Читать книгу Schrittfehler - Richard Grosse - Страница 5
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Bircher saß mit übergeschlagenen Beinen, die Hände wie beim Fernsehen auf seinem Bäuchlein gefaltet, auf dem Besucherstuhl von Oberarzt Dr. Peter Wohlfahrt. Die Schwester hatte ihn gebeten, einen Moment zu warten. Der Raum war schlicht eingerichtet, ein leerer Schreibtisch, drei Stühle, eine Liege, keine Bilder an der Wand, keine privaten Fotos, die Atmosphäre eines Durchgangszimmers. Einzig ein Landschaftskalender mit im Wind wehenden Kornfeldern, die Bircher an van Gogh erinnerten, deuteten an, dass sich hier jemand aufhielt. Wir sind noch im September, dachte Bircher, und eigentlich wäre ich jetzt im Urlaub, stattdessen sitze ich in der Klinik. Was soll’s, wenn Angler recht hat und die drei Patienten auf natürliche Weise das Jenseits gesegnet haben, dann erfahre ich wenigstens etwas über Herzerkrankungen. Bin jetzt in den Fünfzigern, kann nicht schaden.
»Guten Abend«, meldete sich hinter seinem Rücken eine leise Stimme.
Bircher drehte sich überrascht um, er hatte nicht bemerkt, dass jemand ins Zimmer trat.
»Guten Abend, ich nehme an, Sie sind Doktor Wohlfahrt.«
»Ja.«
Dem Arzt hing sein weißer Kittel am Körper wie ein übergeworfenes Laken. Aus der Tasche baumelte ein Stethoskop, in der Brusttasche klemmte eine Batterie von Kugelschreibern. Er setzte sich hinter seinen leeren Schreibtisch und sah müde an Bircher vorbei zur Tür, als befürchtete er das Auftauchen eines weiteren ungebetenen Gastes.
»Sie wissen, warum ich Sie sprechen möchte?«
»Nicht so genau, ich muss auch gleich wieder auf die Station«, brummte Wohlfahrt unwirsch.
»Tut mir leid, Herr Doktor, dass ich Sie zu dieser Zeit aufsuche. Mir wurde gesagt, Sie hätten heute Nachtdienst und würden für mich Zeit haben.«
Bircher deutete mit Bedacht sein Verständnis für Wohlfahrts ungnädigen Empfang an. Soll er mal mein Mitgefühl spüren, vielleicht taut er dann auf. Bircher musterte ihn sorgfältig, als wäre er der Arzt, der die Diagnose stellte. Der sieht weiß Gott nicht wie jemand aus, der jeden Morgen vergnügt aus den Federn springt, war sein erster Eindruck. Den hat Angler treffend beschrieben, als er meinte, dass Wohlfahrt einem seiner Kranken ähnelt, dem die Angst um den kommenden Tag den Schlaf raubt. Dunkle Augenringe und eingefallene Wangen, aus denen die Knochen wie kleine Hörner ragten, gaben Wohlfahrts Gesicht einen gequälten Ausdruck. Nur die blinzelnden Augen verrieten, dass er bei der Sache war. Der sagt nichts, nach dem er nicht gefragt wird, schlussfolgerte Bircher und legte sich auf eine mittelharte Gesprächsführung fest.
»Ich werde Sie nicht lange aufhalten. In Ihrer Klinik sind in diesem Jahr drei Patienten verstorben. Wir sehen einen Zusammenhang mit dem Einsatz der Schrittmacher. Soweit ich informiert bin, werden im Rahmen der Studie zu den Herzschrittmachern, die Sie durchführen, auch neue Elektroden oder Batterien getestet.«
»Elektroden«, bestätigte Wohlfahrt mit matter Stimme.
»Gut, also Elektroden. Wir wurden von den Herstellern darüber informiert, dass ein plötzlicher Ausfall der Elektroden oder der Batterien eigentlich ausgeschlossen werden kann.«
Bircher legte eine Pause ein und zog ein Notizbuch aus seinem Sakko, in dem er blätterte. Ihm waren die Namen der Kollegen entfallen, mit denen Wohlfahrt kooperierte. Der jedoch nahm an, dass ihm Bircher die Stellungnahme des Industriepartners vorlesen würde, und winkte ab. Kenne ich alles, sagte seine Geste.
»Die Batterien können schon ausfallen, wie jede Batterie in einer Taschenlampe, die irgendwann leer ist. Die müssen dann nach einem festgelegten Zeitschema ausgewechselt werden, was in den von Ihnen angesprochenen Fällen nicht nötig war, weil die neu waren«, klärte ihn Wohlfahrt in leicht leierndem Ton auf.
»Aha, verstehe. Und die Elektroden?«
»Die Elektroden werden auch in anderen Häusern eingesetzt und kommen aus dem Westen. Ich habe noch nie gehört, dass ein Patient verstarb, weil die Elektrode versagte. Theoretisch denkbar wäre eine sogenannte Elektroden-Dislokation«, sagte Wohlfahrt mit einem skeptischen Blick auf Bircher, »wenn die frisch implantierte Elektrodenspitze den Kontakt zur Herzwand verliert. Die Schrittmacherimpulse erreichten dann nicht den Herzmuskel, sondern würden im umgebenden Blut verpuffen. Hätten wir auf dem EKG-Monitor erkennen können, falls ein solches Szenario eingetroffen wäre. Da war aber nichts dergleichen zu sehen«, beendete er abrupt seine wie im Selbstgespräch vorgetragenen Gedanken.
»Sie persönlich führen die Operationen durch?«
Wohlfahrt zeigte zum ersten Mal so etwas wie eine Gefühlsregung, indem sich sein Mund einmal kurz zu einem ironischen Lächeln öffnete.
»Ja, wer sonst.«
»Sie schließen also jede Panne, wenn ich das mal so ausdrücken darf, aus. Was gaben Sie dann als Todesursache an?«
»Das steht in den Unterlagen.«
Bircher beugte sich nach vorn und kniff die Augen zusammen.
»Ich bin hier, um Ihre Aussage aufzunehmen, nicht um Krankenakten zu studieren, Herr Wohlfahrt.«
Wohlfahrt lümmelte sich in seinen abgenutzten Bürosessel und bedachte Bircher mit einem Blick, als müsste er ihm einen harmlosen Befund erklären.
»Verstehe«, sagte er kühl.
»Na dann mal los, ich möchte Sie nicht durch Ihre Nachtschicht begleiten.«
Arrogante Zeitgenossen gehörten zu den Spezies, die Bircher nicht mochte. Schon gar nicht, wenn Sie seine Zeit raubten. Er straffte sich, fixierte Wohlfahrt mit einem warnenden Blick und stützte beide Arme auf die Oberschenkel. Grundsätzlich bevorzugte Bircher eine unaufgeregte Vorgehensweise, die seiner gemächlichen Art entgegenkam. Wer ihn nicht kannte, hielt ihn zumeist für einen Angestellten eines Ministeriums, vielleicht für Versorgung oder Landwirtschaft. Er kam ja tatsächlich vom Lande, seine Eltern bewirtschafteten nebenbei einen Bauernhof und er war früher einmal Biologielehrer gewesen, bevor er zum Kriminalisten ausgebildet wurde. Das lag zwar lange zurück, aber Bircher haftete mitunter jene Behäbigkeit an, wie man sie im dörflichen Leben antrifft. Wohlfahrt schob sich aus dem Sessel.
»Darf ich mich hinstellen? Habe den ganzen Tag operiert, das geht ins Kreuz.«
Bircher wollte schon sagen, meinetwegen können Sie auch im Liegen reden, wenn’s nur bald losgeht. Beide erhoben sich und standen sich wie zwei Duellanten gegenüber. Wohlfahrt umkurvte seinen Gast und sprach in den Raum:
»Die Patienten, es sind drei Männer, alle über die sechzig, gehörten der Hochrisikogruppe an.«
»Hochrisikogruppe, können Sie das einem Laien erklären?«, unterbrach ihn Bircher unwirsch.
»Bei den Patienten liegt eine besonders gravierende Herzrhythmusstörung vor, ein AV-Block dritten Grades. Die elektrischen Signale erreichen im schlimmsten Fall gar nicht mehr die Herzkammer. Infolgedessen sinkt die Herzfrequenz dramatisch. Sie merken es am Puls, der setzt aus oder schlägt extrem langsam, weniger als fünfzig Schläge. Die Patienten müssen dann sofort reanimiert werden, um eine normale Herzfrequenz sicherzustellen. Sie erhalten einen Herzschrittmacher, weil der die Funktion des elektrischen Impulsgebers übernimmt. Er sorgt für siebzig Herzschläge pro Minute.«
Wohlfahrt hatte so leise gesprochen, dass sich Bircher direkt neben ihn stellen musste. Ihm war, als röche er ein Desinfektionsmittel, und er trat einen Schritt zurück.
»Hm. Wie lange lagen die bei Ihnen mit dem Schrittmacher?«
»Alle zwei bis drei Tage. Unser letzter Verstorbener hätte am Morgen nach Hause gehen sollen. Er ist also in der Nacht vor seiner Entlassung verstorben.«
Die Feststellung klang merkwürdig teilnahmslos, wie die Verlesung einer Todesanzeige aus der Tageszeitung.
»Und die zwei anderen, sind die auch nachts abgegangen?«, nahm Bircher den Tonfall auf.
»Alle in der Nacht.«
»Von wem und wie wurde der Tod bemerkt? Ging da jemand in den Nachtstunden kontrollieren oder hat die Frühschicht den Tod festgestellt?«
»Die Schwester macht ihre Rundgänge. Einen zentralen Monitor zur Aufzeichnung der Elektrokardiogramme gibt es nur im Schwesternzimmer auf der Intensivstation, nicht auf der allgemeinen Kardiologie. Bei uns hängt der Monitor am Bettpfosten, der kann die EKGs nicht speichern. Man geht zur Kontrolle ans Bett, bei bestimmten Patienten etwas häufiger.«
»Welche sind die bestimmten Patienten?«
»Zum Beispiel die mit einem AV-Block dritten Grades oder einer Bradykardie, also mit sehr niedrigem Puls, der auch unter Belastung nicht ansteigt«, klärte ihn Wohlfahrt auf.
»Bradykardie«, murmelte Bircher, wie um sich den Begriff einzuprägen.
»Ja, wie gesagt, ein Herzschlag deutlich unter sechzig Schlägen pro Minute, beim erwachsenen Menschen.«
»Na, wieder etwas dazugelernt, Herr Doktor«, bedankte sich Bircher, die Frage nach dem Vorhofflimmern runterschluckend. »Eine Krankenschwester hat also während ihres Rundganges in der Nacht bemerkt, dass etwas nicht stimmt mit dem Patienten?«
»In der Regel kontrollieren die Nachtschwestern zu festgelegten Zeiten während der Nacht die EKGs am Bett. Im letzten Fall machte sie der Bettnachbar bei einem Kontrollgang am frühen Morgen gleich darauf aufmerksam, dass sich sein Zimmergenosse merkwürdig still verhielt. Sie rief mich.«
»Sie geben uns dann bitte die Namen der Schwestern und der Ärzte, die in den drei Nächten Dienst hatten.«
»In allen drei Fällen hatte ich Dienst«, antwortete kaum hörbar Wohlfahrt.
»Wo befanden Sie sich?«
»Hier, auf der Liege. Die Schwester weckte mich.«
»So. Und Sie haben dann sofort die Männer untersucht und nichts Auffälliges feststellen können.«
»So ist es«, murmelte Wohlfahrt leise und begab sich zurück auf seinen Schreibtischstuhl.
Bircher blieb stehen und dachte für einen Moment über das Gehörte nach. Er gab sich einen Ruck, entschlossen, zum Ende zu kommen.
»Sie haben mir noch nicht verraten, wie Ihre Diagnose lautet. Herzstillstand durch Stromausfall? Bradykardie trotz Schrittmacher? Fremdeinwirkung? Batteriedefekt oder Versagen der Elektroden?«
Beim letzten Wort drückte Wohlfahrt das Kreuz durch und warf Bircher einen misstrauischen Blick zu.
»Sie glauben doch nicht, dass jemand nachts in die Klinik geschlichen kam, um … Ja, was eigentlich hätte diese Person denn tun können? Die Schrittmacherelektroden und die Batterie hängen doch nicht am Bettgestell.«
»Werden die Batterien irgendwie geprüft, bevor sie dem Patienten eingesetzt werden?«
Wohlfahrt froren die Gesichtszüge ein. Er sah Bircher vorwurfsvoll an, so als hätte der ihm eine unverschämte Frage gestellt. Er dachte offenbar nicht daran, auf diese Frage einzugehen.
»Und?«, schob Bircher nach.
»Die Schrittmacher werden programmiert, bevor wir sie verpflanzen. Das geht nur, wenn vorher eine Batterie drin ist.«
»Verstehe, das erfolgt also außerhalb des Körpers. Und, haben Sie nun eine medizinische Erklärung für die Todesfälle auf Ihrer Station?«
Wohlfahrts Gesicht nahm wieder Farbe an und er faltete mit einem Seufzer die Arme über der Brust. Dämliche Fragen, signalisierte seine Körpersprache.
»Sie verstehen offenbar nicht, dass bei ungeklärten Todesursachen alle Möglichkeiten überprüft werden müssen. Ich leite die Morduntersuchungskommission. Also, Ihre Diagnose, Herr Doktor Wohlfahrt?«
Auf einmal war es so still im Raum, dass man den Atem des anderen zu hören glaubte. Wohlfahrts Lippen waren ein schmaler Strich. Es war schwer abzuschätzen, ob seine Empörung gespielt oder vorgetäuscht war. Er unternahm keine Anstalten, auf Birchers Frage einzugehen. Der ließ es dabei bewenden. Sein kalter Blick verriet, was er vom Schweigen des Arztes hielt.
»Nun, dann gehe ich davon aus, dass wir die Ermittlungen fortführen werden. Zur nächsten Frage, die Sie sicher beantworten können: Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit zwischen Ihnen, Frank Schuster und Klaus Behrens? Wer macht was, kommen die in Ihre Klinik, haben sie Zugang zu den Patienten, treffen Sie sich regelmäßig mit denen? Ich höre.«
Bircher saß jetzt wieder Wohlfahrt gegenüber. Hinter den dicken Brillengläsern waren seine aufmerksamen Augen starr auf den Arzt gerichtet und gaben ihm den Ernst der Lage zu verstehen. Wohlfahrt entspannte sich ein wenig. Diese Fragen erschienen ihm unverfänglich. Er richtete sich auf und entlockte seinen Zügen den Hauch eines freundlichen Lächelns. In der vergangenen halben Stunde hatte seine Mimik zwischen Besorgnis, Empörung, Gleichmut und unterdrückter Wut gewechselt. In ruhigem Ton, als referierte er über ein medizinisches Thema, erzählte Wohlfahrt von der Studie, die die drei Männer zusammengebracht hatte. Dass Frank die klinischen Daten der zentralen Schrittmacherdatei analysierte, Klaus in den Blutproben nach auffälligen klinischen Markern suchte, und wie er selbst das Ganze aus ärztlicher Sicht begleitete, sie auch einmal mit in den OP-Saal genommen hatte, und dass die Sache erfolgreich zu werden schien. Alles bestens, signalisierte er Bircher, der ihn reden ließ, obwohl ihm das alles aus den Akten bekannt war.
Während Wohlfahrt sprach, vervollständigte Bircher sein Bild von ihm. Ein Mann mit pedantischen Zügen, der sich seinem Beruf voll hingab. Wahrscheinlich ein Mensch, der im privaten Leben Konflikte mied und sich rasch verschloss, wenn’s kritisch wurde. Ein Einzelgänger, ganz ohne Frage. Eine bedrückende Stimmung ging von ihm aus, den Mann umgab eine Trauer, als würde ihm etwas auf der Seele liegen. Wohlfahrts Profil passt nicht gerade in mein Berufsbild eines Chirurgen, stellte Bircher verwundert fest. Oder der Beruf passt nicht zu dem Mann. Na ja, jetzt beende ich das Gespräch. Als könnte Wohlfahrt Gedanken lesen, hatte er sich mittlerweile neben die Tür gestellt und wartete mit reglosen Augen darauf, dass sich Bircher verabschiedete.
»Verkehren Sie mit Schuster und Behrens auch privat?«, fragte Bircher wie beiläufig, sein Notizbüchlein verstauend.
Wohlfahrt stutzte, als vermutete er eine Falle.
»Hm, schon, aber nicht intensiv. Die beiden waren einmal bei uns zum Essen. Ja, und meine Frau, die hat die beiden auch mal besucht.«
»Wie, allein?«
»Nein, natürlich nicht. Unser Freund und Nachbar, Doktor Bäsler, hat sie begleitet. Mir hatte man kurzfristig einen Nachtdienst aufgebrummt.« Wohlfahrt war plötzlich in einen legeren Tonfall verfallen.
»Doktor Bäsler, arbeitet der auch hier?«
»Über mir, in der Chirurgie, als Oberarzt.«
»Vorname?«
»Lothar.«
»Bei welchem ihrer Kollegen waren Ihre Frau und Doktor Bäsler?«
»Äh, bei beiden, die wohnen zusammen.«
»Aha«, sagte Bircher trocken, zog das Notizheft wieder heraus und notierte sich etwas.
»Wohnten. Ich glaube, Frank ist vor ’ner Weile ausgezogen«, ergänzte Wohlfahrt gelangweilt.
»Und Ihre Frau, ist sie auch in der Medizin unterwegs?«, fragte Bircher im Plauderton, über den Besuch Frau Wohlfahrts bei den beiden Junggesellen nachsinnend.
»Nein.« Wohlfahrts Stimme klang ablehnend.
»Und?«, half Bircher nach.
»Meine Frau ist als Abteilungsleiterin im Kosmetik-Kombinat beschäftigt und beaufsichtigt die Entwicklung neuer Produktlinien«, beschrieb Wohlfahrt leicht gestelzt die Tätigkeit der Gattin.
»Sicher interessant«, ließ Bircher vernehmen, der noch nie in seinem Leben ein Rasierwasser benutzt hatte. »Behrens und Schuster, können die hier auf der Station ein und aus gehen, weil sie mit Ihnen an dem Projekt zusammenarbeiten?«
Wohlfahrts Gesicht verschloss sich erneut. Er schien die Frage als einen Angriff auf seine Berufsehre aufzufassen.
»Hier geht niemand ein und aus ohne meine Erlaubnis. Wir sind doch kein Bahnhofsgebäude, Herr Bircher. Aber natürlich treffen wir uns hier ab und zu, und Klaus Behrens muss auch die Blutproben abholen, um sie in sein Labor am Institut für Wirkstoffforschung zu bringen.«
»Gut, kommen wir vorerst zum Schluss. Ich brauche dann noch Kopien der Krankenakten von den drei verstorbenen Patienten. Könnten Sie das bitte veranlassen?«
»Wie? Die gehören doch unter das Gebot der ärztlichen Schweigepflicht«, protestierte Wohlfahrt.
»In meinem Beruf ist man per Befehl zur Verschwiegenheit verpflichtet, Herr Doktor.« Bircher sah ihn schräg an und unterdrückte ein Gähnen.
»Muss mal sehen, wer noch hier ist«, murmelte Wohlfahrt.
Bircher stemmte sich aus seinem Stuhl, ächzte leicht, als er den Rücken streckte, und kontrollierte die Uhrzeit. Schaff ich gerade noch zum Abendessen, stellte er zufrieden fest. Er überflog in Gedanken das Gehörte und zuckte etwas ratlos mit den Schultern. Nichts Greifbares, resümierte er. Paar Hinweise auf Ungereimtheiten. Wie kann es denn sein, dass drei erfolgreich Operierte – immer Männer im besten Alter – einfach so wie Hundertjährige im Schlaf von uns gehen? Allen ging es gut, ihre Herzen schlugen wieder normal, im Siebziger-Rhythmus, wie Wohlfahrt sagte. Der kann mir nicht erklären, warum die alle aufhörten zu atmen. Oder verheimlicht er mir was? Ich werde mich wohl mit Schrittmachern beschäftigen müssen. Der Gedanke beunruhigte ihn wie ein Arztbesuch. Nee, das überlasse ich Rainer Schmidter, legte er fest. Der kann sogar einen Trabbi reparieren. Und Philipp nimmt sich die Forscher vor. Da geht’s dann rasch zur Sache. Oberleutnant Angler konnte den Leuten mächtig auf den Leib rücken, wenn er in Fahrt geriet.
»Hier sind die Kopien«, riss ihn Wohlfahrt aus seinen Gedanken, der unbemerkt das Zimmer betreten hatte. Wie vom Himmel gefallen taucht der neben einem auf, wunderte sich Bircher.
»Danke Ihnen. Eine letzte Bitte: Können Sie mir ein Krankenzimmer zeigen?«
Wohlfahrt bedachte ihn mit einem misstrauischen Blick, zögerte kurz und nickte dann. Wortlos drehte er sich zur Tür.
»Dann gehe ich mal voran.«
»Gibt es nur diese eine Station in der Klinik?«, fragte Bircher, der sich beeilte, Wohlfahrt zu folgen.
»Wir haben noch eine zweite, die zur Inneren gehört.«
»Liegen dort auch Schrittmacherpatienten?«
»Ja, aber weniger«, antwortete Wohlfahrt kühl und warf Bircher einen prüfenden Blick zu.
Sie schritten einen langen weißen Korridor entlang, an dessen Seiten die Krankenzimmer lagen. Wohlfahrt blieb einige Male stehen, öffnete eine Tür, sah sich im Zimmer um und nickte den Patienten zu. Offenbar suchte er den passenden Raum, vielleicht wollte er Bircher einen bestimmten Patienten zeigen.
»Hier können wir mal reinsehen«, sagte er und winkte Bircher, ihm zu folgen.
Es war ein Vierbettzimmer, aber nur von zwei Patienten belegt. Sieht gar nicht so schlimm aus, fand Bircher, der etwas ungelenk vor den Betten stand. Er hatte erwartet, dass das Zimmer vollgestopft wäre mit medizinischen Geräten. Stattdessen sah er Blumen auf den Nachttischen und helle Gardinen am Fenster. Er stellte sich ein Zimmer im FDGB-Heim vor, das musste ähnlich aussehen.
»Guten Abend«, begrüßte Wohlfahrt den Mann, der sich halb aus dem Kissen stemmte. »Bleiben Sie ruhig liegen, Herr Buchholz, wie geht’s Ihnen? Alles normal?«, fragte er und legte wie zur Beruhigung seine Hand auf die Schulter des Patienten, der auf seinen Ellenbogen gestützt verwundert die beiden Männer ansah.
»Ja, ja, Herr Doktor, fühle mich sehr gut, alles gut …«, stotterte der Mann, der nicht begriff, was man von ihm um diese Zeit wollte. Eigentlich passierte nach der Abendvisite nichts mehr, und die hatte gerade stattgefunden.
»Kein Grund zur Aufregung, mein Kollege möchte nur einmal eines der Zimmer sehen, in denen unsere Schrittmacherpatienten liegen«, erklärte Wohlfahrt die Situation mit einer kleinen Notlüge und drückte den Mann sanft in sein Kissen.
»Ach so«, flüsterte der Patient.
»Wenn ich schon hier bin, lassen Sie mich mal Ihr Herz abhören«, sagte Wohlfahrt und zog sein Stethoskop aus der Kitteltasche. Bircher trat einen Schritt zurück und senkte die Mundwinkel. Der Patient lüftete brav die Bettdecke, öffnete seine Pyjamajacke, und Wohlfahrt beugte sich zu ihm.
»Offensichtlich gute Stimulation, regelmäßiger Herzschlag, Herr Buchholz«, sprach er zu seinem Patienten wie zu einem gelehrigen Schüler. »Alles bestens, haben Sie eine schöne Nacht. Übermorgen gehen Sie nach Hause, Herr Buchholz«, verabschiedete sich Wohlfahrt und bedachte ihn mit einem wohlwollenden Klaps auf die Schulter.
Das wünsche ich ihm von Herzen, setzte Bircher für sich hinzu. Wieder auf dem Korridor, wandte er sich an Wohlfahrt.
»Gute Stimulation bedeutet, dass die Elektroden einwandfrei funktionieren?«, vergewisserte er sich noch einmal vorsichtig.
»In Kombination mit den Batterien«, fügte Wohlfahrt hinzu.
Bircher verkniff sich weitere Fragen und sie verabschiedeten sich mit einem förmlichen Handschlag auf dem Korridor. Bircher stieg die Treppen hinab und nahm sich vor, seinen Freund und Kollegen Professor Wolfgang Tetsche, Gerichtsmediziner an der Charité, über die Tücken einer Schrittmachertherapie auszufragen. Bei dem kann ich mich nach all den Jahren nicht mehr blamieren, grinste er in sich hinein.
Klaus’ Vater besaß an einem der Berliner Seen eine kleine Datscha, nur einige Busstationen vom S-Bahnhof Erkner entfernt. Verließ man den S-Bahnhof, musste man den Bus nach Kagel nehmen, der nur alle zwei Stunden verkehrte. Es dauerte knappe zwanzig Minuten und man erreichte Grünheide, einen kleinen Ort am Peetzsee, der für seine Milchbar bekannt war, die sich im Kulturhaus befand. Hier versammelten sich in den Sommerferien die Dorfschönen, Einheimische, Datschenbesitzer und Urlauber, um sich aus der Musikbox mit Schlagermelodien beschallen zu lassen. Auf hohen, mit Kunstleder gepolsterten Hockern saß man am Tresen, auf den trichterförmige Lampen unterschiedlicher Farbe im Chic der sechziger Jahre buntes Licht warfen. Die vordere Wandverkleidung wies eine konkave Form auf, am Tresen sitzend stieß man sich nicht die Knie. An dem sich verengenden Aufbau befand sich eine tiefe Ablage für Handtaschen oder Schirme. Auf dem Hocker lümmelnd, konnte man entspannt das Publikum betrachten. Der Milchbar war eine geräumige Terrasse vorgelagert, längs zur einzigen gepflasterten Straße des Ortes, die von der Busstation quer durch den Ort bis zur Kanalbrücke führte und den Peetzsee vom Werlsee trennte. Die Terrasse war der Lieblingsort von Klaus und Frank, weil man die Straße, den Bürgersteig und das gegenüberliegende Hotel am Peetzsee im Blick hatte. Zum Hotel gehörte eine geräumige, verglaste Veranda, eigentlich ein Ballsaal, an der Stirnseite befand sich eine kleine Bühne, auf der am Wochenende aus der Hauptstadt angereiste Bands groß aufspielten. Die Milchbar war der Ort, wo man das Abendprogramm plante und an dem es mit etwas Glück seinen Anfang nahm.
Von der Terrasse bis zur Laube war es für Frank und Klaus eine knappe halbe Stunde Fußweg. Gleich hinter dem Ortsausgang Grünheide zweigte ein Trampelpfad ab, der sich in einem weiten Bogen durch dichten Laubwald schlängelte, bis er nach zwei Kilometern am See endete. Dann waren es noch wenige Schritte entlang der Uferböschung, bevor zwischen Wald und Wasser die winzige Siedlung aus drei einfachen Holzlauben auftauchte. Jede Datsche war mit einem Zimmer, einer winzigen Kochnische und einer Dusche ausgestattet. Zu jedem Häuschen gehörte ein winziger Garten, gerade groß genug, um einen Tisch und vier Stühle aufzustellen. Alle Lauben waren zum Wasser hin ausgerichtet, man lief ein paar Schritte den kleinen Hang hinunter und schon war man im See, den die Berliner Laubenpieper als eine Verlängerung ihres Grundstücks betrachteten. Wenn Frank und Klaus morgens zum Ufer liefen, um sich im gleißenden Licht der Morgensonne ins Wasser zu werfen, jauchzten sie wie Kinder in ihrem Planschbecken. Manchmal, nach einem erfolgreichen Dorffest, schwammen sie zu viert nackt im stillen See.
Etwa zur selben Zeit, als sich Bircher von Doktor Wohlfahrt verabschiedete, saß Frau Renate Wohlfahrt neben Frank Schuster im Trabbi und freute sich auf die Stunden mit ihrem Liebhaber. Frank hatte sich überwinden müssen, seinen Vater anzurufen, den er eigentlich kaum um Rat fragte. Aber in diesem Fall ging es nicht anders, er wollte unbedingt diesen Ausflug und überwand seine Skrupel. Franks Vater hatte ihm nach einigem Zögern das neue Auto mit dem Hinweis überlassen, die Gänge nicht so auszufahren. Sie knatterten auf der B1 in Richtung Autobahnauffahrt Vogelsdorf. Frank glaubte Renate eine Abwechslung bieten zu müssen, nachdem sie sich einige Male in seiner Wohnung getroffen hatten, und hatte sie zu einem abendlichen Stelldichein im brandenburgischen Altbuchhorst eingeladen. Mitten in der Woche würde er Klaus nicht antreffen, falls der überhaupt noch dorthin fuhr. Der Schlüssel lag unter einem Blumenkübel, das hatten sie früher einmal vereinbart. So war man sicher, nicht vor verschlossener Tür zu stehen, wenn es darauf ankam …
Es war ein ungewöhnlich milder Herbstabend, Renate hatte das Fenster etwas heruntergekurbelt und ließ sich vom Fahrtwind die Haare föhnen. Ihre linke Hand ruhte auf Franks rechtem Oberschenkel, die Augen halb geschlossen, döste sie vor sich hin. Sie spürte seine Muskeln, wenn er bremste. Die B1 führte hinter Biesdorf schnurgerade nach Osten, Frank konnte sich jetzt entspannen, denn um diese Zeit flaute der Verkehr merklich ab. Die Revolverschaltung vibrierte leicht, er fuhr mit Bedacht. Er war sich bewusst, dass es sehr heikel werden könnte, würden sie auffallen, etwa durch eine Verkehrskontrolle.
Niemand wusste von ihrer Beziehung. Sie hatte noch im August begonnen, kurz nachdem Frank ausgezogen war. Die Kraft und Ruhe, die von ihm ausgingen, sein Gleichmut, mit dem er Hindernisse aus dem Weg zu räumen schien, und sein Lächeln, das ihm wie ein Wesensmerkmal in den Zügen lag, zogen Renate Wohlfahrt an. Sie erinnerte sich gern daran, wie er ihr am ersten Abend etwas unbeholfen sein Programm zum Idealgewicht erläutert hatte, während ihr zumute gewesen war, als säße sie neben einem Magier. Frank hatte sie tatsächlich verzaubert. Er hatte alles, was sie an Peter vermisste, er war der Gegenentwurf zu ihm. Am Anfang war da noch Klaus gewesen, der Junge mit dem Gemüt eines ungestümen Kindes, der sie auf andere Art anzog. Dem konnte es nicht schnell genug gehen, der konnte seinen Tatendrang kaum drosseln. Dem würden irgendwann einmal die Gefühle den Verstand rauben, spannend, aber gefährlich. Solche Männer konnten im Ernstfall die Dinge nicht für sich behalten. Sie hatte auch ihn in ihr Herz geschlossen, aber er befand sich sozusagen unter Verschluss. Leidenschaft empfand sie für Frank, Klaus gehörte ihre Sympathie und herzliche Zuneigung. Eigentlich, fand sie manchmal, könnte ich mit beiden unter einem Dach zusammenleben.
Sie warf Frank einen zärtlichen Blick zu und zog ihre Hand von seinem Bein. Sie hatten die Stadt verlassen und näherten sich der Galopprennbahn in Hoppegarten. Renates Gedanken kehrten noch einmal zu Klaus zurück. Ihr waren die Offenbach-Stuben eingefallen. Klaus hatte vor einigen Wochen inständig darum gebeten, sie zum Essen einladen zu dürfen. Du Scherzkeks, hatte sie ihn in Gedanken geneckt, als würde es dir nur ums Essen und Geplauder gehen. Na ja, die Neugierde hatte gesiegt und sie hatte zugesagt. Peter hatte an dem Tag wieder einmal Nachtdienst. Sie wunderte sich ein wenig, als Klaus die Offenbach-Stuben vorschlug. Donnerwetter, legt der sich ins Zeug, war ihre erste Reaktion. Das war ein nobler Ort, bekannt für die Kellner »vom anderen Ufer«, sehr gutes Essen und prominentes Publikum. Renate wurde kurz abgelenkt, weil sie einige Pferde auf der Koppel bemerkte, nach denen sie sich umsah. Dabei berührten ihre Haare Franks Wange, sein Gesicht strahlte vor Glück. Schöne Räume haben die dort, nahm sie ihre Erinnerungen an Klaus wieder auf. Dunkelgrüne Holzpaneele, gestreifte Tapeten wie in alten französischen Filmen, Vorhänge mit goldschimmernden Kordeln. Der Kellner hieß Hansi, am Nachbartisch saßen irgendwelche wichtigen Leute, wahrscheinlich Westbesuch, und aßen Schnecken. Ja, es war ein schöner Abend, aber Klaus’ Hoffnungen erfüllte sie nicht. Sie schreckte aus ihren Erinnerungen auf, weil sie die Autobahn erreicht hatten und Frank entgegen aller Hinweise seines Vaters das Gaspedal durchdrückte, worauf der Trabbi wie ein geschundener Gaul aufheulte.
»Pass auf, dass die Pappe nicht schmilzt«, rief Renate und presste wieder ihre Hand auf Franks Oberschenkel.
»Wir sind gleich da«, vermeldete er.
»Fahr langsamer und erzähl mir was von dem Ort! Altbuchhorst, nie gehört.«
»Also«, begann er zögernd, darauf bedacht, sich nicht zu verquatschen. »Die Gaststätte am Möllensee hat ’ne prima Küche, deren unbestrittene Chefin Else Fleischer ist. Ihr Mann steht wie angekettet von früh bis abends am Zapfhahn.« Frank sprach jetzt wie ein Reiseführer, der im Bus die Gegend erklärt. »Am Restaurant ist eine große Veranda angebaut, die ist zur Seeseite verglast. Hoffentlich ergattern wir dort einen Tisch.«
Renate leckte sich die Lippen und versuchte wie zur Musik ihren Oberkörper zu schwenken.
»Von der Veranda sieht man die Schiffe der Weißen Flotte, die kommen aus Treptow und legen vor der Gaststätte an.«
»Oh, wie idyllisch«, antwortete Renate, die mittlerweile Frank fast auf dem Schoß saß.
»Und ob«, pflichtete ihr Frank bei. »Und ich sage dir, wenn das Schiffshorn zweimal bläst, dann beugt sich die Else mit ihrer perfekten Dauerwelle durch die Küchenluke und linst in den Gastraum, als würde sie die Portionen durchzählen.«
Interessant, was mein Frank so alles bemerkt, dachte sich Renate, die an seiner Schulter lehnte.
»Dann ist da noch eine Kegelbahn, wenn die Kugeln rollen, hört sich das von draußen wie Kanonendonner an.«
»Na, das brauche ich nicht«, bemerkte Renate mit einem Blick auf ihre zierlichen Hände.
Die Dämmerung war angebrochen, das schräge Licht der letzten Abendsonne erzeugte bizarre Schatten im Wald, der sich zu beiden Seiten ausbreitete. Man erkannte noch die goldene Laubfärbung der stolz in den Himmel ragenden Buchen, das sanfte Grün der Fichten und die gezackten Blätter mächtiger Kastanien. Die Landschaft begab sich allmählich zur Nachtruhe. Frank fuhr jetzt langsamer, als wollte er die Stimmung festhalten. Eben noch auf der Betonpiste, befanden sie sich auf einmal inmitten der Natur, nur die schmale Landstraße erinnerte sie daran, woher sie kamen und wohin sie wollten. Würden wir jetzt anhalten und aussteigen, wenige Schritte in den nachtschwarzen geheimnisvollen Wald wagen, wären wir ganz auf uns allein gestellt, dachte Renate und schob sich noch eine Handbreit näher an Frank.
»Gruselig«, flüsterte sie.
Frank warf einen flüchtigen Blick nach links in die geheimnisvolle Nacht. Er erinnerte sich plötzlich an alte Zeiten, wie Klaus und er nach einigen Bieren darüber philosophierten, was wohl geheimnisvoller wäre, die Liebe oder die Natur, und warum allein die Natur ewig währte. Wie um sich von der Erinnerung zu befreien, schüttelte er leicht den Kopf.
»Alles in Ordnung?«, fragte Renate zärtlich.
»Ja. Manchmal tritt Wild auf die Straße, hier muss man langsam fahren.«
»Verstehe, das würde die Plaste nicht überstehen.«
»Wir vielleicht ebenso wenig. Da vorn siehst du die Lichter von Grünheide, dann sind es noch zwei Kilometer.«
»Und da hält der Dampfer aus Berlin?«
»Hm, Weiße Flotte, kommt aus Treptow. Bist du mal mitgefahren?«
»Allerdings.« Ihre Stimme klang auf einmal ganz anders, wie bei einer schmerzlichen Erinnerung.
»Ist was?«, fragte Frank besorgt.
»Ach, nur so eine Erinnerung. Wir hatten vor zwei Jahren einen Betriebsausflug auf so einem Dampfer. Wie üblich, ging es hoch her, kennst du ja. Ich bin dann hoch aufs Deck und da hat mich so ein Kerl angemacht, ziemlich dreist. Der war nicht aus meinem Betrieb. Egal, ist ja nichts weiter gewesen, dieser alte Sack …«, zischte sie und schmiegte sich gleich darauf an Franks Schulter.
»Kennst du seinen Namen?«
»Fred Wegner oder Wagner, weiß nicht genau. Peter kannte den von irgendwoher.«
Frank drückte wie zum Trost kurz seine rechte Hand auf ihr Knie.
Die Straße machte einen letzten Bogen, bevor sie den Ort erreichten. Keine zwei Minuten später bogen sie auf die Altbuchhorster Straße ein und der Trabbi holperte über das Kopfsteinpflaster, bis sie links vor sich den Parkplatz der Gaststätte am Möllensee erreichten. Frank stürmte die drei Eingangsstufen hoch, betrat die verglaste Veranda und steuerte einen freien Fensterplatz an. Die Kellnerin sah ihm missbilligend hinterher und öffnete bereits den Mund, verkniff sich jedoch eine Bemerkung, als ihr Renate mit einem freundlichen »Schön hier bei Ihnen!« zuvorkam. Sie trug ein luftiges weißes Kleid, ihr dunkelblaues Jäckchen hatte sie sich lässig über die Schultern gelegt. Mit dem Gang einer Frau, die es gewohnt ist, die Blicke auf sich zu ziehen, schritt sie durch den Gastraum. Frank stand wie ein frisch verliebter Bräutigam am Tisch und breitete stolz beide Arme aus.
Als sie den letzten Schluck Weißwein zu sich genommen hatten, beugte sich Renate weit über den Tisch.
»Sind wir hier in einem Hotel?«
Frank zog die Stirn in Falten und zögerte mit der Antwort.
»Müssen wir zurück?«, fragte sie mit Flüsterstimme, immer noch in gleicher Haltung.
»Ich kann ja mal fragen, die haben hier tatsächlich auch Gästezimmer.«
Bemüht um eine weltmännische Haltung, schlenderte er zur Theke. Herr Fleischer sah ihm an, was er auf dem Herzen hatte.
»Ich habe mal ’ne Frage«, tastete sich Frank vor.
»Schießen Sie los«, konterte der Chef jovial.
»Vermieten Sie auch Zimmer?«
Fleischer löste seinen rechten Arm vom Bierhahn, drehte sich zu einem Schlüsselbrett und erklärte mit einer Handbewegung:
»Heute alles belegt, Schulung. Tut mir leid. Vielleicht nächstes Mal.«
Frank sah enttäuscht auf das leere Schlüsselbrett und ging zurück zum Tisch. Fleischer begleitete ihn mit einem mitfühlenden Lächeln. Die Kellnerin brachte die Rechnung, und während Frank die Positionen überflog, betrachtete Renate mit halbgeöffnetem Mund die Lichter des auslaufenden Dampfers, die sich auf der Wasseroberfläche spiegelten. Sie hörte wie nebenbei, dass sich Frank in seinem ruhigen Ton an die Kellnerin wandte:
»Sie haben sich verrechnet. Es muss neunzehn siebenundachtzig heißen, nicht zwanzig siebenundachtzig.«
Der Kellnerin stand eine Mischung aus Erstaunen und Empörung auf dem Gesicht geschrieben. Renate sah, dass Franks Lächeln schmaler wurde.
»Die Rouladen je drei fünfundsiebzig, plus zwei Bier je einundfünfzig Pfennig und die Flasche Trakia, zu elf fünfunddreißig. Macht neunzehn siebenundachtzig.«
Renate verharrte in stiller Bewunderung. Die Kellnerin korrigierte mit einem schnippischen »Kann ja mal passieren« ihre Rechnung und wünschte »Noch ’nen schönen Abend«.
»Wollen wir zurückfahren oder noch etwas bleiben?«, fragte Frank, als befänden sie sich auf irgendeiner Party.
Renate spitzte die Lippen und bewegte wie zur Entspannung ihre Hüften.
»Ich könnte dir noch die Datscha zeigen, wo Klaus und ich manchmal sind.«
»Oh, ein weiteres Geheimnis, das ihr beide teilt. Ist es denn weit?«, fragte sie neugierig.
Kurz nach Mitternacht verließen sie das Häuschen am See und begaben sich auf den Rückweg nach Berlin. Renate hatte den Sitz leicht nach hinten geklappt und träumte in halb liegender Position mit offenen Augen. Ihre linke Hand fasste wie haltsuchend Franks Arm. Sie schwiegen erschöpft.
»Merkt Peter nichts?«, fragte Frank auf einmal ohne jeden Übergang.
Die Frage rüttelte Renate aus ihrer Schlafposition. Sie zog augenblicklich ihre Hand zurück und sah ihn forschend an.
»Und wenn, was würde es ändern?«
»Er könnte dich verlassen.«
»Nie. Er hat nur mich, na ja, und seine Patienten.«
»Die scheinen ihn bereits zu verlassen.«
Renate warf ihm einen aufmerksamen Blick zu.
»Meinst du, dass er nicht ganz bei der Sache ist? Doch nicht etwa unseretwegen?«
»Was weiß ich.«
Renate schwieg und sah nach vorn, als fürchtete sie ein Hindernis.
»Gib uns etwas Zeit, Frank.«