheit, manche standen noch in Flammen. Dies allein schon war ein gespenstischer Anblick, was Christoph und seine Begleiter aber dann erblickten, überstieg alles, was sie bisher an Schrecklichem gesehen hatten. Überall in den Straßen, besonders in der Hauptstraße, aber auch auf der hölzernen, weit über das Flussufer hinausreichenden Traunbrücke lagen Leichen, viele halb verbrannt, manche bereits verkohlt und selbst von Soldaten derselben Einheit nicht mehr wiederzuerkennen. Unerträglich lag der Geruch von verbranntem Fleisch in der Luft. Christoph hatte in den beiden Feldzügen, die hinter ihm lagen, auf den Schlachtfeldern schon viele Tote gesehen, aber selten in diesem Zustand. Besonders die sehr jungen, an die Schrecken des Krieges nicht gewöhnten Soldaten stiegen verstört und mit verzerrten Gesichtern über die Leichen hinweg oder gingen, gegen die aufkommende Übelkeit ankämpfend, um sie herum.
Als sie die Hauptstraße durchritten, hörten Christoph und der neben ihm reitende Major von Röder aus einem angrenzenden Garten ständig an- und abschwellende Klagelaute und Stöhnen.
Der Major nickte Christoph zu:
„Groß, kümmern Sie sich um den Blessierten! Ich reite weiter. Wir sehen uns später.“
Christoph überließ sein Pferd einem Pfleger mit der Bitte, es dem Bataillon zuzuführen und zu versorgen. Er werde es dort später wieder abholen. Er selbst werde mit einem der Maroden- oder Bagagewagen nachkommen, sobald er den Verwundeten behandelt habe.
Gemeinsam mit einem Unterarzt eilte Christoph in den durch die Flammen erleuchteten Garten, aus dem die Schmerzenslaute kamen. Inmitten von Toten und nur noch leise stöhnenden oder röchelnden Sterbenden lag kopfabwärts an einem abschüssigen Wiesenrain ein noch sehr junger Freiwilliger der österreichischen Infanterie. Eine Kanonenkugel hatte ihm beide Beine zerschmettert.
Sofort war Christoph klar, dass er hier nicht mehr helfen konnte. Aber er wollte dem Sterbenden wenigstens die kurze, ihm noch verbleibende Zeit erleichtern, indem er ihm von dem mitgeführten Opium verabreichen und ihn in eine bequemere Lage bringen würde.
Christophs Vorhaben erkennend, bat der Sterbende mit aller ihm noch verfügbaren Entschiedenheit, ihn nicht zu berühren und ihn hier liegen zu lassen.
„Ich brauche keine Hilfe mehr. Lasst mich in Ruhe sterben!“
So sehr die beiden in ihn drangen, er lehnte jede Hilfe, jede Erleichterung ab und ersehnte nur noch den baldigen Tod, so dass den Zurückgewiesenen nichts anderes übrig blieb, als ihm seinen Wunsch zu erfüllen.
***
Untragbare Zustände herrschten in den überfüllten Hospitälern. Eines davon hatten die Franzosen in Sankt Pölten, wohin Christoph beordert wurde, in der weiträumigen Klosteranlage eingerichtet. Zeitweise lagen dort bis zu achthundert Verwundete und Kranke, die auf Rettung hofften. Was Amputationen, Verletzungen und Wundbrand nicht schafften, erledigte das typhöse Fieber, dem selbst die Mehrzahl der behandelnden Ärzte zum Opfer fiel. Einer nach dem anderen wurde vom Typhus dahingerafft.
Der für Sankt Pölten und somit auch für das Hospital zuständige französische Befehlshaber bestimmte deshalb Christoph zu dessen Leiter mit der Zusage, dass ihn bald ein französischer Arzt ablösen würde.
An der baldigen Ablösung zweifelnd, gehorchte Christoph nur widerwillig dem Befehl, der ihn von seinem weiterziehenden Regiment und seinen württembergischen Landsleuten trennte. Dennoch versah er seinen Dienst mit aller Sorgfalt und der unablässigen Bereitschaft zu helfen.
Da das Hospital überbelegt und nicht viel Zeit zu dessen Einrichtung geblieben war, konnte es den Vorschriften, die die Ausstattung eines französischen Militärhospitals regelten, nur unzureichend genügen. Die Bestimmungen schrieben vor, dass die Krankenbetten so aufgestellt sein mussten, dass man um sie herumgehen konnte und sie Ärzten und Pflegern von allen Seiten zugänglich waren. Jedem Kranken stand ein Bett aus einem Strohsack zu, ferner eine mit Zwillich überzogene Wollmatratze, zwei Betttücher, die alle vierzehn Tage, bei Verschmutzung aber sofort gewechselt wurden, eine wollene Decke und ein Wollkissen. Bei seiner Einlieferung sollte der Verwundete oder Kranke leinene Pantalons und ein weißes Hemd, die beide wöchentlich ausgetauscht wurden, eine Mütze und einen grauen Mantel erhalten. Zusätzlich sollten ihm ein Becher und eine Schüssel, jeweils aus Zinn, ein Krug für die Tisane, den Kräuter- oder Früchtetee, ausgehändigt werden. Alle Gefäße waren von den Krankenwärtern täglich gründlich zu reinigen. Verstöße wurden mit Arrest bestraft. Den Wärtern war es bei Strafe verboten, den Kranken für Geld etwas zu essen oder zu trinken zu besorgen, sofern der Arzt es nicht bewilligt hatte. Patienten mit der gleichen Krankheit wurden gewöhnlich zusammen in denselben Saal oder Raum gelegt. Um Ansteckungen zu vermeiden, durften sie nicht von einem in den anderen Raum gehen.
In einer noch vom französischen Nationalkonvent verfassten Instruktion für die Krankenwärter, die Christoph als sehr übertrieben betrachtete, hieß es, „dass kein Krankenwärter sich unterstehen solle, einen Priester zu einem Kranken zu lassen, denn da, wo man die Menschheit pflege, müsse der Fanatismus sich nicht einschleichen. Dieser mache schon Gesunde krank und gewiss Kranke noch kränker.“
Andererseits gab es auch die Anweisung, der Christoph voll zustimmte, „durchaus keinen Unterschied der Personen zu machen, für Fremde ebensogut wie für Franzosen zu sorgen und jedem Hilfsbedürftigen nach Vermögen zu dienen.“
All diese Vorschriften, Bestimmungen und Verbote mochten gut gemeint sein, ließen sich aber im Ernstfall wie hier in Sankt Pölten oft nur ungenügend durchsetzen.
Das Christoph in Sankt Pölten unterstellte geringe Personal bestand nur aus ein paar Hilfschirurgen, einem Apotheker und zumeist aus Rekonvaleszenten, die man ohne allzu große Rücksicht auf den Grad ihrer Genesung als Krankenwärter verpflichtet hatte. Jeden Morgen wurde Christoph vom Oberkrankenwärter, einem baumlangen, ehemaligen Schmied aus der Auvergne, mit einem gebrummten „Bonjour monsieur!“ begrüßt, worauf er die ständig wachsende Zahl der über Nacht Gestorbenen hinzufügte:
„Dix sont morts.“ oder „Douze sont morts.“, sagte er fast teilnahmslos.
Einige Male erlitt Christoph einen Anfall von Schwäche, fiel sogar in eine kurze Ohnmacht, aber vom Typhus blieb er verschont. Er führte das darauf zurück, dass er vor drei Jahren in Neckarbischofsheim, wo ihn Klara so liebevoll gepflegt hatte, an Typhus erkrankt war und deshalb gegen einen erneuten Ausbruch der Krankheit gefeit schien.
Wenn ihn jetzt im Hospital Erschöpfung und Kraftlosigkeit überkamen und ihn die Angst befiel, sich doch angesteckt zu haben, eilte er zu einem der Fenster, öffnete es und atmete ein paarmal tief durch. Zusätzlich trank er von der stets vorrätigen potion cordiale, einer Pomeranzenschalentinktur gemischt mit rotem Wein und Zucker.
Bei den Schwerkranken halfen solche einfachen Mittel nicht. Über Weiterleben oder Sterben entschied letztlich die körperliche Verfassung, in der sich der Kranke vor seiner Verwundung oder Ansteckung befunden hatte. Wer von robuster Natur war, hatte gewöhnlich bessere Aussichten zu überleben. Das sich unaufhaltsam ausbreitende bösartige Hospitalfieber oder, wie Christoph im Studium gelernt hatte, der Typhus contagiosus nosocomialis begann mit ansteigendem Fieber, starken Kopfschmerzen und Schüttelfrost. Bei den Verletzten, die im Hospital die größte Gruppe bildeten, kam zum Typhus der Hospitalbrand dazu, bei dem der entstandene Eiter aschgrau, dick und klebrig wurde und Ekel erregend roch. Die Wundränder schwollen an und färbten sich schwarz. Die Kopfschmerzen verstärkten sich, der Herzschlag wurde schneller und unregelmäßig. Heftige Oberbauchschmerzen, Koliken und Erbrechen, völlige Harnverhaltung, vermehrter Stuhlabgang mit schwärzlichem Blut und Nasenbluten folgten. Der Kranke verlor das Bewusstsein. Wenn er, wieder erwacht, sich bewegte, geschah es ruckartig wie bei einer Marionette. Die Gesichtszüge waren entstellt. Immer öfter setzte der Puls aus. Im weiteren Verlauf schlug die Verwirrtheit des Kranken in Raserei um und es traten Schüttelkrämpfe am ganzen Körper auf. Im letzten Stadium schwoll der Leib auf, die inneren Krämpfe steigerten sich ins Unerträgliche. In völliger geistiger Verwirrung verfiel der Patient, dessen brandige Wunden einen weithin wahrnehmbaren üblen Geruch verbreiteten, schließlich in einen Zustand äußerster körperlicher Schwäche und wurde nach fünf bis sieben, selten nach neun Tagen von seinem Leiden erlöst.
***
Christophs Zweifel an einer baldigen Ablösung durch einen französischen Arzt bestätigten sich. Erst nach vier Wochen erschien im Sankt Pöltener Militärhospital ein älterer Chirurgien, der ihn von seiner schweren, kräftezehrenden Aufgabe entband.
Während seines Aufenthalts in Sankt Pölten wohnte Christoph wie zwei Jahre zuvor in Neckarbischofsheim bei einer Kaufmannsfamilie, die den jungen Gast freundlich wie einen Landsmann aufnahm und ihn nie spüren ließ, dass er bei ihr zwangseinquartiert war und einer feindlichen Invasionsarmee angehörte.
„Wir sprechen doch die gleiche Sprache und ihr Württemberger wurdet doch wie die Bayern und andere nur gezwungen, mit dem Franzosenkaiser in den Krieg zu ziehen.“, meinte einmal Kaufmann Prell, dessen rundliche Gestalt sein gemütliches, stets freundliches Wesen unterstrich. Für etwaige gedankliche Verbindungen seines Namens zu seinem Beruf gab es keinen Anlass, fand Christoph.
„Das ist wahr.“, erwiderte Christoph erleichtert und froh, sich nicht rechtfertigen zu müssen. Es war ihm oft, besonders in den ersten Tagen seiner Einquartierung, unangenehm, in eine ihm fremde Familie einzudringen, mit ihr bei der Abendmahlzeit am selben Tisch zu sitzen, zu essen und zu trinken, was er nicht bezahlt hatte. Eigens für ihn hatte man die Kammer der Dienstmagd, die seinetwegen in der Küche auf einer Pritsche schlafen musste, wohnlich hergerichtet.
Wenn Christoph abends müde und erschöpft aus dem Hospital kam, bot ihm der Hausherr oder seine Frau ein Glas Wein an und fragte mitfühlend, wie sein Tag und die Arbeit im Hospital gewesen seien.
Auch die Kinder, zwei Mädchen, zehn und neun Jahre alt, und ihr sechsjähriger Bruder hatten Christoph bald ins Herz geschlossen. Im Umgang mit jüngeren Geschwistern erfahren, beantwortete er geduldig ihre nicht endenden Fragen.
„Christoph“, er hatte ihnen diese Anrede erlaubt, obwohl ihre Eltern sie deshalb rügten, „sind heute wieder Leute gestorben? Hast du wieder operiert? Hast du ein Bein oder einen Arm abgeschnitten?“
„Das heißt nicht abgeschnitten, sondern amputiert.“, verbesserte dann die Mutter, eine energische, kräftige Frau Mitte dreißig, deren lange, hinten zusammengeknotete schwarze Haare schon ein paar graue Strähnen durchzogen.
Als Christoph die Order erhielt, sein Regiment in Wien aufzusuchen, hatte er beim Abschied nicht den Eindruck, dass seine Wirtsleute und die Kinder sich über seine Abreise freuten.
„Sie müssen uns auf jeden Fall besuchen, falls Sie auf dem Rückmarsch von Wien wieder hier durchkommen. Sie sind uns immer willkommen.“, versicherte seine Gastgeberin.
„Das werde ich bestimmt tun.“, entgegnete Christoph gerührt.
Der französische Ortskommandant wollte Christoph aus Dankbarkeit und Anerkennung für seinen mehrwöchigen Einsatz im Hospital einen Einspänner für die Reise nach Wien zur Verfügung stellen. Doch Prell bestand darauf, ihn selbst in seinem eigenen Gefährt dorthin zu fahren.
Christoph hatte sich schon einige Male gefragt, was wohl der Grund für die herzliche Aufnahme durch Prell und seine Familie sein mochte. Auch jetzt nach Prells großzügigem Angebot, ihn nach Wien zu bringen, stellte er sich erneut diese Frage und fand nur eine Erklärung: Prell hatte einmal erwähnt, dass er einen jüngeren Bruder, Joseph mit Namen, gehabt habe, der mit neunzehn Jahren an Diphtherie gestorben sei. Und diesem Bruder, den er sehr geliebt habe, sehe Christoph ähnlich. Auch in seinen Bewegungen, selbst in der Stimme ähnele er Joseph.
Nach zwölfstündiger Fahrt erreichten sie die südlich von Wien gelegene Ortschaft Oberdöbling, wo Christophs Regiment seit einigen Wochen kampierte, während das Gros der napoleonischen Streitmacht östlich der Hauptstadt auf dem Marchfeld lagerte.
Christoph meldete sich bei seinem Vorgesetzten und bat ihn, erst am nächsten Morgen seinen Dienst antreten zu dürfen, was dieser sofort erlaubte. So stimmte Christoph Prells Vorschlag zu, mit ihm nach Wien hinein zu fahren, dort in einem Gasthof zu speisen und zu übernachten.
Schon während der langen Fahrt von Sankt Pölten nach Wien hatte Prell Christoph angeboten, ihm eine größere Summe Geld zu leihen, weil dieser, von seinem Regiment getrennt, seit Längerem keinen Sold erhalten hatte.
Prell sprach von mehreren hundert Gulden, die Christoph ruhig annehmen könne.
„Aber ich weiß doch gar nicht, ob und wann ich sie Ihnen zurückzahlen kann.“, wandte Christoph ein.
Der Kaufmann ließ nicht locker und Christoph nahm schließlich einhundert Gulden von ihm an. Als er dafür eine Quittung ausstellen wollte, wies Prell das entschieden zurück und bemerkte in der nüchternen Art eines Kaufmanns:
„Wenn Sie am Leben bleiben, so bekomme ich das Geld gewiss wieder zurück. Wenn nicht, so würde ich mich stets freudig daran erinnern, Ihnen ausgeholfen zu haben.“
Ganz in der Nähe der Hofburg stiegen sie in einem einfachen, aber sauberen Gasthof ab, in dem Prell schon bei früheren Wienbesuchen übernachtet hatte und deshalb vom Wirt aufs Freundlichste begrüßt wurde. Nicht ganz so freundlich, aber doch nicht abweisend hieß er auch Christoph, an seiner Uniform sofort als Besatzer zu erkennen, willkommen.
„Die Herren haben Glück. Ein Zimmer ist noch frei. Macht es Ihnen etwas aus, sich das Zimmer zu teilen?“ fragte im weichen, melodischen Wiener Tonfall der Wirt, dessen gerötete Nase verriet, dass er den Getränken, die er seinen Gästen servierte, ebenfalls zusprach.
Prell und Christoph, die froh waren, eine Unterkunft gefunden zu haben, sahen einander kurz an, lachten und antworteten fast gleichzeitig:
„Nein, das macht uns nichts aus.“
Christoph ergänzte:
„Wir haben jetzt vier Wochen unter einem Dach gewohnt. Da können wir leicht auch eine Nacht im selben Zimmer verbringen.“
„So ist es.“, bestätigte Prell.
Preiswert wie das Zimmer war auch das köstlich zubereitete Abendessen, das sie ebenso wie den vortrefflichen Weißwein nach der langen Tagesreise genossen. Prell wollte Christoph unbedingt einladen, der sich gegen diese erneute Großzügigkeit aber energisch wehrte.
Schon bald nach dem Essen verließen sie die überfüllte Gaststube und stiegen die ausgetretenen Steinstufen zu ihrem Zimmer im ersten Stock hinauf. Beide waren zu müde, um sich an dem leicht muffigen Geruch in dem schlecht gelüfteten Raum zu stören. Nach ein paar Bemerkungen über den vergangenen Tag, aber auch über die politische und militärische Lage verstummten sie nach kurzer Zeit, wünschten einander eine gute Nacht und waren alsbald eingeschlafen.
Gewaltige, schnell aufeinanderfolgende Detonationen erschütterten am nächsten Morgen, als die beiden noch etwas verschlafen beim Frühstück saßen, Boden und Wände der Gaststube. Erschreckt fuhren sie hoch. Alle im Raum rannten auf die Straße. Der Wirt stürzte hinterher und rief:
„Meine Herren, beruhigen Sie sich! Kein Grund zur Aufregung! Die Franzosen sprengen unsere Stadtmauern. Ich habe gestern vergessen, Sie vorzuwarnen. Verzeihen Sie!“
Nachdem sich alle beruhigt hatten, spottete der Wirt:
„Napoleon will wohl vorsorgen. Eilig, wie er es immer hat, sollen die Stadtmauern seinen Einmarsch in Wien nicht noch einmal behindern und verzögern, wenn er uns das nächste Mal mit seinem Besuch beehrt.“
Prell wartete, bis die Mineure, die ihr Handwerk meisterlich beherrschten, die Sprengungen beendet hatten und alle Straßen wieder passiert werden durften, und brachte dann Christoph in seinem Einspänner zum Regiment nach Oberdöbling. Er verabschiedete sich mit großer Herzlichkeit. Christoph versicherte ihm, das geliehene Geld schnellstmöglich zurückzuzahlen.
„Das weiß ich doch.“, wiegelte Prell ab. „So oder so, wir werden uns immer über Ihren Besuch freuen.“
Nach Wien kam Christoph nur noch einmal und konnte so bloß einen Teil der prächtigen, eindrucksvollen Bauten der Kaiserstadt bewundern. Reges Treiben und die farbenfrohe Vielfalt der Uniformen erfüllten die Promenaden, Gassen und Plätze und belebten sie mehr noch als in Friedenszeiten. Christoph bedauerte, nicht häufiger in die Stadt zu kommen, auch weil alles wohlfeil zu kaufen war, da der Wert des Papiergeldes so stark gesunken war, dass man für einen Dukaten bis zu achtzig Gulden erhielt. Ein gutes Mittagessen kostete ebenso wie die Flasche Wein dazu jeweils einen Gulden.
Einige Monate früher, Ende Mai, wäre es ihm bei einem Besuch Wiens weitaus weniger gut ergangen, berichtete Christoph ein Unterarzt seines Regiments, der nicht wie er im Sankt Pöltener Hospital Dienst tun musste, sondern gleich mit dem Gros der Truppen nach Wien mitgezogen war. Er erzählte, wie es damals zu einer drastischen Teuerung kam und eine Hungersnot in der Stadt ausbrach. Vor allem litten die Einwohner unter dem Mangel an Brot, das sie nur überteuert und nach stundenlangem Warten vor den Bäckereien ergattern konnten. Die Fleischerläden öffneten nur unter Polizeischutz, um sich des Ansturms der Hungernden zu erwehren.
Es war am dritten Tag seines Aufenthalts in Oberdöbling, als sich etwas ereignete, das, wäre es von Erfolg gewesen, Christophs Leben und dem Schicksal Europas eine Wendung gegeben hätte, die von Millionen herbeigesehnt wurde, an die aber kaum jemand noch glaubte: Napoleon, der in Schönbrunn eine Truppenparade abnahm, wäre beinahe einem Attentat zum Opfer gefallen. In Windeseile verbreitete sich die Nachricht in Wien und hinaus bis in Christophs Standquartier.
Ein junger Deutscher, Friedrich Staps mit Namen und Sohn eines Pfarrers, war eigens aus Erfurt angereist, um vor allem Deutschland vom Joch des verhassten Franzosenkaisers zu befreien, dem er die Schuld an allem Leid und aller Not in seinem Heimatland gab. Bevor er aber zu Napoleon vordringen konnte, wurde man auf den sich auffällig durch die Menge vorwärts Drängenden aufmerksam und nahm den mit einem langen Messer Bewaffneten fest, bevor er sein Vorhaben ausführen konnte. Als er Napoleon vorgeführt wurde, fragte ihn dieser in großmütiger Laune:
„Wenn ich Sie nun begnadige, wie werden Sie es mir danken?“
Unbeirrt, den sicheren Tod vor Augen, antwortete der Siebzehnjährige:
„Ich werde darum nicht minder Sie töten.“
Vier Tage später wurde er hingerichtet.
Schon fünf Tage nach seiner Ankunft erhielt Christoph einen ungewöhnlichen, seiner eigentlichen Aufgabe als Wundarzt nicht entsprechenden Auftrag.
Er sollte einen von plötzlicher Geistes- und Gemütsstörung befallenen Oberleutnant der Kavallerie namens Eduard von Miller zu seiner Familie nach Ludwigsburg begleiten. Emil, der jüngere Bruder des Kranken, Leutnant der königlichen Leibjäger, war eigens für dessen Transport in einem bequemen Reisewagen aus Stuttgart gekommen.
Zu dritt brachen sie am Morgen auf und fuhren die Christoph schon bekannte Strecke in Richtung Sankt Pölten. Schon bald erreichten sie Purkersdorf, wo der Leutnant einen dort einquartierten befreundeten Offizier besuchen wollte. Da der Besuch nur kurz dauern sollte, blieb der Kranke mit Christoph allein im Wagen zurück.
Wortlos saßen sich beide gegenüber. Schon zu Beginn der Fahrt war Eduard von Miller Christoph feindselig begegnet. Daran hatte auch nichts geändert, dass Christoph ihn an ihre gemeinsame Schulzeit in Ludwigsburg erinnerte, während der sie Freunde waren und Christoph ihn dort in seinem Elternhaus oft besuchte. Entweder hatte er das in seiner derzeitigen Verwirrtheit vergessen oder es war für ihn jetzt bedeutungslos.
Ganz plötzlich hielt Christophs Gegenüber eine Pistole in der Hand, die sein Bruder unbedacht in einer Seitentasche des Wagens zurückgelassen hatte. Mit hasserfülltem Blick zielte der Verwirrte auf Christophs Gesicht, dann auf seine Brust, dann wieder aufs Gesicht, abwechselnd mit gespanntem und gesichertem Hahn.
Der Gefahr bewusst, in der er schwebte, zwang sich Christoph dazu, keine Furcht zu zeigen und blickte Eduard ruhig und fest in die unstet flackernden Augen, bis dieser nach endlos scheinenden Sekunden den Blick senkte und kraftlos den Arm mit der Waffe sinken ließ.
Kurz darauf kam Emil von Miller zurück und erschrak heftig, als er die geladene Pistole in der Hand seines Bruders erblickte. Hastig entriss er ihm die Waffe.
„Tut mir schrecklich leid, Christoph.“ stieß er hervor. „Wie konnte ich nur so unvorsichtig sein. Ich darf mir gar nicht vorstellen, was hätte geschehen können. Verzeih!“
„Ist ja noch einmal gut gegangen.“, beschwichtigte Christoph.
Den Rest der Fahrt sprachen sie wenig miteinander. Eduard starrte schweigend auf den Wagenboden.
Am Abend kamen sie müde und hungrig in Sankt Pölten an, stiegen in einem Gasthof ab, bestellten eine einfache Mahlzeit und begaben sich bald nach dem Essen auf ihre Zimmer.
Groß war die Freude, als Christoph am nächsten Morgen vor der Weiterfahrt die Familie Prell aufsuchte. Obwohl er sich erst vor einer Woche verabschiedet hatte, empfing man ihn, als ob er lange Zeit fort gewesen wäre. Besonders die Kinder freuten sich über seine frühe Rückkehr.
„Christoph! Christoph! Bleibst du jetzt bei uns? Bleib doch bei uns! Bitte!“
„Das geht leider nicht.“, lachte Christoph. „Ich muss einen wichtigen Auftrag erledigen.“
Als er die enttäuschten Gesichter der Kinder sah, fügte er schnell hinzu:
„Aber ich komme wieder, sobald ich kann.“
Er glaubte nicht, dass er noch einmal nach Sankt Pölten käme. Die Vorstellung, Prell und seine Familie wahrscheinlich nicht wiederzusehen, machte ihn ein wenig traurig. Aber er bemühte sich, das zu verbergen.
Prell gab er das geliehene Geld zurück.
„Sie haben mir sehr geholfen. Noch einmal vielen Dank.“
„Das hätte doch nicht geeilt.“
„Doch, doch. Ich habe inzwischen meinen ausstehenden Sold bekommen. Und ich habe nicht gerne Schulden.“
„Und Sie haben noch genug für die Reise?“, fragte Prell mit der gewohnten Fürsorglichkeit.
„Ja, ja. Keine Sorge.“
Der Abschied fiel allen schwer. Wie Christoph ahnten auch sie, dass es ein Abschied für immer sein würde.
„Vielleicht sehen wir uns in friedlicheren Zeiten wieder.“, versuchte Christoph die bedrückte Stimmung aufzuhellen.
Die ganze Familie Prell folgte ihm auf die Straße, wo alle Christoph umarmten und ihm Lebewohl sagten.
Auf dem Weg zum Gasthof, in derselben Straße wie das Prellsche Haus gelegen, drehte sich Christoph immer wieder um und winkte den Zurückbleibenden zu.
Emil und Eduard von Miller warteten bereits vor der Kutsche und nachdem Christoph sein Gepäck aus dem Gasthof geholt und eingeladen hatte, fuhren sie los und verließen den Ort, in dem Christoph täglich Elend, Leid und Tod gesehen hatte, ihm aber auch unerwartet Zuneigung widerfahren war.
Ludwigsburg erreichten sie ohne weitere Zwischenfälle und übergaben den Kranken seiner Familie, wo er sich bald erholte, so dass er nach ein paar Monaten den Militärdienst wieder aufnehmen konnte.