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ZWEI

Frank Schuster und Klaus Behrens waren tatsächlich seit so vielen Jahren engste Freunde, dass sie gelegentlich in geselliger Runde flachsten, sie wären ein eineiiges Zwillingspaar mit zwei leiblichen Müttern. So ein Wunder geschehe nur in der DDR, behaupteten sie. Tatsächlich konnten sich die zwei jungen Männer nicht daran erinnern, jemals für mehr als ein paar Tage voneinander getrennt gewesen zu sein. Ihre Freundschaft erschien ihnen so selbstverständlich wie die verrinnende Zeit. Gemeinsam verbrachten sie ihre Abende und Wochenenden, gingen zusammen zu Feten, schleppten ab und zu zwei Mädchen ab, die sie zu einem nächtlichen Fondue einluden, verliebten sich auch mal zur gleichen Zeit, um dann als Quartett um die Blöcke zu ziehen, fuhren gemeinsam in den Urlaub, besprachen ihre beruflichen Pläne und teilten miteinander alle Sorgen. Wenn einer von ihnen feststellte, dass ihm das Mädchen des anderen nicht mehr gefiel, erfolgte über kurz oder lang die Trennung von beiden. Als wäre es den Freunden die Zeit nicht wert, sich wegen eines Mädchens in Diskussionen zu verlieren. Man bekam Frank und Klaus eben nur im Doppelpack, entweder beide oder keinen.

Fragte sie jemand, ob sie Brüder wären, grinsten sie mehrdeutig und wackelten schelmisch mit den Köpfen. Sie hatten beide am 22. April 1952 das Licht der Welt erblickt, Frank um neun Uhr, Klaus um zwölf Uhr, im Kreißsaal des Krankenhauses am Friedrichshain. Am Handgelenk hing ihr Bändchen mit den Namen Behrens und Schuster, die erschöpften Mütter schliefen. Als sie aufwachten, sagte man ihnen, dass sie einen Jungen geboren hätten, und die Mütter nannten der Schwester die Vornamen ihrer Söhne. Wie Zwillingsbrüder lagen sie schlafend nebeneinander in ihren Bettchen. Beide wogen um die 3500 Gramm, auffallend waren ihre vorgeschobenen Lippen, eine Schnute, die ihrem Gesicht etwas Herausforderndes verlieh. Klaus Behrens und Frank Schuster sahen sich verblüffend ähnlich, soweit man das behaupten kann, wenige Stunden nach der Geburt.

Am Abend desselben Tages standen ihre Väter unbeholfen vor einer verglasten Wand der Entbindungsstation, vor sich die Scheibe, dahinter ein leerer Raum, und warteten auf das Erscheinen ihrer Söhne. Es war jeweils ihr erstes Kind, angespannt richteten sie ihren Blick nach vorn. Sie wechselten einige Worte miteinander, um die Zeit zu überbrücken. Verlegen witzelten sie, dass es hier wie im Varieté zugehe, wo man auch darauf warte, dass jemand aus dem Vorhang tritt, um den nächsten Star vorzustellen. Schließlich öffnete sich eine Tür und zwei Krankenschwestern betraten den kleinen Raum, von dem sie die Fensterfront trennte. Jede trug ein kleines Bündel im Arm, aus dem ein Köpfchen und zwei Ärmchen ragten. Wie auf Kommando streckten die Schwestern den staunenden Vätern ihre wertvolle Fracht entgegen, als wollten sie ihnen ein Geschenk überreichen. Die Männer starrten auf die kleinen Wesen, winkten kurz und nickten mehrmals wie zur Freude über das Geschenk. Sie sahen sich kurz an, als käme ihnen gleichzeitig die Frage in den Sinn, welches Baby eigentlich zu wem gehörte. Die erfahrenen Geburtshelferinnen traten einen Schritt nach vorn und deuteten auf ein Bändchen am Handgelenk der Kinder. Daraufhin wechselten Herr Behrens und Herr Schuster ihre Positionen. Jetzt standen sie ihren Söhnen Klaus und Frank direkt gegenüber. Die Schwestern strahlten sie ein letztes Mal an und verabschiedeten sich mit einer Mundbewegung, die man als ein »Macht’s dann mal gut« lesen konnte. Die Väter waren sich auf Anhieb sympathisch und beschlossen, anschließend in der Nähe ein Bier zu trinken. Aus einem wurden mehrere und dem Abend folgten weitere. Sie wurden zwar nie enge Freunde, aber gute Bekannte. Die Familien wohnten nicht weit voneinander und besuchten sich anfangs gelegentlich. Sie achteten darauf, dass sich die Kinder sahen, und schafften es, beide im selben Kindergarten unterzubringen. Auch die Einschulung erlebten die Söhne Seite an Seite, sich bereits wie zwei Brüder fühlend. Es schien, als hätten sich die Väter an dem Tag, als ihnen die Jungen wie ein Siegerpokal entgegengehalten wurden, geschworen, sie zusammen aufwachsen zu sehen. Es blieben ihre einzigen Kinder.

Franks Eltern ließen sich später scheiden, als die Kinder kurz vor dem Abitur standen. Frank hielt engen Kontakt zu seiner Mutter, nicht jedoch zum Vater, dem er das Scheitern ihres Familienlebens anlastete. Er war der Meinung, dass seines Vaters Lethargie und Gleichgültigkeit dazu führten, dass die Familie zerfiel. »Du hättest dich mehr um Mama als um deine Verkehrsbetriebe kümmern sollen«, sagte Frank zum Abschied.

Obwohl sich Herr Behrens und Herr Schuster im Verlauf der Jahre aus den Augen verloren, verband sie die Freundschaft ihrer Söhne wie ein unsichtbares Band. Während Frank sich an seine Mutter hielt, zog es Klaus zu seinem Vater, den er wie einen Heiligen vergötterte. Als Klaus achtzehn Jahre alt war, starb Frau Behrens an Krebs und Klaus’ Bindung zum Vater wurde noch enger. Die beiden lebten einträchtig zusammen in ihrer Neubauwohnung am Alexanderplatz, und für den Vater war tatsächlich sein Sohn der einzige wahre Freund.

Das war nun achtundzwanzig Jahre her, seit man Klaus und Frank vor die Scheibe gehalten hatte, und aus ihnen waren junge Männer geworden, die sorglos in den Tag hinein lebten. Beide waren hochgewachsen, mit klar geschnittenen Gesichtszügen und einem offenen Blick, der Neugierde und Lebensfreude verriet. Man spürte zwischen ihnen eine Vertrautheit, wie man sie bei Menschen findet, die sich offenbar seit Ewigkeiten kennen. Die frischen Gesichter prägten volle geschwungene Lippen, und die gleiche kleine Kerbe im Kinn verstärkte den Eindruck, auf ein zupackendes Brüderpaar zu treffen.

Klaus war der unruhigere der beiden, und wenn man sich mit ihm in Gesellschaft befand, schien es manchmal, als müsste er jeden Augenblick zu einem wichtigen Termin aufbrechen. Eine unstillbare Neugierde trieb ihn um, gepaart mit einer gewissen Unstetigkeit, wie man sie gelegentlich bei Menschen antrifft, denen es an Geduld fehlt. Seine blonden Haare waren immer kurz geschoren, so dass die dicht anliegenden Ohren frei blieben, seine gerade Nase unter der glatten Stirn passte sich der ovalen Gesichtsform an. In seinen Zügen lag zwar noch die Harmonie der unbeschwerten Jugend, aber sobald ihn etwas quälte, gruben sich feine Falten in die Mundwinkel und deuteten an, dass er den ernsten Seiten des Lebens begegnet war. Eine Mischung aus Trotz und Angriffslust lag dann in seinem Blick und zeugte von starkem Willen. Er sprach überraschend leise, mit einer besänftigenden Stimme, wie jemand, der einen Streit schlichtet. Seine Stimme zähmte das unruhige Temperament. Während er etwas erläuterte, musterte er aus grauen Augen sorgfältig die Zuhörer. Er funktionierte wie ein vollgeladener Akku, aus dem die Energie gut geregelt abfloss. Ursprünglich wollte Klaus Medizin studieren. Das Fach kam seinem Interesse an allem Rätselhaften entgegen. Besonders zogen ihn psychologische Fragestellungen an, die er für geheimnisvoller hielt als Krankheiten, die mit der Apparatemedizin erfasst werden konnten. Eine Grippe oder einen Knochenbruch zu diagnostizieren, empfand er als langweilig, man maß das Fieber und schluckte Aspirin, oder fertigte eine Röntgenaufnahme an und legte einen Gips an. Da blieb nichts Rätselhaftes. Liebeskummer, Leid oder Neid waren nicht so leicht zu behandeln. Die Ursachen, die den einen ins Unglück reiten, während andere sie wie einen Wespenstich abtun, hätte er gern erforscht. Das Abiturzeugnis reichte leider nicht, zudem zählte er nicht als »Arbeiterkind«, ein Umstand, der ihn quasi an der Warteschlage vorbei nach vorn gebracht hätte. So wurde er an der biologischen Fakultät immatrikuliert. Während des Studiums hospitierte er in einigen klinischen Laboren, um sich sein Gefühl für die Medizin zu bewahren. Nach der Diplomprüfung bewarb er sich am Institut für Wirkstoffforschung in Berlin. Er wurde zu einem Gespräch eingeladen, und als er abends seinem Vater von dem Verlauf berichtete und ihm sagte, dass er sich nicht sicher sei, ob er die Stelle bekäme, nickte der schweigend und prostete ihm zu. Einige Tage später erhielt Klaus einen Arbeitsvertrag als wissenschaftlicher Assistent. Sein Forschungsgebiet beinhaltete anfänglich die Entwicklung neuer Psychopharmaka. Klaus war von der Arbeit begeistert, erinnerte sie ihn doch an seinen Studienwunsch und bahnte ihm den Zugang zu den Patienten.

»Ich kann über die Wirkung meiner Medikamente eine in der Seele verborgene Unwucht aufdecken und korrigieren«, schwärmte er seinem Vater vor.

Der Vater war ziemlich erstaunt und konnte es sich nicht verkneifen anzumerken, dass ihm gerade die Wünschelrute einfiel. Klaus winkte ab und sprach von der Zusammenarbeit seiner Abteilung mit dem Arzneimittelkombinat GERMED in Dresden und dem Weltniveau, das es zu erreichen galt. Augenblicklich glätteten sich die Unmutsfalten seines Vaters. Also doch was Handfestes, ein volkswirtschaftlich bedeutendes Projekt, schloss er für sich.

Frank lauschte zwar ergriffen, als Klaus ihm von neuen chemischen Leitstrukturen vorschwärmte, die als »Pillen materialisiert« den Patienten Ängste, Niedergeschlagenheit oder Depressionen nehmen würden, bemerkte aber ironisch, dass der Normalbürger in der Republik doch kaum Angst vor etwas haben müsse, einen neuen Engpass oder eine Autopanne mal ausgenommen. Klaus schüttelte nachsichtig den Kopf und klärte ihn darüber auf, dass bestimmte Formen der Trauer, Angst, Verzweiflung oder Depression nicht mit der Realität zu erklären seien. Das Leben könne noch so schön sein, alles bereithalten, was man sich wünschte, sorgenfrei erscheinen und planbar wie das Auftauchen des Mondes am Nachthimmel, und doch fielen Menschen plötzlich in ein dunkles Loch.

»Und aus dem holst du sie also mit einer Tablette wieder raus«, schlussfolgerte Frank skeptisch.

Die Wirkungsweise von Antidepressiva interessierte ihn so wenig wie das Leben der Fledermäuse. Er wollte nicht glauben, dass es in der DDR Bürger gab, deren Schicksal von den Leitstrukturen irgendwelcher Substanzen abhing. Klaus nickte und ergänzte, dass selbst in Ländern, wo es buchstäblich alles zu kaufen gebe und die Leute sogar ins Ausland zum Jagen reisten, Menschen an Depressionen erkrankten. Das Ganze komme aus der Tiefe der Seele, sagte er, und tippte Frank auf die breite Brust. Metaphysik, befand der Ingenieur in Frank.

Er war der praktischere von beiden und hatte trotz Einser-

Abitur nur ein dreijähriges Studium an der Ingenieurschule für Maschinenbau und Elektrotechnik in Berlin-Lichtenberg absolviert, um danach in einem Berliner Werkzeugmaschinenwerk Fräsmaschinen zu konstruieren. Doch das Fräsen interessierte ihn wenig, er zweifelte daran, dass die Maschinen, die er entwerfen sollte, je gebaut würden, auch ging ihm der Lärm in der Werkshalle gewaltig auf den Keks und sein Chef schien sich nur auf den Feierabend zu freuen. So sah er sich bald nach einer neuen Stelle um. In der Republik war die Bedeutung der Mikroelektronik beschlossen worden, alle redeten von Robotron, EDV und Rechenzentren. Frank beschloss, dem Zug der Zeit zu folgen. Er belegte einen EDV-Kurs und erlernte einige Programmiersprachen. Zu Hause entwarf er Matrizen zur datentechnischen Erfassung von Körperteilen und sann mit Klaus darüber nach, ob man mit FORTRAN die perfekte Frau programmieren könne.

1979 bewarb er sich am Rechenzentrum der Humboldt Universität. Er hatte Glück und wurde als Operator eingestellt. Nun war er an der Front des Fortschritts und fütterte den Großrechner Robotron 300 mit Lochbandrollen und Magnetbandkassetten. Die Arbeit entsprach seinem Charakter und seiner Gefühlswelt. Man kann alles programmieren, war sein Credo. Egal, ob die Daten aus der Wirtschaft, Technik, Medizin oder Naturwissenschaft stammen, ein gutes Rechenprogramm trennt sozusagen die Spreu vom Weizen. Es sagt einem, was womit im Zusammenhang steht, und deckt Denkfehler auf. Im Leben sei es nicht viel anders, behauptete er gern. Laufe etwas schief oder gar aus dem Ruder, so habe sich eben in unser Handeln ein Programmierfehler eingeschlichen, und dann müsse man die Befehle ändern, die Daten ergänzen oder korrigieren, oder einige Postulate überprüfen.

»Werden Menschen richtig programmiert, so irren sie sich nicht«, scherzte er.

Unerwartet begrub GERMED das Projekt und die Hoffnungen von Klaus, in das Innerste des Menschen vorzudringen. Frank atmete auf, als er erfuhr, dass Klaus stattdessen an einer klinischen Studie zur Testung einheimischer Herzschrittmacher mitarbeiten sollte. Das war etwas Handgreifliches und entsprach seinen Vorstellungen von Wissenschaft.

»Phantastisch, das wird sicher durch die Uni unterstützt, ist ja quasi praxiswirksam«, kommentierte er die Nachricht. »Wir könnten etwas zusammen machen. Algorithmen für die Anwendung dieser Antriebe entwickeln, messen, auswerten, vergleichen, optimieren. Ich kann dir auch noch helfen, die Patienten auszuwählen, denen du den Rhythmus vorgibst!«

Neben Klaus wirkte Frank wie ein Souffleur, der es gewohnt war, unbemerkt seiner Tätigkeit nachzugehen. Er redete wenig, und wenn, dann langsam, fast stockend, als suchte er nach Worten. Er wirkte zurückhaltend und kühl, war aber in seinem Wesen weder abgehoben noch arrogant. Er war von Natur aus ein vorsichtiger Mensch, der nicht zum Übermut neigte. Immer schön sachte, war eine seiner Floskeln, wenn Klaus ihn mit neuen Plänen in Beschlag nahm. Kannte man ihn nicht, kostete es eine gewisse Überwindung, sich ihm zu nähern. Unbewusst fürchtete man, zurückgewiesen zu werden oder sich zu blamieren. Dabei trug er immer ein einladendes Lächeln im Gesicht. Es schien ihm wie ein leichtes Schielen in die Wiege gelegt worden zu sein. Aber da es so gut wie nie aus seinen Zügen wich, verlor es nach einigen Augenblicken seine Anziehungskraft. Klaus glaubte, dass Franks Lächeln jede Frage nach seinem Gemütszustand abwehren sollte. Es war sozusagen die vorweggenommene Antwort auf die Frage »Wie geht es dir?«. Frank trug seine braunen Haare nicht kurz, wie Klaus, sondern bis über die Ohren. Vielleicht sollten sie ihn vor lauten Geräuschen schützen. Er war auch etwas fülliger, besonders im Gesicht, und seine Nase war weit weniger auffällig als die seines Freundes, nur der Mund und das Kinn, die stachen wie bei Klaus hervor. Frank wirkte für sein Alter sehr beherrscht, er wäre auch als der ältere Bruder von Klaus durchgegangen.

Der Vater von Klaus, Genosse Friedrich Behrens, war im Ministerium für Gesundheitswesen als Sektorenleiter für die technische Ausstattung von Krankenhäusern zuständig. Da gab es keinen allzu großen Spielraum, um schöpferisch tätig zu werden, geschweige denn eigene Vorstellungen über eine moderne Klinik umzusetzen. Jede Veränderung birgt das Risiko des Scheiterns in sich, war eine seiner Lebensweisheiten. Eines Morgens fand er sich allein in der Wohnung wieder. Verständnislos blickte er um sich und lauschte in die Stille. Nachdem seine Mutter verstorben war, pflegte Klaus zu sagen: »Unsere Familie war erst ein musikalisches Trio, in dem jeder eine Solopartie spielte. Danach spielten wir als Duo weiter.« Klaus wurde das alles bestimmende Thema in Behrens’ Leben. Um ihn kreisten seine Gedanken, er wurde sozusagen sein wichtigstes Aufbauwerk. Dirk Behrens war nicht nur alleinerziehender Vater, sondern auch engster Freund und in alle Sorgen, Wünsche oder Pläne des Filius eingeweiht. Was Herrn Behrens an Gestaltungsspielraum im Beruf fehlte, fand er im Leben seines Sohnes. Klaus wiederum befand sich in der komfortablen Situation, im Vater und Frank, seinem Bruder im Geist, zwei treue Gefährten an seiner Seite zu wissen. Zufrieden schmunzelnd verglich er die beiden mit Rettungssanitätern, die sich in ständiger Bereitschaft befanden. Fiele einer aus, stünde der andere bereit. Klaus’ Vater wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass es für Klaus eine Person gäbe, die wichtiger als er sein könnte.

Klaus und Frank hatten vor zwei Jahren eine große, aber heruntergekommene Wohnung in der Oderberger Straße ergattert, nachdem sie dem Wohnungsamt versprochen hatten, sie instand zu setzen. Sie lag in einer Gegend, die von keinem Wohnungsbauprogramm erfasst wurde, unweit der Schönhauser Allee und der U-Bahn-Station. Keine zwei Minuten von ihrer Wohnung entfernt stand die Mauer, hinter der sich der Westen verbarg. Die Zusage durch das Wohnungsamt hatte ein Hinweis der Humboldt-Universität erleichtert, wonach Frank zukünftig im Schichtbetrieb des Rechenzentrums tätig sein würde. Doch als sich Frank beim Wohnungsamt meldete und ansetzte, der Sachbearbeiterin seine Tätigkeit zu erläutern, winkte diese ab. »Ich bin informiert«, beschied sie ihm mit kühlem Blick. Er rief seine Mutter an und erzählte ihr von seinem Besuch. »Ja, mein Sohn, wenn jemand darauf hinweist, dass seine Kinder Kaderreserve sind, haben die gewissermaßen ein Ass im Ärmel«, sagte sie nur. Es dauerte nicht lange, bis bei Frank der Groschen fiel und er begriff, dass es Klaus’ Vater war, der darauf hingewiesen haben musste.

Das Leben der zwei Freunde begann sich im Juni 1980 zu verändern, als sie ihre erste berufliche Bewährungsprobe zu bestehen hatten. Die groß angelegte klinische Studie zur Herzschrittmachertherapie war durch das Ministerium für Gesundheitswesen veranlasst worden. Republikweit waren vierundachtzig Kliniken beteiligt. Die Patienten wurden in einem zentralen Register in der Klinik für Innere Medizin erfasst. Es liefen anamnestische Daten von Hunderten Patienten ein und der Auftrag lautete, sie systematisch aufzuarbeiten. Selbst Ergebnisse der seit Jahren in der DDR durchgeführten Volksröntgenreihenuntersuchung (VRRU) sollten einbezogen werden. Das rief zwar bei einigen Ärzten Zweifel hervor, da sie Röntgenaufnahmen bisher nur zur Abklärung von Lungenkrankheiten abgefordert hatten, doch der leitende Bezirksarzt Dr. Tämpel aus Potsdam hatte nachdrücklich darauf verwiesen, dass bei acht bis zehn Prozent der DDR-Bevölkerung, die in der VRRU erfasst würden, röntgenpathologische Befunde erhoben würden, die auf eine Herzerkrankung hinwiesen. Das waren immerhin 1,2 bis 1,3 Millionen Bürger. Gesundheitspolitisch hochbrisant, befand das Ministerium, und gab den Weg frei.

Die Verantwortlichen in der Regierung hatten festgelegt, dass jeder Bürger gleich welchen Alters einen Anspruch auf einen Schrittmacher haben sollte. Das unterschied ihre Bürger von denen in den Bruderländern Polen oder Ungarn, dort musste man sich nämlich ab dem sechzigsten Lebensjahr allein auf sein Herz verlassen, einen Schrittmacher gab es nur bis neunundfünfzig. Es passte gut in die Planung, dass ein neues Modell, bezeichnet mit dem Kürzel LCP 202–VVI, aus dem VEB Transformatoren- und Röntgenwerk »Hermann Matern« in Dresden zur Auslieferung in die Bezirkskrankenhäuser bereitstand. Und interdisziplinäre Forschung war auch gefragt, weil Forschungsergebnisse schneller praxiswirksam werden sollten. Vor diesem Hintergrund fanden Klaus und Frank in dem Projekt ihren Platz. Klaus hatte die Auswertung klinisch-biochemischer Parameter zu verantworten, Frank als Informatiker einen Algorithmus zur Stratifizierung der Patienten zu entwickeln, um ihr Herzkreislaufrisiko zu klassifizieren. Den klinischen Teil vertrat der Kardiologe Dr. Peter Wohlfahrt, der auch die Implantation der Schrittmacher vornahm. Zusammen bildeten sie das medizinisch-naturwissenschaftliche Rückgrat des Projekts. Als sie sich das erste Mal zu einer Besprechung trafen, war besonders Klaus etwas irritiert von der kühlen Art Wohlfahrts, der nur das Notwendigste sagte und den Anschein erweckte, als würde er im Stillen die Minuten abzählen, die er für die Sitzung eingeplant hatte. Der Unterschied zum extrovertierten Klaus hätte nicht größer sein können. Frank gefiel die Art des Arztes, mit der Zeit sorgsam umzugehen, sich nicht mit Allgemeinplätzen abzugeben und seine Meinung in klare Sätze zu kleiden.

»Der Peter ist ja ein ganz ruhiger Typ«, bemerkte er eines Abends. »Ganz wie ich«, fügte er grinsend hinzu. Das stimmte nicht ganz, denn Dr. Wohlfahrt kam noch zurückhaltender rüber als Frank. Und eine gewisse Melancholie ging von ihm aus, eine Stimmungslage, die Frank fremd war. Der Doktor erweckte mitunter den Eindruck, als würde er irgendwelchen verlorenen Zeiten nachtrauern. Wohlfahrt war spindeldürr und etwa so groß wie Frank, der aber neben ihm wie ein Schwergewicht aussah. Als die beiden ihren Kollegen das erste Mal sahen, dachte Klaus, er wäre gerade von einer längeren Krankheit genesen. Dabei war er gesund und ausdauernd wie ein Marathonläufer.

»Validierung biochemischer Parameter während des Einsatzes des Herzschrittmachers TuR LCP 202-VVI bei Hochrisikopatienten« – dieses Thema hatten Klaus Behrens und Peter Wohlfahrt ihren Chefs als Titel ihres Projekts vorgeschlagen. Einige Wochen später, die Studie war durch die Leitungsgremien abgesegnet worden, lud Peter zu diesem Anlass seine beiden Kollegen zu sich nach Hause ein.

»Meine Frau würde sich freuen, euch kennenzulernen«, kündigte er an.

So fing alles an, an einem heißen Sommerabend im Juli 1980, als Frank und Klaus die Hand von Peters Frau schüttelten und sich ihre Herzschläge fast gleichzeitig beschleunigten, als hätte sie Renate Wohlfahrt synchronisiert.

Die Wohlfahrts bewohnten eine Dreizimmerwohnung in einem hübschen Neubau mit freiem Blick über den Volkspark Friedrichshain. Bis zum Alexanderplatz waren es keine zehn Minuten zu Fuß, und überquerte man die Straße vor ihrem Haus, stand man nach wenigen Schritten vor dem Märchenbrunnen, hinter dem verschlungene Wege durch den Park führten, unterbrochen durch Kinderspielplätze, vorbei an einem Café am künstlich angelegten Teich mit gemächlich treibenden Enten und den Gebäuden des Krankenhauses »Friedrichshain«, das sich in unmittelbarer Nachbarschaft befand. Im Sommer schlurften einige Patienten in Bademänteln über die Kieswege zum Bierkiosk.

Frau Wohlfahrt öffnete ihnen und im ersten Augenblick glaubten Frank und Klaus, sich in der Adresse geirrt zu haben. Diese Frau konnte unmöglich zu Herrn Dr. Peter Wohlfahrt gehören, dem unscheinbaren Mann, den nur der Kittel von seinen Patienten unterschied. Aber es war ihr Kollege Peter, der mit leicht hochgezogenen Schultern still hinter dieser umwerfend schönen Frau stand, als würde er darauf warten, vorgelassen zu werden. Neugierig musterte sie erst Klaus und anschließend Frank, als vergliche sie die beiden mit ihren Erwartungen.

»Das ist Renate, meine Frau«, sagte Peter leise über ihre Schulter, als müsste er alle Zweifel ausräumen. Seine Stimme klang, als wollte er niemand erschrecken.

»Und ich bin der Klaus, und das ist Frank«, erwiderte Klaus und streckte seinen Arm aus.

Er drückte ihre schmale kühle Hand und sie schenkte ihm ein flüchtiges Lächeln. Dann wandte sie sich Frank zu.

»Dann sind Sie es, der meinem Mann verrät, wem er das Herz instand zu setzen hat«, sagte sie, während ihre Augen über ihn glitten.

Frank stand wie ein Zinnsoldat neben Klaus, sein Lächeln wirkte etwas gequält und eine leichte Röte überzog sein Gesicht. Er hob die Schultern und winkelte den Arm an. Sie ergriff seine Hand, und als ihre zarten Finger wie zufällig seinen Handballen streiften, glaubte er einen kleinen Stromstoß zu spüren. Ihre Hände lösten sich und er trat unwillkürlich einen Schritt zurück in den Treppenflur. Er konnte seine Augen nicht von ihr wenden. Sie war einen Kopf kleiner als Peter, schlank, von mädchenhafter Statur, ein Minirock gab den Blick auf makellose Beine frei. Die oberen Knöpfe ihrer blauen Bluse waren lässig geöffnet und Frank ahnte, dass es bei dieser Frau an nichts fehlte. Aus ihren dunklen mandelförmigen Augen blitzten Neugierde und Mut. Ihr schmales Gesicht zierte ein kleiner Mund, wie ein neugieriges Mädchen, das gespannt einen Besuch erwartete, schob sie ihre sanften Lippen nach vorn, als sie die Jungen aus den Augenwinkeln musterte. Klaus und Frank spürten, dass sie ihren Willen durchzusetzen wusste. Die dunklen Haare waren kurz geschnitten, sie bedeckten kaum die Ohren und ließen ihre Stirn frei, die wie feines Porzellan glänzte. In ihren Zügen versteckte sich ein Hauch von Sinnlichkeit, als wäre sie gerade aus einem schönen Traum erwacht. Wie ist Peter zu dieser Braut gekommen, war Franks erster klarer Gedanke. Er schielte zu Klaus hinüber, der mit halboffenem Mund neben ihm stand und offensichtlich demselben Rätsel nachspürte.

»Na ja, wir arbeiten zusammen, ich bin Informatiker und werte Patientenakten aus«, besann sich Frank auf eine Antwort, bemüht, ihrem forschenden Blick standzuhalten.

Sie nickte verständnisvoll und drehte ihren Kopf zu Klaus.

»Dann sind Sie also mit dem wissenschaftlichen Teil dieser Herzstudie befasst«, fuhr sie wie eine Versammlungsleiterin fort, die den nächsten Redner ankündigt.

Klaus nickte verlegen, als hätte man ihn bei einem falschen Gedankengang ertappt.

»Ich bin Biologe und arbeite die Blutproben von den Patienten auf, die Peter operiert«, umschrieb er leise seine Rolle und legte einen Finger auf seine Kinnkerbe.

»Oh. Davon müssen Sie mir später mehr erzählen. Peter spricht nicht viel über seine Arbeit, aber los, nun gehen wir mal endlich rein«, sagte sie und hakte sich schelmisch lächelnd bei ihrem Mann ein, der nachsichtig die Augenbrauen hob.

»Folgen Sie mir bitte, Frank und Klaus«, rief sie vergnügt über die Schulter.

Mit erstaunlich weiten Schritten marschierte sie mit Peter an der Seite durch den Korridor zum Wohnzimmer, dessen Tür weit offen stand. Klaus folgte ihnen mit gesenktem Kopf, seine Augen hafteten auf den hellen Kniekehlen der Gastgeberin, bis sie sich vor dem Esstisch postierte. Frank machte zwei Schritte, drehte sich dann um und schloss die Haustür.

Frau Wohlfahrt stand neben ihrem Gatten und strahlte den Besuch an, eine Hand ruhte auf ihrer Hüfte, ein Bein hatte sie leicht nach vorn geschoben, die Fußsohle war nach außen gerichtet wie bei einer Balletttänzerin, die sich zu einer Pirouette anschickt. Klaus und Frank warfen fast gleichzeitig einen verstohlenen Blick auf die Gastgeberin. Peter schielte einmal kurz zur Küche und wandte sich dann mit etwas leiernder Stimme an seine Gäste.

»Schön, dass ihr hier seid. Nun gehen wir erstmal zum Du über. Renate, das sind Frank und Klaus, wie du bereits weißt. Renate ist nicht vom Fach, stellt euch also darauf ein, ausgefragt zu werden. Und jetzt hole ich das Essen«, bemerkte er wie selbstverständlich und setzte sich in Bewegung, die verdutzten Blicke seiner Besucher im Rücken.

»Was machst du beruflich, Renate?«, platzte Klaus heraus.

»Ich bin gelernte Kosmetikerin, arbeite jetzt im Kosmetik-Kombinat Berlin. Leite dort eine Abteilung«, fügte sie hinzu.

»Oh, sehr interessant. Wo ist das?«, fragte Klaus, in Gedanken immer noch dem Rätsel nachgehend, wie Peter zu dieser Perle gekommen war.

»Mein Betrieb befindet sich in der Chausseestraße.« Sie sagte das wie nebenbei und in einem Ton, der wenig Interesse an der Vertiefung dieses Themas verriet.

Peter hatte einige Schüsseln und zwei Flaschen Rotwein in die Durchreiche gestellt, wobei er wie ein besorgter Koch einen letzten Blick auf seine Gäste warf, bevor er die Küche verließ und sich zu ihnen gesellte. Er stellte das Essen vorsichtig auf die schneeweiße Tischdecke, rückte noch einige Teller zurecht, richtete sich aufatmend auf und postierte sich wie ein Kellner neben seinem Stuhl. Renate stand mit gefalteten Händen am Tisch und erinnerte Klaus an ein Mädchen, das auf eine Einladung zum Tanz wartet. Frank stand am Fenster und war noch mit dem Ausblick auf den Friedrichshain beschäftigt. Renate setzte ein strahlendes Lächeln auf und bat mit einer eleganten Armbewegung zu Tisch, wobei sich ihre eng geschnittene Bluse verschob. Sie setzte sich als erste und legte ihre zarten Hände neben das Besteck. Klaus folgte wie hypnotisiert ihren Bewegungen und dem Sitz der Bluse. Er biss sich auf die Lippen und wandte den Kopf ab, kam aber nicht umhin, sie weiter aus den Augenwinkeln zu betrachten. Eine gewisse laszive Lässigkeit ging von ihr aus, wie sie mit halboffenem Mund vor den dampfenden Schüsseln saß. Klaus stockte der Atem.

»Wo soll ich sitzen, Renate?«, fragte Klaus und lauschte seiner Stimme, als fürchtete er, sie könne seine Gefühle verraten.

Frank drehte sich vom Fenster weg und sah sich neugierig um.

»Frank, genug geträumt, komm her zu meiner linken. Und Klaus zu meiner rechten Seite«, rief Renate in den Raum.

Sie schob sich leicht aus dem Sitz und breitete ihre Arme aus – wie Flügel, dachte Klaus, so weiß und makellos erschienen sie ihm. Franks Augen erhaschten einen Streifen nackten Bauch und für eine Sekunde kam es ihm so vor, als wölbte er sich ihm entgegen. Klaus setzte sich augenblicklich zu ihr, als fürchtete er um den freien Platz. Wie zwei Bräutigame, die um ihre Hand anhielten, flankierten Klaus und Frank Renate Wohlfahrt.

»Also, heute gibt’s was Schlichtes, aber sehr Feines. Peter hat Schnitzel Wiener Art und Kartoffeln zubereitet, als Beilage einen Gurkensalat«, stellte Renate das Menü ihres Gatten vor und wies mit der Hand auf ihn.

Ein nachsichtiges Lächeln erhellte sein Gesicht, als würde er das Lob eines Gastes entgegennehmen.

»Wir hatten nicht so viel Zeit heute«, bemerkte Renate, ihrem Mann einen verständnisvollen Blick zuwerfend.

»Wir hätten auch an einem anderen Tag kommen können«, nahm Frank den Hinweis auf.

»Nein, alles prima. Ich hatte nur Nachtschicht und dann musste ich noch einen Tag dranhängen, weil eine Kollegin erkrankt war«, wiegelte Peter ab.

»Du kochst gerne?«, fragte Klaus, wie um eine Unterredung in Gang zu bringen.

»Ja, schon, für mich ist es wie Erholung, eine schöne Ablenkung«, antwortete Peter.

Frank nickte verblüfft und strich sich die Haare aus der Stirn. Peter Wohlfahrt saß kerzengerade auf seinem Stuhl, zwar etwas blass und mit dunklen Schatten unter den Augen, aber offensichtlich recht zufrieden. »Klaus’ und Franks Gegenwart vertreibt jeden Trübsinn«, hatte er vorher gegenüber seiner Frau bemerkt. Sie hatte mit den Achseln gezuckt, als wäre das nicht wirklich ihre Sorge. Peter griff nach der Weinflasche und hielt sie fragend in die Höhe. Renate tippte lächelnd auf ihr Glas, woraufhin er langsam einschenkte. Klaus’ und Franks Blicke folgten der wortlosen Zeremonie.

»Ein schöner Rotwein, trinkt ihr doch?«, fragte Peter, noch mit der Flasche über Renates Glas.

Die beiden nickten brav und Klaus beobachtete, wie Renate mit drei Fingern ihrer rechten Hand das Glas festhielt, während ihre linke nach wie vor auf dem schneeweißen Tischtuch ruhte, über dem ihre lackierten Fingernägel wie frische Kirschen leuchteten. Als alle Gläser gefüllt waren, sprach Renate schmunzelnd in die Runde:

»Auf unsere Gäste und unseren Spitzenkoch, Prost!«

Das Schnitzel war zart, aber nicht zu dünn, um seinen Geschmack voll zu entfalten. Den Gurkensalat hatte Peter mit Smetana verfeinert und die Kartoffeln mit Petersilie bestreut. Es war still am Tisch, man hörte nur das Klappern der Bestecke und ein sanftes Schnalzen aus zufriedenen Mündern. Peter schaute fragend in die Runde.

»Schmeckt prima«, murmelte Klaus, seine schmale Nase näherte sich genießerisch dem Tellerrand.

»Finde ich auch«, bestätigte Frank prompt.

Renate warf einen lobenden Blick auf ihren Mann.

»Das ist von der Kugel, das Beste vom Schwein«, bemerkte Peter.

»Kugel?«, fragten Klaus und Frank unisono.

»So nennt man das Schulterstück, wenn man’s als Ganzes kauft. Gibt’s nur beim Fleischer.«

»Fleischer?«, wunderte sich Klaus, der nur seine Kaufhalle kannte.

»Rose, ein Privater am Nordbahnhof«, sagte Peter kurz, für den das Thema damit erledigt war.

Klaus und Frank warfen während des Essens immer wieder einen verstohlenen Blick auf Renate, die abwechselnd beide mit einem stillen Lächeln bedachte. Frank bildete sich ein, in ihm würden Fieberwellen aufsteigen. Der letzte Bissen war kaum runtergeschluckt, da erhob sich Renate.

»Kommt, wir setzen uns auf die Couch, jetzt will ich hören, was ihr mit diesen Herzschrittmachern zu tun habt.«

Klaus hätte gern noch etwas vom Gurkensalat genommen, aber Renate war bereits unterwegs, ebenso Frank, der ihr mit glänzenden Augen folgte. Das Wohnzimmer war für einen Neubau ziemlich geräumig, zwischen Esstisch und Sofaecke blieben Klaus genug Meter, um Renate nachzuschauen, wie sie mit festen Schritten den Raum durchquerte. Irgendwie erinnerte sie ihn auf einmal an eine Dompteuse, die ein Löwenrudel in Schach hält. Er sah Peter fragend an.

»Geh nur, Klaus, ich räume dann noch auf. Macht’s euch bequem«, ermunterte ihn Peter.

»Klaus, komm zu uns. Peter ist noch in der Küche. Ihr könnt euch ja oft genug mit ihm unterhalten«, winkte sie Klaus zu sich. »Morgen habe ich Küchendienst«, bemerkte sie beiläufig.

Renates rot markierter Zeigefinger hob sich vor ihre blitzenden Mandelaugen, als würde sie zum Gehorsam ermahnen. Peter drehte den Kopf halb zurück ins Zimmer und murmelte:

»So ist es, heute bin ich dran.«

Die zwei dunkelroten Sofas standen über Eck, so dass man entweder zum Friedrichshain oder zum Esstisch sah. Frank hatte die Aussicht in die Natur gewählt, schräg gegenüber saß Renate. Mit einer lässigen Handbewegung dirigierte sie Klaus an die Seite Franks. Zwischen ihnen stand ein flacher Couchtisch, auf dem einige ältere Zeitungen, Fachzeitschriften, ein Notizblock und ein Kugelschreiber lagen. In der Ecke, eingeklemmt zwischen den Sofas, stand der Fernseher. Man konnte im Liegen fernsehen.

»So habe ich euch beide gut im Blick, wie bei einem Verhör«, spöttelte Renate, über dem Tisch aufmerksam ihre Gäste musternd.

Die jungen Männer mussten sich etwas zur Seite drehen, um ihr in die Augen zu blicken. Das erwies sich als zunehmend schwierig, denn mit der Zahl der geleerten Weingläser stieg die Versuchung, einen Blick auf ihre schönen Beine zu werfen, die wie glänzende Marmorsäulen anmuteten.

»Was macht ein Informatiker auf der Herzstation?«, begann sie mit Frank.

Er hüstelte und nestelte verlegen an seiner Armbanduhr aus Ruhla, die ihm sein Vater zum Abschluss seines Ingenieurstudiums geschenkt hatte. Wurde es brenzlig oder galt es ein Gefühl zu unterdrücken, tastete er nach dem kleinen geriffelten Aufziehrädchen.

»Ich programmiere Anweisungen für den Rechner. Dazu gehört die Auswertung medizinischer Daten.«

Frank stockte und sah zweifelnd zu Renate hinüber, bemüht, ihr in die Augen zu sehen. Sie rutschte etwas nach vorn, als wollte sie ihn besser verstehen. Frank blinzelte wie geblendet und drehte sich zu Klaus.

»Sag du was zu dem Projekt«, bat er.

»Moment noch, Frank«, hakte sie nach. »Ich war ja noch nie in einem Rechenzentrum, wie muss ich mir das vorstellen, wenn du so ein Programm in den Rechner schickst? Sind das Zahlenreihen, die du abtippen musst?«

Frank griente und schüttelte nachsichtig den Kopf.

»Nee, Zahlen, das war ganz am Anfang. Jetzt benutzt man maschinenlesbare Programmiersprachen, die aus Befehlen bestehen. Wir setzen FORTRAN-77 ein«, referierte er.

»Oh«, entfuhr es Renate bewundernd.

Sie lehnte sich zurück und sah ihm forschend in die Augen, als würde sie ihn sich bei der Arbeit vorstellen.

»Nichts Besonderes, kann jeder erlernen«, meinte Frank, der sich nicht sicher war, ob sie ihn ein wenig auf den Arm nahm.

»Beschreibe Renate mal an einem Beispiel, was ein Programm alles kann«, sprang ihm Klaus zur Seite, dem ihre Übungen zur Programmierung der perfekten Frau eigefallen waren.

Frank kräuselte die Stirn. Irritiert bemerkte er ihre ausgebreiteten Arme, die auf der Rückenlehne ruhten, wodurch sich die knappe Bluse gefährlich spannte. Renate sah ihn interessiert an. Er räusperte sich und senkte die Augen.

»Darf ich?«, fragte er und zeigte auf den Kugelschreiber.

»Nur zu, willst du mir eine Rechenaufgabe stellen?«

»Keine Sorge. Kann ich den Block haben?«

»Ja. Da steht nichts Besonderes drin. Peter schreibt sich irgendwelche Erledigungen auf, die ihm abends beim Fernsehen einfallen«, sagte sie.

Sie zog ihre Arme vom Sofa und rutschte nach vorn, dabei beide Hände auf ihre Oberschenkel pressend, um den Rocksaum festzuhalten. Frank riss eine Seite heraus und begann einige Zahlen, Buchstaben und Satzfetzen untereinander zu schreiben.

»Setz dich mal zu mir, damit ich dir folgen kann«, bat sie und klopfte mit der rechten Hand aufs Sofa.

Frank sah auf und nickte brav. Klaus hüstelte und runzelte leicht die Stirn. Frank setzte sich zu ihr und atmete ihr leichtes Parfüm ein. Er hielt eine Sekunde lang den Atem an, als würde er es in sich bewahren wollen.

»Rechnest du jetzt Renates Horoskop aus?«, versuchte Klaus zu scherzen.

Er fühlte ein Unwohlsein in sich aufsteigen, ähnlich der Missstimmung, wenn man von einem gemeinsamen Spiel ausgeschlossen wird. Er sprang plötzlich auf, überlegte kurz und stellte sich hinter Frank, um der Versuchung zu widerstehen, auf Renate hinabzuschielen. Renate sah inzwischen auf den Zettel, den ihr Frank zugeschoben hatte. Er erinnerte sie an ein Telegramm, sie neigte ratlos den Kopf und stupste Frank in die Seite.

»Willst du mich auf den Arm nehmen?«

Nur zu gerne, dachte Frank und öffnete sein glänzendes Gesicht wie zu einer frohen Botschaft.

»Würde ich nicht wagen. Das ist ein kleines Computerprogramm. Der Rechner kann damit dein Idealgewicht errechnen.«

»Na toll«, meldete sich Klaus von hinten.

Renate rutschte eine Idee näher zu Frank hin, der mit glühenden Wangen seinen Zettel festhielt. Eigentlich gefällt mir der Klaus genauso gut wie sein verschrobener Freund aus dem Rechenzentrum, hatte sie beim Schnitzel konstatiert. Klaus scheint in dem Gespann Tempo und Richtung vorzugeben. Ein Draufgänger, aber mit guten Manieren und ausgeprägten Emotionen, vermutete sie nach einem taxierendem Seitenblick. Kommt mir irgendwie kindlicher als sein Freund vor. Der kommt sicher langsamer auf Touren, ist dafür wahrscheinlich ausdauernder. Es machte jedenfalls Spaß mit den beiden in der Sofaecke.

»Nun lüfte mal das Geheimnis über meine Pfunde«, sagte sie vergnügt und lehnte sich entspannt zurück.

Klaus in ihrem Rücken kam es so vor, als würde sie gleich zu ihm hinaufblinzeln.

»Hier stehen untereinander die Befehle für den Rechner«, begann Frank leise zu sprechen.

»REAL gewicht, grösse. Diff

WRITE (*, 100) ›Geben Sie Ihr Gewicht in Kilogramm ein:‹

READ (*,*) gewicht

WRITE (*, 100) ›… und Ihre Größe in Metern:‹

READ (*.*) grösse

Diff = gewicht – 90.* (grösse-1.)

WRITE (*,*) ›Ihre Abweichung vom Idealgewicht beträgt, diff,*‚ Kilogramm‹.«

Frank verstummte, als er Renates Atem spürte, er glaubte für einen Augenblick, sie wäre an seiner Seite eingeschlummert. Peter tauchte aus der Küche auf und sah zu ihnen hinüber. Sie gaben ein merkwürdiges Bild ab, wie Verschwörer, die einen Plan aushecken. Renate bemerkte ihn und richtete sich auf.

»Peter, guck mal, der Frank errechnet gerade meine Idealmaße!«

Peter gesellte sich mit langsamen Schritten zu ihnen. Er ließ sich auf das leere Sofa fallen und gähnte herzhaft.

»Was machst du, Frank?«

»Nichts Besonderes, deine Frau bat mich, ihr meine Arbeit zu erklären. Da habe ich ein einfaches Rechnerprogramm aufgeschrieben. Reiner Jux, mir fiel nichts Besseres ein.«

»Zeig doch mal«, bat Peter mit müder Stimme und schob einen Arm nach vorn, ohne sich aufzurichten.

Frank schob seinen Zettel über den Tisch. Renate spitzte die Lippen, als würde sie gleich ein Liedchen anstimmen.

»Ich will das aber auch verstehen«, protestierte sie wie ein trotziges Mädchen und schüttelte mit gespielter Entrüstung den Kopf.

»Ich bin noch nicht fertig«, sagte Frank ruhig. »Wir müssten jetzt das Gewicht und die Größe eintragen, nehmen wir mal an, 75 Kilogramm.«

»Nee, also mal langsam, ich bin doch nicht dick«, unterbrach sie ihn.

»Natürlich nicht«, sagte Frank und kam nicht umhin, seinen Blick über ihre Taille wandern zu lassen. »Ist ja nur ein Beispiel. Also 75 Kilo bei einer Größe von 175 Zentimetern, der Rechner würde für diesen Fall eine Abweichung vom Idealgewicht in Höhe von siebeneinhalb Kilogramm errechnen.«

Renate sah auf Frank, als hätte er soeben einen Zaubertrick vorgeführt. Peter kämpfte gegen die Müdigkeit an und nickte wie selbstverständlich.

»Renate, nun verstehst du, was wir tun: Frank kriegt die Patientendaten, lädt das Programm, und schon spuckt der Robotronrechner die Patienten aus, die ich unters Messer nehmen soll«, erklärte er wie im Halbschlaf.

Klaus lachte etwas zu laut auf, sah hinüber zu Peter, der halb im Sofa lag, und beschloss kurzerhand, sich neben Renate zu setzen. Sie schmunzelte versonnen, als sie die beiden Freunde an ihrer Seite spürte.

Nach der dritten Flasche Rotwein wollte sie wissen, ob sie sich schon mal wegen eines Mädchens gestritten hätten, worauf sich Frank und Klaus verwundert ansahen. Nein, kommt nicht vor, sagten ihre Blicke. Frank griente etwas breiter:

»Doch, einmal, als ich die perfekte Frau programmiert habe, aber Klaus dann ihre Adresse verloren hat.«

Amüsiert stellte Renate fest, dass es bei den beiden nicht nur in der Forschung munter zuging.

»Na, unsere Adresse werdet ihr wohl behalten können«, bemerkte sie wie nebenbei, worauf sich die beiden verlegen angrinsten.

»Peter, haben wir noch etwas zu trinken?«, schreckte sie ihren Mann aus seinem Dämmerzustand auf.

»Ja, natürlich. Noch einen Roten?«, fragte er träge.

»Peter, lass mal, ist schon spät und du hattest einen langen Tag«, wiegelte Frank ab und stand auf.

Renate zog einen Schmollmund, rutschte aber sofort vom Sofa. Klaus nickte beifällig und folgte ihr. Er hatte die letzten zwei Stunden wie angenagelt neben Renate gesessen, ihm war leicht schwindelig und sein Kreuz schmerzte vom aufrechten Sitzen. Seine Eindrücke waren so verschwommen wie sein vom Rotwein verschleierter Blick. Aus der Frau wird man nicht schlau, fand er. Alle bewegten sich zum Ausgang. Peter stand an der Tür, eine Hand auf der Klinke, als hielte er sich an ihr fest.

»Schön, dass ihr uns besucht habt«, murmelte er, als hätten sie ihm einen Dienst erwiesen.

Frank und Klaus nickten und streckten ihm gleichzeitig die Hand entgegen, übersahen aber Renate, die sich zwischen sie schob.

»Erst ich, dann euer Kollege«, sagte sie mit dunkler Stimme.

Die beiden ließen die Arme fallen und sahen sich unentschlossen an. Renate streckte Klaus die Wange entgegen, der die Andeutung eines Kusses wagte.

»Nun dein Busenfreund«, lächelte sie Frank sanft an und hielt ihm die andere Gesichtshälfte hin.

Er errötete und fühlte ihre Haut auf seinen Lippen. Peter verabschiedete seine Besucher mit einem lässigen Klaps auf die Schulter.

Sie standen vor dem Haus der Wohlfahrts und kamen nicht umhin, an der Fassade emporzuschauen, als fühlten sie Renates Blicke im Rücken. Schweigend liefen sie die Friedenstraße entlang, neben sich die Häuserreihe, auf der anderen Straßenseite den dunklen Park. Klaus blieb plötzlich stehen und starrte vor sich auf den Bürgersteig.

»Wusstest du, dass sich Peter so eine Kirsche geangelt hat?«, fragte er zögernd.

Frank stand neben ihm und sah geradeaus, als würde er sich etwas ins Gedächtnis zurückrufen. Sein eingemeißeltes Lächeln war während des Abends einem sanft verträumten Gesichtsausdruck gewichen, als folgte er einer bezaubernden Theateraufführung. Jetzt sah er plötzlich müde und unzufrieden aus. Ein Unbehagen stieg in ihm auf, das er so nicht kannte und sich nicht erklären konnte. Sie standen unbeweglich unter dem gleißenden Licht einer Laterne, das sie wie auf einer Bühne ausleuchtete. Zwei Männer, die sich plötzlich misstrauten. Es war noch warm und die Luft sehr klar. Frank warf einen stummen Blick auf seinen Freund. Hatten sie sich etwa zum ersten Mal in dieselbe Frau verliebt? Wortlos erreichten sie die U-Bahn am Alexanderplatz, gleich darauf saßen sie im leeren Abteil. Die Bahn verließ den Tunnel und sie schwebten über der Schönhauser Allee. Fast auf einer Ebene mit der ersten Etage der Häuserreihen glitt der Zug über die Hochgleise. Aus ihrem Abteil sahen sie in die Wohnzimmer. Es glich einer Geisterfahrt, wenn man das Gesicht an das Fenster presste. Die U-Bahn hielt an der Dimitroffstraße und sie verließen schweigend das Abteil. Sie stiegen die Stufen hinab auf die Schönhauser Allee, immer noch schweigsam, und gingen bis zur Kastanienallee vor, bogen stumm nach rechts ab und standen kurz darauf vor ihrem Haus in der Oderberger Straße. Es war im wahrsten Sinne des Wortes eine düstere Gegend, von den Fassaden bröckelte der Putz, die Straße war nur spärlich beleuchtet, es gab einige wenige Läden, um sich mit dem Notwendigsten zu versorgen. In diese Straße kam nur, wer einen Schlüssel für eine der renovierungsbedürftigen Wohnungen besaß oder das Hallenbad aufsuchen wollte. Es hatte zwei Weltkriege überdauert. Die Kinder der umliegenden Schulen kamen zum Schwimmunterricht und die Anwohner ohne eigenes Bad zum Duschen.

Ihre Wohnung lag zwar zum Hinterhof, war dafür aber ruhig und geräumig. Sie teilten sich drei Zimmer und das Bad, sogar eine Dusche war vorhanden. Jeder hatte sein eigenes Zimmer, eines bezeichneten sie als ihren Salon, da standen der Fernseher und der Plattenspieler. Sie hatten vier alte Sessel und ein schmales Sofa beim Gebrauchtwarenhändler aufgetrieben und alles neu beziehen lassen. Die Möbel waren der Lichtpunkt ihrer Wohnung, tiefrot war die Polsterung und jeder Besucher dachte sofort an einen Kinosaal. Klaus’ Vater hatte etwas beigesteuert. Kam er sie besuchen, und das tat er mit der Regelmäßigkeit eines Büroangestellten, so schritt er aufrechten Ganges schnurstracks in das Wohnzimmer und warf einen prüfenden Blick auf die Sofagarnitur. Das Zimmer seines Sohnes betrat er nie.

»Wollen wir noch ein Bier trinken?«, fragte Klaus, als sie unentschlossen in ihrer winzigen Küche standen.

Frank schüttelte langsam den Kopf und ließ sich auf den Küchenstuhl fallen. Er fühlte sich völlig zerschlagen, so als hätte er die Nacht durchgearbeitet.

»Komm, halbes Glas, auf die schöne Gattin unseres Herzspezialisten«, sagte Klaus etwas gekünstelt.

»Meinetwegen, auf Peters Glück«, murmelte Frank mit gesenktem Kopf und wunderte sich über seine Worte. Was geht mich sein Glück an, dachte er.

»Ehrlich gesagt, Peters Frau gefällt mir ziemlich gut«, wagte sich Klaus aus der Deckung, behutsam darauf bedacht, nicht ihren Vornamen auszusprechen.

Seine Stimme war gepresst, als müsste er eine innere Spannung unterdrücken. Frank sah kurz auf, als übermittelte man ihm eine schlechte Nachricht. Er stand langsam auf, stellte sich vor das Küchenfenster und blickte in den nachtschwarzen Hinterhof. Die grauen Mauern ähnelten matt erleuchtetem Asphalt. Klaus blickte benommen in sein Glas. Ihm schien, als würde er Renate durch den Bierschaum sehen und ihr Parfüm riechen.

»Ich bin verknallt oder besoffen«, murmelte er.

Hoffentlich nur besoffen, dachte Frank, die Lippen zu einem Strich gepresst.

»Wir sollten sie vergessen, Frank, das bringt doch nur Unruhe«, versuchte Klaus einen halbherzigen Rückzug. Statt zu antworten, verließ Frank wortlos die Küche.

Am späten Nachmittag des folgenden Tages saß Klaus grübelnd in seinem Arbeitszimmer und suchte im Telefonbuch die Nummer des VEB Kosmetik-Kombinat Berlin. Gegen siebzehn Uhr meldete die Sekretärin Frau Wohlfahrt, da sei ein Doktor aus der Akademie in der Leitung. Renate Wohlfahrt verdrehte die Augen. Das konnte ja nur ein Chemiker auf der Suche nach einer Kooperation sein. Seit einiger Zeit wimmelte es von Forderungen nach Praxiswirksamkeit der Forschung, wie ein Zauberspruch ging die Losung nach Überführung von Forschungsergebnissen in die Praxis umher, selbst die Produktion von Seifen und alkoholfreier Gurkenreinigungsmilch sollte wissenschaftlich durchdrungen werden. Lustlos nahm sie das Gespräch entgegen.

»Wohlfahrt am Apparat.«

»Hallo, hier ist Klaus Behrens«, meldete sich eine angenehm ruhige Stimme.

»Oh, der Biologe«, rief sie überrascht in den Hörer und bog die Schultern zurück. »Gut nach Hause gekommen?«

»Ich wollte mich nochmal für den schönen Abend bedanken, auch bei Peter, dem tollen Koch«, sagte Klaus artig.

Renate lächelte und prüfte ihre rotlackierten Fingernägel.

»Und wie geht’s deinem Busenfreund, hat’s ihm auch gefallen?« Die Frage klang wie eine kleine Provokation.

»Denke schon«, antwortete Klaus kurz angebunden.

»Und hast du heute schon was entdeckt, rufst du aus deinem Labor an?«, fragte Renate.

Klaus überlegte, ob es sie wirklich interessierte oder es nur ein höflicher Ansatz war, um das Gespräch in Gang zu halten. Er runzelte nachdenklich die Stirn und entschied sich intuitiv für eine sachliche Antwort, um nicht gleich abzublitzen.

»Ja, ich bin im Institut. Arbeite am Studienprotokoll …«

»Was für ein Protokoll?«, unterbrach ihn Renate, als wäre ihr etwas Wichtiges entgangen.

»Ein Arbeitsanleitung zur Bestimmung klinisch relevanter Marker.«

Er legte eine Pause ein, unsicher, ob Renate zuhören würde. Aber sie lauschte andächtig seiner Stimme und stellte sich sein offenes Gesicht mit dem schönen Kinn und den geschwungenen Lippen unter der schmalen Nase vor. Er hätte ihr auch etwas aus dem Biologielehrbuch vorlesen können.

»Bin noch in der Leitung«, rief sie. »Und was verraten dir deine Marker über Peters Patienten?«

Sie klemmte den Hörer zwischen Schulter und Kinn und zog einen kleinen Spiegel aus der Schublade. Bin mal gespannt, wann er zum Thema kommt, sagte sie ihrem Spiegelbild.

»Ich will dich nicht mit meinem Kram langweilen«, wiegelte Klaus ab, besorgt, Zeit zu verlieren.

»Nee, erzähl mal weiter, letztes Mal ging es ja mehr um die Technik.«

Sie unterhielten sich untereinander wie in einer Chiffriersprache, die den wahren Inhalt verbirgt.

»Es geht ja um herzkranke Patienten, die sind in der Regel infarktgefährdet. Ein Herzinfarkt kündigt sich meistens nicht an, na ja, bis auf die Schmerzen in der Brust.«

Renate legte unwillkürlich ihre Hand aufs Herz.

»Aber es wäre ein großer Fortschritt, wenn man im Blut von Risikopatienten Stoffe nachweisen könnte, die den Infarkt vorhersagen. Solche Verbindungen interessieren uns.«

»Ja, das versteh sogar ich!«, rief Renate. »Man gibt beim Arzt eine Blutprobe ab und erfährt einen Tag später, ob Gefahr droht. Aber was dann, hören die etwa auf zu rauchen und zu trinken?«

Renate lehnte sich zurück und wartete auf seine Stimme.

»Schön wäre es ja, könnte man das erreichen, aber immerhin kriegen sie eine Prognose«, sagte Klaus, als würde er einen berechtigten Zwischenruf kommentieren.

»Damit sie wissen, wie lange sie noch rauchen und trinken können«, sagte Renate trocken.

Klaus lachte erleichtert auf, das Thema schien erschöpft. Für einen Augenblick schwiegen beide.

»Es stört dich hoffentlich nicht, dass ich in der Arbeitszeit anrufe?«, vernahm sie seine dunkle Stimme, nun deutlich leiser.

Wann denn sonst, dachte Renate, und erinnerte sich daran, wie er sich neben sie gesetzt hatte, nachdem Frank die andere Seite eingenommen hatte.

»Nein, das ist kein Problem. Übrigens, hast du was zu schreiben in der Hand? Ich gebe dir mal meine Durchwahlnummer. Für das nächste Mal.«

Klaus stockte der Atem.

»Ja, gerne.«

Er schlug sein Notizheft auf und notierte die Nummer unter dem Datum: 9. Juli.

Frank war seit dem Morgen damit beschäftigt gewesen, Magnetbänder, Lochkarten und Lochbänder für den Rechnereinsatz vorzubereiten. Täglich trafen neue Datensätze mit Patientendaten ein, die in die Herzschrittmacherstudie einflossen. Selbst die Bezirksärzte für Lungenkrankheiten mussten jetzt die bei ihnen auflaufenden Routinebefunde der Röntgenreihenuntersuchungen an die Klinik für Innere Medizin schicken, von dort wurden sie an Frank weitergeleitet. Ende Juli wollte er seinen Partnern einen Algorithmus zur Klassifizierung von Risikopatienten vorstellen. Die letzten Wochen hatte er damit verbracht, Zehntausende klinischer Daten für den Rechner aufzubereiten. Er kam nicht umhin, sich mit Schweregraden von Herzerkrankungen zu beschäftigen, und kam aus dem Staunen nicht heraus, als er sich über die Hierarchie der Gefährdungen informierte. Mit stiller Ehrfurcht erfuhr er etwas von einem permanenten AV-Block III. Grades, dem symptomatischen Sinusknotensyndrom, Herzinsuffizienz und anderen schwer aussprechbaren Wortungetümen. Die ganze Materie war Frank so fern wie das Sonnensystem. Arthritis, Blut­hochdruck oder Gicht waren ihm schon mal untergekommen, nun ahnte er, welche Gefahren im Herzen schlummerten und was einem blühte, sollten sie ausbrechen. Ihm wurde bewusst, dass es bei dem Projekt um ein großes Ziel ging: Die Sterblichkeit in der DDR-Bevölkerung sollte gesenkt werden, die Bürger sollten den Sozialismus länger erleben. Aber im Grunde genommen interessierte ihn nicht allzu sehr, was er seinem Rechner einspeiste. Er hätte mit demselben Eifer auch die mittlere Schuhgröße der DDR-Bevölkerung ausgerechnet, wenn man es von ihm verlangt hätte. Hauptsache, sein Rechenprogramm funktionierte und lieferte fehlerfrei das gewünschte Ergebnis, dann fühlte er sich wie bei einer Siegerehrung.

Frank hob den Kopf und lauschte. Im Hintergrund nahm er merkwürdige Geräusche wahr. Er stand auf, sah in den Korridor und schlenderte langsam in Richtung des Lärms. Sie arbeiteten noch mit dem Großrechner Robotron 300, der Ende der sechziger Jahre in der DDR hergestellt wurde und nicht gerade geräusch­los lief. Die Tür zum Rechnerraum war wie immer verschlossen, aber die eingelassene Glasscheibe gewährte einen Blick auf die Datenverarbeitungsanlage. Er linste durch das Fenster und sein Lächeln wurde noch breiter als gewöhnlich. Kaum war der Chef in den Feierabend entschwunden, machte sich das Kollektiv oft selbstständig, heute wieder einmal auf Rollschuhen. Irgendwann einmal war jemand auf die Idee gekommen, dass man die ungenutzten Freiflächen zwischen Rechner, Paralleldrucker und Regalen als Sportfläche nutzen könnte. Eines Tages hatte es eine Panne gegeben, da hatte das beliebte Zweier-Verfolgungsrennen den Rechner lahmgelegt, seitdem war man vorsichtiger geworden und fuhr ruhige Runden. Frank wartete noch eine Runde, um die sich auseinanderschiebenden Beine der Frauen ein weiteres Mal zu betrachten, und ging dann zurück in sein Zimmer.

Sein Paralleldrucker stanzte in furiosem Stakkato Zahlenkombinationen, die sich als Papierschlangen im Auffangkorb stapelten. Wahnsinn, dachte er, vielleicht kann ich aus den Daten die Lebenserwartung der Leute abschätzen. Dann rufe ich sie an: »Hallo, Sie leben nur noch drei Jahre, schonen Sie sich nicht, lohnt nicht mehr.«

Seit dem Morgen lag das aufgeschlagene Telefonbuch wie eine Mahnung vor ihm. Ja, sagte er sich, jetzt kann ich noch anrufen, in einer halben Stunde wird’s zu spät sein. Er notierte sich die Nummer, klappte das Telefonbuch zu und schob es wie eine lästige Akte zur Seite. Er zog das Telefon an sich und gab langsam die Nummern ein. Die Scheibe drehte sich und mit ihr etwas in seinem Schädel. Sie wird mich abwimmeln, ich Blödmann, warum mache ich das. Das Tuten an seinem Ohr erinnerte ihn daran, gleich reden zu müssen. Sollte ich nicht besser auflegen?, dachte er aufgeregt, aber da meldete sich bereits Renate. Er hatte Glück, das Sekretariat war nicht besetzt und so landete sein Anruf direkt bei ihr.

»Wohlfahrt am Apparat.«

Er kniff die Augen zusammen, als hätte er sich verhört. Ihre Stimme hatte er ganz anders in Erinnerung. An sein Ohr drang ein kühler Ton, der ihn an eine Sekretärin erinnerte, die kurz vor Feierabend ein letztes Gespräch entgegennehmen muss.

»Ja, ich bin’s, Frank, äh, störe ich?«, stammelte Frank in den Hörer.

»Oh. Welche Überraschung! Der Mann mit den Vorhersagen. Wie geht’s dir?«

»Na, so ganz gut«, stammelte Frank und überlegte, welche Vorhersagen ihre mandelförmigen Augen im Blick hatten.

»Und, hast du dem Peter die ersten Herzpatienten ans Messer geliefert?«

Sie sprach jetzt wieder mit dem spöttischen Unterton wie an dem Abend auf dem Sofa, als sie sich munter die Gewichtstabelle erklären ließ.

»Wir machen Fortschritte, kann bald losgehen.«

Es hörte sich an, als würde er seinem Chef einen Produktionsstart ankündigen.

»Was kann losgehen und wer ist wir? Doch du und dein Rechner, nicht?«

Frank lauschte ihrer Stimme hinterher und blies leicht die Backen auf. Plaudert sie unbeschwert daher oder sagt sie mir etwas durch die Blume? Er atmete tief durch.

»Ich rufe dich doch nicht an, um dir von meinen Rechnerprogrammen zu erzählen«, entschloss er sich zu einem zaghaften Vorstoß.

Er legte eine Pause ein, aber sie schwieg und wartete auf das Satzende. Sie saß schmunzelnd auf ihrem kunstledernen Bürosessel und spitzte die Lippen wie zum flüchtigen Begrüßungskuss. Ja, Frank, du musst schon selber sagen, was du möchtest, dachte sie. Hast doch sicher ein Programm im Kopf.

»Ich will mich erstmal für den Abend bedanken, auch für das Essen«, setzte er erneut an.

Da kann er sich bei Peter bedanken, sagte sich Renate und schickte ein leichtes »Hm« durch die Leitung.

»Vielleicht können wir uns revanchieren?«

Renate klatschte im Stillen Beifall: Auf die Idee war sein Freund nicht gekommen.

»Gern, wo wollen wir uns denn treffen?«

Erneut stockte Frank der Atem: Das wir klang, als würde sie ihn und sich meinen. Kann nicht sein, wies er sich zurecht.

»Nun, ihr könnt ja mal zu uns kommen. Zum Abendessen?«

Renate sah das eingerahmte Kornfeld vor sich an der Wand und irgendetwas versetzte sie in leichte Schwingungen. Fast so, als würden im warmen Sommerwind einige Halme ihre Haut streifen.

»Natürlich komme ich«, rief sie vergnügt.

Frank fiel sofort auf, dass sie in die Ich-Form gewechselt hatte. Da hat sie sich wohl versprochen, schlussfolgerte er.

»Wollen wir einen Tag vereinbaren? Wann klappt es bei euch?«, fragte Frank, mit Bedacht den Plural wählend.

»Lass uns morgen nochmal telefonieren. Wahrscheinlich an einem Freitag oder Sonnabend, ja?«

Seit seinem bestandenen Einstellungsgespräch als Informatiker hatten ihm die Wangen nie wieder so geglüht. Wie um etwas abzustreifen, schüttelte er die Schultern und verabschiedete sich betont lässig:

»Klar doch, Renate, ich rede auch noch mit Klaus. Dann also bis morgen. Um dieselbe Zeit?«

»Mach das. Schönen Abend, euch beiden.«

Er hörte ein wenig dem durchgehenden Tuten zu. Ich muss aufpassen, schwor er sich. Sie ist verheiratet, mit meinem Kollegen, lass die Finger von der Braut. Aber er sprach zu sich wie zu einem anderen Menschen. Er saß eine Weile ratlos vor dem Telefon, bis ihm einfiel, was er tun wollte. Er wählte die Nummer seiner Mutter, diesmal mit ruhigem Herzschlag.

»Hallo Mama«, meldete er sich betont forsch.

»Frank, du? Ist was passiert?«

Es kam nicht oft vor, dass er sie während der Arbeit anrief, eigentlich nur, wenn er etwas auf dem Herzen hatte oder krank war. Krank war er so gut wie nie.

»Nein, wollte nur mal Guten Tag sagen, nichts weiter.«

»Hm, und Klaus, auch alles bestens?«, fragte sie und schnitt versehentlich ein unpassendes Thema an.

Frank zögerte und rieb sich die Stirn. Sie sah ihren Sohn vor sich, wie er auf dem Stuhl saß und nachdenklich die Backen aufblies.

»Kannst du dir vorstellen, wir haben beide, Klaus und ich, dieselbe Frau kennengelernt. Haben uns beide, na ja, du weißt schon …«, druckste er herum.

»Ja, und was bedeutet kennengelernt«, hakte seine lebenstüchtige Mutter nach.

Sie war es gewohnt, Fragen nicht im Raum stehen zu lassen, dazu war keine Zeit in ihrem Kindergarten. Kinder wollen immer und sofort eine Antwort.

»Wir haben uns ein bisschen verknallt, beide in dieselbe Frau, scheint es«, wurde er etwas deutlicher.

»Hm, kommt vor. Wen bevorzugt das Mädchen?«

Frank schluckte zweimal und krauste die Stirn. Die Frage war ihm noch gar nicht in den Sinn gekommen.

»Keine Ahnung, wir haben sie nur einmal getroffen.«

»Ihr beide? Wo? Beim Tanzen?«

»Nein, bei ihr zu Hause, wir wurden beide zum Essen eingeladen.«

Einen Moment war Schweigen am Telefon, offenbar versuchte Franks Mutter, sich einen Reim auf das Gesagte zu machen. Zwei Jungen werden von einem Mädchen nach Hause eingeladen?

»Wie bitte, dieses Mädchen lädt euch beide einfach mal so zu sich ins Wohnzimmer ein?«

Frank biss sich auf die Lippen und überlegte fieberhaft, wie er das Gespräch beenden könnte. Hätte ich doch nur nicht davon angefangen, ich Idiot. Er bedauerte seinen Anruf, aber nun ließ seine Mutter nicht mehr los, etwas Unausgesprochenes lag in seinen Worten, sie war plötzlich beunruhigt, als könnte ihm etwas zustoßen.

»Bis du noch da?«, fragte sie.

»Es ist so, dass Renate, so heißt sie, verheiratet ist und wir, also Peter, ihr Mann, und Klaus und ich zusammenarbeiten, an dem wissenschaftlichen Projekt, von dem ich dir erzählt habe.«

Er hielt den Atem an, und bevor er die letzten Worte gesprochen hatte, war ihm klar, wie die Antwort ausfallen würde.

»Frank, lass besser die Finger davon. Das bringt nur Unheil, man weiß doch, wie das endet, ein Techtelmechtel mit einer verheirateten Frau. Die entscheidet sich zum Schluss gegen dich, für ihre Familie.«

»Sie hat keine Familie.«

»Aber einen Mann, einen Doktor«, sagte sie, als wäre der Titel ebenso wichtig.

»Na und?«, murmelte Frank mürrisch.

»Sie sucht vielleicht ’ne Abwechslung, Frank, und ihr seid frei und ungebunden.«

Und seid schicke Jungen, fügte sie für sich hinzu. Frank schwieg und sah vor seinen Augen Renates Knie neben sich auf dem Sofa.

»Hörst du mir noch zu?«, fragte sie sanft.

»Ja doch, Mama.«

»Also, wenn du mich fragst, so würde ich mich von der verheirateten Frau eines Kollegen fernhalten«, entschloss sie sich zu einem letzten Kommentar.

»Ja, Mama«, stimmte er ihr halbherzig zu.

Er wollte das Telefonat schnell beenden. Ihr Rat schmerzte ihn, weil sie offensichtlich nicht verstanden hatte, dass seine Gefühle zum ersten Mal in seinem Leben Purzelbaum schlugen. Es war kein Techtelmechtel, er war verliebt in Renate, er fühlte sie wie seinen Herzschlag, aber das konnte seine Mutter nicht wissen. Er verabschiedete sich hastig unter dem Vorwand, von einem Kollegen gerufen zu werden, sie rief noch besorgt: »Pass auf dich auf!«, aber er hörte schon nicht mehr hin.

»Bis bald, Mama«, sagte er leise und drückte den Hörer in die Gabel.

Er irrte, wenn er glaubte, seine Mutter hätte ihn nicht verstanden. Seine Tonlage hatte sie aufhorchen lassen. Er hatte so geklungen, als würde er neben sich stehen, und ungewöhnlich ratlos, wie von einem Erlebnis überwältigt. Oh, dachte sie, hoffentlich geht das gut aus.

Klaus war erschrocken und begeistert, als Frank beim Abendessen von seinem Telefonat berichtete. Er konnte sich nicht entschließen, seinen eigenen Vorstoß zu erwähnen. Eine dunkle Vorahnung warnte ihn davor, sich mit Renate zu verabreden. Könnte er dann noch unbeschwert mit Peter zusammenarbeiten? Und schließlich hieß es, das Herzschrittmacherprojekt gemeinsam fortzuführen. Ohne Wohlfahrt lief da nichts, aber ihm schwante, dass von nun an Renate zwischen ihnen stand.

Am Donnerstag um siebzehn Uhr rief Frank Renate an. Er schlug den Freitag der kommenden Woche vor, den 18. Juli.

»Moment mal«, bat sie ihn.

Er lauschte in die Leitung, vernahm aber nur ein Knistern wie aus einem Kamin. Vielleicht ruft sie über eine andere Leitung Peter an, dachte er.

»Da bin ich wieder«, meldete sie sich gleich darauf aufgeräumt.

»Höre dich«, murmelte Frank wie aus einer Gefechtslage.

»Am nächsten Freitag passt es.«

Er glaubte zu hören, dass sie sich auf ihrem Stuhl bewegte. Rasch setzte er nach:

»Gut, dann halten wir doch den Achtzehnten fest.«

»Oh, dieser Freitag«, zwitscherte sie nach einer kleinen Pause, »ist ja mein Hochzeitstag.«

Nach einer erneuten Pause des Nachdenkens wiederholte sie: »Achtzehnter Juli Neunzehnhundertfünfundsiebzig.«

Bei Frank kam es so an, als hätte sie der Schreibtischkalender an den Termin erinnert. In Gedanken lief die Zahlenfolge durch seinen Kopf. Er schluckte bei dem Gedanken an ihre Hochzeit.

»Feiern wir zusammen. Welche Uhrzeit und Adresse?« Renate sprach jetzt wie eine Person, die es gewohnt ist, Anweisungen zu geben.

Frank war in Gedanken noch ganz bei ihrem Hochzeitstermin, der ihm so merkwürdig wie die Uhrzeit seiner Geburt erschien. Er besann sich und wiederholte mechanisch:

»Uhrzeit. Ist acht in Ordnung?«

»Klar.«

»Oderberger Straße vierundvierzig.«

»Am achtzehnten.«

»Sehr schön, tschüss dann.«

»Freu mich auch.«

Sie legte sofort auf, während er auf sein Telefon stierte, als hätte es ihm soeben ein großes Geheimnis anvertraut. Er griff nach seinem Kugelschreiber und notierte in seinen Schreibtischkalender: 18.7.1980. Er starrte auf die sieben Ziffern wie auf einen Code, der ein Geheimnis verbirgt.

Am Freitag der nächsten Woche standen Frank und Klaus wie zwei Kellner, die auf ihre Gäste warten, in der Küche, um einen letzten Blick auf den gedeckten Tisch zu werfen. Nachdem sie Peter mit seinen Kochkünsten überrascht hatte, fühlten sie sich herausgefordert. Die Revanche sollte gelingen, obwohl ihre Gedanken weniger um Peter und das Essen als um Renate kreisten. Sie sprachen ihren Namen nicht aus, doch sah sich jeder der beiden ihr gegenübersitzen. Für die Küche war Klaus verantwortlich. Er hatte, wie in ähnlichen Situationen zuvor, seinen Vater konsultiert, der natürlich wissen wollte, um wie viele Gäste es sich handeln würde. Klaus druckste herum, eigentlich hatte er nicht vor, seinem Vater zu beichten, dass er drauf und dran war, sich in eine verheiratete Frau zu verlieben. Ein Kollege und seine Frau kämen vorbei, wich er aus. Irgendetwas an der Stimmlage seines Sohnes ließ den Vater aufhorchen. Er hörte ja immer genau zu, wohl weil er befürchtete, etwas zu übersehen, was seinem Sohn auf die Füße fallen könnte. Er verkniff sich weitere Fragen, stattdessen empfahl er Kartoffelbällchen, die würde die Frau mögen, und Kasslerbraten, da könne man nichts falsch machen. Er erklärte ihm die Kartoffelbällchen:

»Kartoffeln weichkochen, dann zu Brei quetschen, das Ganze mit Salz, Pfeffer, Muskat, einem Ei und Mehl vermischen, auf dem Blech in geriebenen Semmeln zu Bällchen rollen. Dann ab in heißes Öl, schön aufpassen, dass sie innen durch sind. Also mit ’nem Zahnstocher prüfen.«

Es war ein schwülwarmer Juliabend und im Hinterhof bewegte sich kein Lüftchen. Durch das offene Küchenfenster sah man leichtbekleidete Menschen, die sich ab und an aus ihren Fenstern hinausbeugten, als suchten sie eine Abkühlung, nur um sich gleich darauf hastig zurückzuziehen, denn im Innenhof herrschte die Schwüle eines Gewächshauses.

Frank versuchte seit Stunden, die Ursachen seines Gefühlsrausches zu ergründen. Bin ich verliebt oder unterliege ich einer Sinnestäuschung, es wäre ja nicht das erste Mal, dass ich mich täusche, fragte er sich. Sie hat mich wie eine geheimnisvolle Verheißung in ihren Bann gezogen, und Klaus gleich mit, stellte er verblüfft fest. Jetzt werden wir gleich vor ihr stehen wie zwei Kerle, die um ihre Hand anhalten. Er kam sich vor, als wäre ihm ein Programmierfehler unterlaufen.

»Lass uns mal die Wohnungstür öffnen, vielleicht kriegen wir ein bisschen Durchzug«, unterbrach Klaus die Stille und setzte sich langsam in Bewegung.

Das kurzärmelige weiße Oberhemd klebte ihm am Rücken und er wollte gerade ins Bad abdrehen, da schrillte die Türklingel. Frank trat zu Klaus in den Korridor und einen Augenblick lang sah es aus, als wären sie sich nicht einig, wer Renate einlassen sollte. Frank ließ ihm mit einem gequälten Gesichtsausdruck den Vortritt. In seinem Rücken stehend musterte er die Wohnungstür wie ein Hindernis, das es zu überwindend galt.

»Dann wollen wir mal«, sagte Klaus, als würde er zum Angriff blasen.

Er blinzelte Frank nochmal zu, der mit einem gequälten Lächeln an der Wand lehnte, und riss die Tür auf. Vor ihm stand Renate und strahlte ihn mit einem triumphierenden Lächeln an, als wäre ihr eine besondere Überraschung gelungen. Klaus’ Lächeln gefror zu einem blöden Grinsen, hinter ihm reckte Frank den Hals und traute seinen Augen nicht.

Neben Renate stand breitbeinig ein unbekannter Mann. Er war etwa so groß wie Renate, allerdings doppelt so breit. Er hatte die Hände vor seinem Bauch gefaltet, wie es Leute tun, die gelassen einer Vorstellung folgen. Sein volles Gesicht verriet Willenskraft, die grauen Augen waren leicht zusammengekniffen und glitten an Klaus hinab. Der Mann war deutlich älter als sie, seine Gesichtszüge zeugten von Lebenserfahrung und einem ausgeprägten Selbstbewusstsein. Ohne die Lippen zu öffnen, rang er sich ein sparsames Begrüßungslächeln ab. Ich hoffe, ich störe nicht, schien es anzudeuten. Frank hatte sich gefangen und ging mit geneigtem Kopf auf Renate zu, die gerade Klaus die rechte Wange hinhielt.

»Schön, euch zu sehen!«, rief sie in sein glühendes Ohr, als wäre er der erste in einer Schlange von Leuten, die ihr ein Küsschen schenken dürfen.

An Klaus vorbei sah sie Frank an, der sein übliches Lächeln im Gesicht trug und in Gedanken bei dem unbekannten Mann war. Woher kommt der denn? Ist das vielleicht ihr älterer Bruder? Wo ist Peter? Wie Programmbefehle reihten sich die Fragen in seinem Schädel aneinander. Renate schob Klaus sanft zur Seite und streckte Frank wie zur Tanzaufforderung beide Arme entgegen. Sie neigte leicht den Kopf zur Seite. Unbeholfen beugte sich Frank hinab und seine Lippen streiften flüchtig ihre Haut. Ihm stieg das Blut in den Kopf und er fürchtete, ins Taumeln zu geraten. Sie trug eine offene schneeweiße Bluse und einen schwarzen engen Rock, der knapp die Kategorie Mini verfehlte. Irgendwie erinnerte sie Frank an ein Mädchen auf seiner Einschulungsfeier vor zweiundzwanzig Jahren. Renate lief flink in die Wohnung, während Klaus und Frank wie angewurzelt im Korridor standen und ihrem Rock hinterhersahen.

»Ich bin der Lothar Bäsler!«, riss sie eine hohe Baritonstimme aus der Lethargie.

Zu dem Mann hätte eher ein sonorer Tonfall gepasst, wie er korpulenten Männern, die sich gemächlich durchs Leben bewegen, eigen ist. Stattdessen meldete sich der Mann wie ein Feldwebel zu Wort.

»Abend, ich bin Klaus und das ist Frank, wir arbeiten mit Renates Mann zusammen«, sagte Klaus, als erklärte er seine Anwesenheit und erwartete Ähnliches von dem Gast.

»Alles bekannt, ich kenne dich und Frank aus Peters Berichten«, schnarrte Bäsler und ging wie selbstverständlich zum Du über. »Ich arbeite in derselben Klinik wie Peter, eine Etage über ihm, in der Chirurgie. Privat sind wir auf einer Ebene, ich bin nämlich Wohlfahrts Nachbar. So, dann zeigt uns mal euer Reich«, trompetete er, seinen Blick in die Wohnung gewandt.

Frank und Klaus warfen sich einen besorgten Blick zu.

»Und Peter, kommt der nach?«, fragte Klaus.

»Nee, der hat Nachtschicht.«

Die Auskunft klang so beiläufig wie die Bemerkung über eine Zugverspätung.

»Ach, ausgerechnet heute«, entfuhr es Frank, der sich an Peters Hochzeitstag erinnerte.

Lothar Bäsler marschierte in die Küche, sein Bäuchlein straffte das Oberhemd, den Kopf hielt er aufrecht, als ob er nach etwas Ausschau hielt. Renate inspizierte als erstes die Wohnung, im Schlepptau folgten wie zwei Reiseleiter Klaus und Frank.

»Was gibt’s denn heute Schönes zum Abendbrot?«, rief Lothar aus der Küche, ganz so, als käme er regelmäßig zum Essen vorbei.

Renate zog die Augenbrauen hoch, begleitet von einer zurechtweisenden Armbewegung.

»Das ist euer Wohnzimmer, und was kommt dahinten?«, fragte sie und streckte ihren nackten Arm aus.

»Ein kleiner Korridor und unsere Schlafzimmer.«

Sie hatten fast gleichzeitig geantwortet. Renate kniff leicht die Augen zusammen und deutete mit einem seitlichen Kopfnicken an, dass sie die ganze Wohnung interessierte.

»Hat jeder seins?«

»Ja. Willst du die auch sehen?«, wunderte sich Klaus, der sich nicht daran erinnern konnte, wann er dort zum letzten Mal aufgeräumt hatte.

Im Hintergrund dröhnte erneut Lothars Bariton:

»Nicht schlecht für zwei Junggesellen, drei Zimmer, Dusche und Küche. Kriegen eigentlich nur Nationalpreisträger oder Chefärzte!«

Oder Kinder von Staatsfunktionären, setzte Frank für sich hinzu. Bäsler gesellte sich zu ihnen und betrachtete eingehend die roten Sessel.

»Das war eine Ausbauwohnung. Wir mussten so gut wie alles instand setzen, Bad, Wasserleitungen, Elektrik, Malern«, rechtfertigte sich Frank.

»Schon gut, gönne ich euch doch, die Bude. Und du als Ingenieur verstehst ja was vom Handwerk.«

Lothar gab sich ganz jovial. Er trat näher und gab Frank einen Klaps auf die Schulter. Der zuckte leicht zusammen. Er bemerkte, dass Lothar über ihn unterrichtet war. Von wem wohl? Doch von Renate?

»Na los, nun zeigt uns noch den Rest«, sagte Renate in Richtung Schlafzimmer.

Klaus setzte sich in Bewegung, Frank zögerte und beschloss, ihm die Führung zu überlassen. In seinem Schlafzimmer befanden sich ein breites Bett und ein Tisch, den er zum Arbeiten benutzte. Das konnte sie seinetwegen sehen.

»Ich gehe in die Küche«, verlautete Lothar. »Schlafzimmer von Männern sind langweilig. Komm, Frank.«

»Willst du ein Bier?«, fragte Frank, der nervös auf die Rückkehr Renates wartete, während Lothar sich den Innenhof ansah.

»Ja, gern«, rief er über die Schulter.

»Auf welcher Station arbeitest du?«, fragte er pflichtschuldig.

Er hätte sich auch nach dem morgigen Wetter erkundigen können. Frank ahnte nicht, dass Lothar die Eigenart besaß, jedes Gespräch an sich zu reißen, sobald man ihm ein Stichwort gab.

»Ich bin Oberarzt auf der Chirurgie, operiere alles, was mir unter das Messer kommt. Am häufigsten Krebs, Magen, Darm, Bauspeicheldrüse, Kehlkopf und so weiter. Während des Studiums bin ich ’ne Weile Rettungsdienst gefahren, auch noch als Assistenzarzt …«

»Lothar, lass den Frank in Ruhe, er hat Feierabend«, unterbrach ihn Renate, die ihre Besichtigung beendet hatte.

»Ja, weißt du, Renatchen, der Frank hat sich doch erkundigt, was ich so treibe, von früh bis abends, und …«

»Lothar, mein Guter, heute wollen wir nicht über Krankheiten reden. Komm, setz dich hierher«, schnitt sie ihm erneut charmant das Wort ab.

Dabei fasste sie ihn wie ein störrisches Kind unter und führte ihn an den Tisch. Lothar brummte etwas in sich hinein und ließ sich auf den erstbesten Stuhl sinken.

»Nein, Lothar, bitte den anderen Stuhl. Und ich setze mich hierher, wenn’s recht ist«, befahl lächelnd Renate.

Nun saß er ihr nicht gegenüber, sondern an der Stirnseite des rechteckigen Tisches. Sobald seine Hände Messer und Gabel hielten, wurde deutlich, dass der massige Körper, in dem man auch einen Waldarbeiter hätte vermuten können, einem Arzt gehörte. Er führte Messer und Gabel wie ein OP-Besteck.

»Und der Frank sitzt dann da, und der Klaus dort«, fuhr sie mit erhobenem Zeigefinger fort, als wäre sie hier zu Hause.

»Wer hat nochmal gekocht?«, fragte sie.

»Ich, nach einem Rezept meines Vaters.«

»Na, Klaus, dann kann ja nichts schiefgehen.«

Klaus biss sich leicht auf die Lippen und nahm an der anderen Stirnseite Platz. Frank saß nun Renate direkt gegenüber. Es wurde ein entspannter Abend, obwohl Lothar wie aufgezogen redete. Renate lobte mit einem anerkennenden Blick auf Klaus die Kartoffelbällchen, während Frank mit gesenktem Kopf seinen Teller leerte.

Bäsler funktionierte wie ein Spielautomat, der mit jedem Münzeinwurf ein neues Stück abspielte. Den Männern war es nur recht, konnten sie sich doch in Gedanken Renate widmen. Frank sah ihr von Zeit zu Zeit in die Augen, sie erwiderte seine Blicke, ohne zu verraten, welche Gedanken sich hinter ihrer schönen Stirn verbargen. Klaus konnte sie nur von der Seite betrachten, es kostete ihn einige Anstrengung, sich dem Wunsch zu widersetzen, sich zu ihr zu drehen. Manchmal warfen sich Klaus und Frank einen verstohlenen Blick zu, als versuchten sie, die Gedanken des anderen zu erraten. Jedes Mal, wenn sie Frank ein sanftes Lächeln schenkte, glaubte er, seine Herzschläge würden Bäslers Bariton übertönen.

»Sag mal, Lothar, kannst du auch einen Schrittmacher ins Herz verpflanzen?«

Renates Frage kam so unerwartet und leise, als würde sich ein Kind nach einer Krankheit erkundigen.

»Renate, ich bitte dich: Ich entferne Tumore, verlege oder repariere Organe, schließe Wunden und lege Nähte. Na klar kann ich das, wenn ich’s mir einmal angesehen habe.«

»Und umgekehrt, kann Peter ein Organ verlegen?«

Lothar stieß ein triumphierendes Lachen aus.

»Nee, kann er natürlich nicht so ohne weiteres. Ich kann aber auch nicht am Herzen operieren«, fügte er wie zum Schutz seines Kollegen hinzu. »Die Chirurgie ist kein Zehnkampf, wo man sich die Wettbewerbe mal so einfach antrainieren kann.«

»Lothar, mich interessiert nur, ob es gefährlich ist, einen Draht ins Herz zu schieben und sein halbes Leben lang mit einem Metallblock rumzulaufen.«

Ihre Stimme klang jetzt wie bei dem Telefonat, als Frank sie kurz vor Dienstschluss anrief. Als würde sie Klaus und Frank eine verschlüsselte Botschaft schicken, setzte sie fröhlich hinzu:

»Peter spricht nie mit mir über seine Arbeit. Leider. Er ist dann immer zu kaputt, wenn ich etwas von ihm erfahren will.«

»Ich glaube, dass die Technik so weit entwickelt ist, dass man da nichts befürchten muss. Die Elektroden sind wohl importiert und die Batterie im Herzschrittmacher kommt aus Pirna von der Fahrzeugelektronik, die sind Weltspitze.«

»Batterie«, seufzte sie, »hoffentlich nicht die vom Trabbi.«

Die Männer lachten und trampelten mit den Füßen, Frank und Klaus starrten sie aus verliebten Augen an. Frank verspürte eine Schwingung in der Herzgegend, als säße dort eine Elektrode. Klaus hatte versehentlich die Arme ausgefahren und Renates Hand gestreift. Er zuckte wie vom Blitz getroffen zurück, Renate tat, als hätte sie nichts gemerkt und sah munter in die Runde.

»Frank, wie würde denn eine Elektrode in mein Herz kommen?«, dehnte sie das Thema weiter aus und beugte sich leicht nach vorn, mit erhobenen Brauen Frank in Augenschein nehmend.

Ihr Blusenausschnitt kam ihm gefährlich nahe und seine Lippen öffneten sich erstaunt.

»Na, was ist, Frank, als Ingenieur verlegst du doch Leitungen«, sagte sie im Brustton der Überzeugung und strahlte ihn unbekümmert an, während er irritiert auf seinem Stuhl umherrutschte.

»Das ist eine Frage an den Arzt, Renate, nicht an den Informatiker«, brachte sich Lothar in Erinnerung.

»Na ja, wir wollen hier ja kein Seminar abhalten«, wiegelte Renate ab und legte wie eine umsichtige Erzieherin kurz ihre Hand auf seinen Arm.

Lothar fühlte sich in seinem Element und lehnte sich über seinen Teller in Richtung Renate. Er tippte mit dem rechten Zeigefinger zuerst auf ihren Halsansatz, um ihn dann langsam in Richtung Blusenausschnitt zu bewegen, als markierte er eine Linie für den chirurgischen Eingriff. Renate schnappte sich seine Hand und drückte sie energisch auf die Tischplatte. Frank und Klaus hatte der Atem gestockt.

»Ich liege nicht auf deinem OP-Tisch«, ermahnte ihn Renate sanft. »Sag’s in drei Sätzen.«

Lothar schluckte einmal und sah leicht pikiert auf sein übrig gelassenes Kartoffelbällchen.

»Man setzt hier am Hals einen leichten Schnitt, so dass man die Elektrode und den Draht in die Vene, die zum Herzmuskel führt, einfädeln kann. Musst du dir vorstellen, wie wenn du im Hosenbund einen neuen Gummi einziehst.«

»Und wo versteckst du den Schrittmacher?«, unterbrach ihn Renate.

»Hier«, antwortete er und wollte sie erneut an den Hals fassen, besann sich aber rechtzeitig und tippte auf sein Schlüsselbein.

Renate zuckte nur mit den Achseln, als wäre das Thema für sie beendet, und drehte sich zu Klaus.

»Sag mal, verändert etwa der Schrittmacher das Blutbild?«

Lothar prustete los und Frank verzog den Mund bis an die Ohren. Wie frisch Verliebte strahlten sie Renate an.

»Hm, das sicher nicht«, nahm Klaus nach einem kritischen Augenaufschlag in Richtung Frank wieder das Wort. »Aber viele Patienten hatten vor ihrem Schrittmacher einen Bluthochdruck, Rhythmusstörungen, Bradykardie und andere Auffälligkeiten. Mich interessiert, ob infolge der Schrittmachertherapie irgendwelche Verbindungen im Blut auftauchen, die den Heilungsprozess charakterisieren. Wenn’s die gäbe, könnte man sie vielleicht als Marker einsetzen.«

Klaus verschob seinen Oberkörper, um ihr ins Gesicht sehen zu können. Sie hob den Kopf und sprach leise wie zu sich selbst:

»Du willst dir also die Patienten vor und nach der Schrittmachertheraphie ansehen und rauskriegen, warum es geklappt hat, beziehungsweise, ob bei einigen, wo sich nichts tut, was im Blut fehlt. So als würde ich rauskriegen wollen, warum meine Gurkenmilch manchen Frauen hilft, anderen leider nicht. Vielleicht haben die einen auch was im Blut, das meine Kosmetika brauchen, um zu wirken.«

»Hm, könnte man so sagen«, murmelte Klaus, der ergriffen den merkwürdigen Vergleich mit der Gurkenmilch in sich aufnahm.

Renate unterdrückte ein Gähnen und rieb sich wie zum Zeichen des Aufbruchs die Oberschenkel, entschied sich dann doch noch etwas zu bleiben, und die Unterhaltungen plätscherten noch einige Minuten dahin.

»Nun ist’s aber Zeit zu gehen«, verkündete sie schließlich, sprang vom Tisch auf, schubste Lothar sanft an die Schulter und bewegte sich zügig zum Ausgang.

An der Haustür reichte sie den Jungen routiniert ihre Wange und rief ihnen vom Treppenabsatz zu:

»Bis bald, dann wieder bei mir.«

Klaus und Frank standen unbeholfen vor ihrer Wohnung, Renates letzten Satz auf eine versteckte Botschaft hin untersuchend.

Das Treffen mit Lothar Bäsler und Renate lag einige Zeit zurück. Seitdem hatte sich das Leben der Busenfreunde so umgekrempelt, dass ihnen ihr Leben wie eines vor Renate Wohlfahrts Erscheinen und eines danach vorkam. Renate war die Quelle eines unüberbrückbaren Konflikts geworden: Keiner wollte auf sie verzichten, eher würde jeder der beiden ihre Freundschaft aufs Spiel setzen. So geschah es, dass sie sich eines Abends die Hand reichten, kurz auf die Schulter klopften und wie vor einer längeren Reise Abschied voneinander nahmen. Frank hatte sich seit einigen Wochen intensiv um eine eigene Wohnung bemüht. Die Universität verfügte über ein Wohnungskontingent, das ihm die Zuweisung einer Einzimmerneubauwohnung unweit des Ostbahnhofs bescherte.

»Das kann ich einfach nicht ablehnen«, rechtfertigte er seinen Auszug, sich Renates Besuche ausmalend.

Klaus hatte sich in den vergangenen Wochen stark verändert. Er war unkonzentriert, und wenn er seinen Vater besuchte, musste der einige Fragen wiederholen, ohne eine befriedigende Antwort zu erhalten. Klaus saß zwar neben ihm, war aber in Gedanken woanders. Manchmal sah er ins Leere, als suchte er nach einer Erinnerung. Einmal öffneten sich seine Lippen leicht, wie um einen Rat bittend. Es waren kurze Momente einer kindlichen Hilflosigkeit, die sein Vater von ihm nicht kannte. Er hegte keine Zweifel, dass sich sein Sohn verliebt hatte, und es schmerzte ihn, nicht eingeweiht zu werden.

Auch Frank war ein anderer geworden. Er war nie sehr mitteilungsfreudig gewesen, galt schon immer als mundfaul. Er sprach, wenn er dazu aufgefordert wurde, und dann in knappen Worten. Nun aber beschränkte sich sein Anteil an einer Konversation auf ein leises Brummen oder Murren. Wenn man ihn bedrängte, gab er Nichtssagendes von sich. Selbst das gleichmütige Lächeln war erloschen. Er hatte an Gewicht verloren und wirkte irgendwie männlicher, als hätte er ein paar Lebensjahre übersprungen. Und es war nicht zu übersehen, dass ihn ein gewaltiges Problem begleitete. Die Kollegen im Rechenzentrum tippten auf Liebe.

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