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Kapitel 3
ОглавлениеIm fernen Altai.
Am Waldrand vor einem felsigen, unbewaldeten Abgrund pausierten die Jagdfreunde. Sie aßen von ihrem Proviant und sprachen über bisher ausgebliebenes Jagdglück. Durch ihr Fernglas beobachteten sie Maralhirsche in der Ferne.
Der hünenhafte, sportlich-schlanke, dunkelhaarige Enddreißiger, Florian Dalheim - im Berufsleben Manager für Controlling und Vice President der Burg-Firma im Norden der Eifel, stets adrett, elegant modisch gekleidet - hing seinen Gedanken und Vorfreuden über bevorstehende Jagderlebnisse in der weiten Natur der fernöstlichen urwüchsigen Ungebundenheit und Eigenständigkeit nach. Er sah die waidmännische Jagd als eine Form der Freiheit und Individualität. Dalheim genoss das Glücksgefühl der Jagd, es kam aus seinem Inneren.
Schräg vor ihm hockte Michael Derling auf einem Baumstamm. Der sportliche, durchtrainierte Mittvierziger mit kurzen Haaren und rechtsseitigem Scheitel war nicht nur theoretisch in der Jagdkunde beschlagen, sondern er kannte viele Jagdgebiete in der Welt aus persönlichem Erleben. Als Publizist gab er seine Eindrücke und Erfahrungen in Fachzeitschriften über das Jagen weiter. Dalheim und sein Freund Werle, der Dritte der Jagdtouristen, sahen in ihm den Berater, wenn es darum ging, in der Wildnis des Fernost stets die Orientierung zu behalten. Sie nannten ihn – wie in der Hubertuslegende - einfach ‚Hubertus‘, den Schutzpatron der Jagd. Für sie war er der persönliche Beschützer in der freien, wilden Natur.
Konstantin Mautner, der Jagdführer, wurde befragt, wo er so gut deutsch sprechen gelernt habe. Er erzählte, dass er Russlanddeutscher sei, die Großeltern und Eltern im Wolgagebiet gewohnt haben und die Großmutter Deutsche gewesen sei und zu Hause viel deutsch gesprochen wurde.
Dalheim hatte sein Gewehr neben sich liegen. Konstantin schielte eine geraume Zeit darauf, bis er Dalheim fragte, ob er es genauer besehen dürfe. Er betrachtete es von allen Seiten, schaute durch das Zielfernrohr, musterte das erlesene Schaftholz und die feinen kunstvollen Gravuren auf den Seitenplatten, die Jagdmotive darstellten. Behutsam strich er mit der Hand über die exklusive Jagdflinte, so als würde er ein liebes Tier streicheln.
„Englisches Fabrikat – nicht wahr?“, stellte Konstantin fest.
„Ja, von James Purdey, das ist die königliche Waffenschmiede in London.“
„Ah, eine Purdey – beste Jagdwaffe der Welt.“
„Gewiss, handgefertigtes klassisches Stück mit modernster Technologie, mit Computerunterstützung, sie kostete mehr als ein guter Kleinwagen“, klärte Dalheim auf.
Dalheim schielte zu Konstantin. Sein gieriger Blick, die Bewegungen der Arme und Hände, die Gesten – diese Körpersprache ließen ihn grüblerisch und argwöhnisch werden.
Auf dem Rückweg durchstreiften sie lichten Lärchenwald, der von einer freien, erhöhten, steinigen Fläche unterbrochen wurde, die in ein kleines Tal mit felsigen Gesteinsrändern überging.
Von einer Anhöhe blickten sie in eine weiträumige, unbegrenzt erscheinende Landschaft. Dalheim empfand Ehrfurcht und Respekt vor der Natur. Gleichzeitig hatte er den Eindruck der eigenen ‚Winzigkeit‘. Gedanken über die Unendlichkeit flammten auf.
Am Abend wurden die Jagdtouristen zu einem Abendessen am Lagerfeuer im nahe liegenden Dorf eingeladen. Konstantin kam mit einem Geländewagen zur Hütte, um sie zum Treffen abzuholen. Bevor sie losfuhren, regte er an, sie mögen noch reichlich Holz im Ofen nachlegen, damit es abends schön warm in der Hütte sei, wenn sie zurück kämen. Er empfahl, die Ofenklappe nur sehr wenig zu öffnen, das Holz könne ja schwelend langsam abbrennen. Die Jagdtouristen maßen in dem Augenblick dieser Bemerkung keine Bedeutung zu. Als sie in dem kleinen Ort, der nur aus elf Häusern bestand, eintrafen, war das Lagerfeuer schon weit hin zu sehen, es bildete den Mittelpunkt. Eine beachtliche Zahl von Dorfbewohnern und andere Touristen hatten sich auf Bänken an Tischen um das Feuer platziert. Der Himmel war sehr dunkel und sternenklar, kein Streulicht hellte das scheinbare Gewölbe auf. Gegen die einströmende Kälte schlugen sie Decken um Körper und Beine.
Mit einer besonderen Konstruktion wurden Fleischstücke und Fleischscheiben am Feuer gegrillt. Auf langen Metallstäben waren Fische aufgespießt und der heißen Luft neben den Flammen ausgesetzt.
Kaum hatten sich die Jagdtouristen gesetzt, animierte Konstantin mit einem Trinkspruch – quasi zur Begrüßung, also vor Beginn der Mahlzeit - ein Glas Wodka zu leeren. Gleichzeitig erläuterte er die Technik des Trinkens. Beim Trinken halte man die Luft an, leere das Glas mit einem Schluck und atme anschließend aus. Dalheim erinnerte sich an die Trinkkultur der Studentenverbindungen während seiner Studienzeit und erwiderte mit einem kurzen lateinischen Trinkspruch.
Konstantin setzte sich neben Dalheim und Werle. Er ermunterte, weiteren Wodka zu trinken, bestand aber nicht darauf, dass stets der Inhalt des Glases vollständig auszutrinken sei. Auf den Tischen wurde Borschtsch, die traditionelle Rote-Beete-Suppe, aufgetragen. Beim Essen holte Konstantin einen Gewürzstreuer aus seiner Jackentasche und streute eine Prise auf seine Suppe, um anschließend mit viel Schwung mehrere Portionen in die Suppe von Dalheim und Werle zu geben. Mit Mühe konnten sie die unfreiwillige Zugabe stoppen, als auch schon Hubertus eine größere Menge auf seinen Teller bekam.
Konstantin verwies darauf, dass das Gewürz das Aroma der Speise ergänze und günstige Wirkungen im Körper entfalte.
Dalheim und Werle rätselten, welche weiteren Inhaltsstoffe in dem russischen Nationalgericht noch zu identifizieren waren. Sie kamen überein, dass sich noch Zwiebeln, Kartoffeln, Weißkohl, Möhren, Tomaten darin befanden.
Frauen stellten noch mehrere Schüsseln sowohl mit Schafkäse als auch mit eingelegten Pilzen auf die Tische, dunkles Brot wurde ergänzt. Andere Frauen kredenzten aus einem Korb Gläser mit Tee und Kumis.
Werle griff aus Interesse nach dieser vergorenen Stutenmilch, die auch als ‚Milchwein‘ bezeichnet würde. Er verzog beim Trinken sein Gesicht.
„Sehr gewöhnungsbedürftig - ja, säuerlich, prickelnd - aber dazu dieser mandelartig-käsige Geschmack, nein kein weiteres Glas“, kommentierte er.
Dalheim überlegte plötzlich, weshalb Konstantin den Gewürzstreuer aus seinem Jackett gezogen und dieser nicht auf dem Tisch gestanden habe. Weshalb er nur zaghaft eine winzige Spur des angeblichen Gewürzes auf seinen Teller gestreut habe und bei ihm und den anderen beiden aber mit vollem Schwung mehrmals beachtliche Mengen ausgeteilt habe. Er fragte sich, kam überhaupt etwas aus dem Streuer, wenn man nur zögerlich das Gefäß bewegte. Konstantin hatte danach den Behälter tüchtig auf dem Tisch aufgestoßen und geschüttelt, ehe er über die anderen Suppen streute. Was war in diesem Gewürzsteuer wirklich? Ein unwohles Gefühl durchzog seinen Körper. Er bildete sich ein, dass ihm übel werde. Er stand auf, fädelte seine Beine über die Sitzbank, was nicht ganz so einfach war, er konnte schlecht das Gleichgewicht halten. Er lief vorsichtshalber einige Schritte, falls er sich übergeben müsste. Aber das Gefühl verstärkte sich nicht, vielleicht waren es nur psychosomatische Vorstellungen, sagte sich Dalheim. Er ging zum Platz zurück.
Konstantin nötigte zum weiteren Trinken des ‚Wässerchens‘ und erzählte von seiner Familie, die in den dreißiger Jahren an der Wolga wohnte. Sein Vater sei im Zweiten Weltkrieg in deutsche Gefangenschaft geraten, daraufhin sei die gesamte Familie nach Südsibirien umgesiedelt worden. Der Vater sei in Deutschland als Zwangsarbeiter im Arbeitslager an der Staumauer einer Talsperre umgekommen. Sein Sohn Sergej arbeite jetzt im westlichen Deutschland in Nähe eines Stausees.
Da blitzte ein Gedanke in Dalheim auf.
„Ach Konstantin! - Der Sergej ist dein Sohn? Welch ein Zufall. Aber ja, natürlich, ... Sergej Mautner. In der Tat, Sergej arbeitet seit einiger Zeit in unserer Firma. Er hat uns die Reise hierher empfohlen und vermittelt. Aber dass sein Vater hier Jagdführer ist, hat er nicht erwähnt.“
Der Vater Konstantin hatte schon lange vor dem Eintreffen der Jagdtouristen die Fotos und Kommentare erhalten.
Das Gespräch stockte. Dalheim fühlte sich auf einmal sehr schläfrig, manche Gegenstände sah er nicht mehr scharf. Die Sache mit dem Gewürz schien nicht geheuer. Er wollte noch einmal aufstehen und versuchen, sich abseits zu übergeben. Er konnte sich nicht erheben. Er war ohne Hilfe nicht imstande, seine Beine über die Holzbank zu schwingen. Neben ihm bemühte sich Werle aufzustehen, mit Verrenkungen im Sitzen, schaffte er es, die Beine nach der anderen Seite zu schwingen. Beim Gehen schwankte er stark. In Dalheims Kopf kreisten Gedanken. - 'Der Schadstoff muss raus! Aber wie? Mit welchem Mittel soll ich gerade ins Jenseits befördert werden? Was passiert jetzt in meinem Körper?' - Dalheim wurde es übel. Er kämpfte mit Würgereizen. Aber es gelang ihm nicht, den Mageninhalt wieder von sich zu geben.
Hubertus empfahl, die Unterkunft aufzusuchen. Als sie zum Wagen gingen, wurden sie von Konstantin und Dimitri - Dimitri Surkow, einem anderen Jagdhelfer, gestützt. Konstantin fuhr die Jagdtouristen zur Jagdhütte. Sie fühlten sich sehr müde und matt, sie legten sich sofort auf ihre Schlafpritschen, nachdem sie schwerfällig die Jagdkleidung abgelegt hatten.
Konstantin begleitete sie in die Hütte. Er schaute in den Ofen und legte Holz nach, hantierte an der Ofenklappe. Sie war nun verschlossen. Er ging hinaus, kramte in seinem Auto, wartete längere Zeit, kehrte in die Hütte zurück, schaute sich um. Es schien, als schliefen die Jagdreisenden bereits. Er verweilte kurze Zeit in der Gästeunterkunft, verließ sie mit einem dickgefüllten Sack auf dem Rücken, den er zu seinem Gefährt transportierte und ablegte. Er wiederholte die Prozedur. Wieder hatte er beim Verlassen des Holzhauses einen Sack auf dem Rücken und zusätzlich Tragefutterale – wahrscheinlich mit Flinten - unter den Armen. Alles wurde im Wagen verstaut. Er bückte sich und suchte unter dem Sitz nach einem Gegenstand. Konstantin erinnerte sich in diesem Augenblick an die Worte eines Popen, der zur Gemeinde von der Kanzel der Kirche, in der er als Zwölfjähriger auf der Bank bedächtig lauschte, die Macht und Gewalt des Satans schilderte, wenn sich Frauenspersonen im Winter mit untergestellten Kohlentöpfen erwärmen wollten. Der ‚Kohlendampf‘ raube gar leicht den Menschen das Leben.
Auch in der Holzhütte wirkte er bereits.
Konstantin holte aus dem Auto den Reservekanister und verteilte den Inhalt innen und außen an der Hütte. Er schleuderte ein brennendes Streichholz in Richtung der Touristenunterkunft, eilte zum Auto und fuhr mit seinen Schätzen zügig davon. In den Weiten des Altai gab es keine Feuermelder, keine einsatzbereite Feuerwehr, das Feuer konnte ungebremst am Holzhaus wüten.
Wenige Tage, nachdem im mittelasiatischen Hochgebirge Konstantin Mautner die Jagdtouristen nach der Zusammenkunft am Lagerfeuer in die Jagdhütte begleitet hatte, meldeten Zeitungen und Journale:
- Drei deutsche Jäger verbrannten in Sibirien –
Auf tragische Weise kamen auf einer Jagdreise im russischen gebirgigen Grenzgebiet zur Mongolei zwei hoch dotierte Manager und ein Journalist in den Flammen ums Leben. Sie jagten auf Sibirische Wildarten. Nach einer gemeinsamen rustikalen Mahlzeit abends im Freien saßen die Jagdtouristen noch beisammen und suchten nach Mitternacht die Jagdhütte auf. Einige Stunden später entdeckte der Jagdführer, der weitab in seinem Auto kampierte, Rauch zwischen Bäumen, der aus der Hütte drang. Als er die Tür der Hütte öffnete, entstand durch den Luftzutritt heftiges Feuer. Die Jagdhütte mit den Waidmännern brannte ab.
Der Feuertod war im römischen Altertum eine verbreitete Variante der Todesstrafe. Die Inquisition verurteilte im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit Ketzer und Hexen auf dem Scheiterhaufen zum Tode. Kaiser Friedrich II. und der Papst Gregor IX. ordneten im Mittelalter für hartnäckige Abtrünnige und angebliche Hexen den Feuertod an.
Wirken auf den Organismus dauerhaft Temperaturen von über 45 °C verändert sich die Struktur der Eiweiße. Es kommt zum Funktionsverlust. Bei weiterer Temperaturerhöhung koaguliert das Eiweiß, so dass die Haut und das darunter liegende Gewebe lehmfarben aussehen. Ab 140 °C beginnt die Blasenbildung, dann die Zerstörung der Zellelemente. Oberhaut, Lederhaut platzen auf. Das Feuer erfasst die Unterhaut mit den Fettpolstern, die zu schmelzen beginnen. Ab 250 °C brennt das Fleisch, Die Flammen werden nun vom herausquellenden, verflüssigten Fett unterhalten. Die Feuerzunge dehnt sich aus, erfasst die Gliedmaßen, den gesamten Körper. Durch starke Hitzeeinwirkung schrumpfen Muskulatur und Sehnen der Beuger und Strecker, es kommt zu einer Beuge- und Streckstellung der Extremitäten. Sie wird als ‚Fechterstellung‘ bezeichnet. Der Laie deutet diese Stellung gemütsbetont, als Ausdruck von Schmerzen und einer Abwehr, wie die eines Boxers. Das Gewebe wird schwarzgrau und trocken. Bei 400 °C setzt die Karbonisation ein – das Gewebe verkohlt.
Hitzebedingt verringert sich das Volumen von Körperflüssigkeiten, Schrumpfung tritt ein. Die Hitze der Flammen zerstört und verändert den menschlichen Organismus in einem unfassbaren Ausmaß. Häufig ist die Körperform nicht mehr zu erkennen. Die Knochen behalten ihre Gestalt.
Noch wenige Tage vorher marschierten die drei Jagdfreunde Florian Dalheim, Frank Werle und der Jagdpublizist Michael Derling in der Hochebene des fernöstlichen asiatischen Hochgebirges an der mongolischen Grenze, das mit Wald und Moor, mit steil abfallenden Hängen und vielfältiger Flora bedeckt war, über Hügel, überquerten Grasflächen mit Buschwerk, durchstreiften Mischwald und kletterten über felsiges Gelände.
Florian Dalheim musste seine Jagdstiefel neu binden, während die anderen Jäger auf einem schmalen Pfad ins Tal abstiegen und zwischen Felsbrocken, Buschwerk und Heidekraut zügig den Rückmarsch antraten. Er verlor deshalb den Anschluss. Als er sich wieder aufrichtete, Rucksack und Büchse auf dem Rücken in Position brachte und in die Gegend schaute, blickte er direkt in die funkelnden Augen eines Schneeleoparden, der auf einem Felsvorsprung über ihm stand und misstrauisch auf ihn herabsah. Er sah den Kopf und die breiten Schultern der schwarzgefleckten Großkatze. Sie wirkten auf ihn gewaltig, riesenhaft, bedrohlich, ja titanisch. Es musste ein ausgewachsenes Exemplar sein. Die Ohren waren nach oben gerichtet, die Vorderbeine auf den Boden gedrückt, es schien als sei dieser Panther in Lauerposition und zu einem Sprung bereit. Dabei würde der dicht behaarte Schwanz die Funktion eines ‚Steuerruders‘ übernehmen, überlegte er, zielgenau könnte ihn so dieses massig erscheinende Tier anspringen.
Ein Schauer lief über seinen Rücken, Gänsehaut bildete sich, panische Angst überfiel ihn. Er konnte spontan keinen klaren Gedanken fassen. Der Atem stockte. Er hatte gelesen, es gäbe menschenfressende Leoparden. Ihm ging durch den Kopf - 'nicht weglaufen, direkten Blickkontakt vermeiden, Augenkontakt werden in der Tierwelt als Zeichen von Aggression wahrgenommen, Leoparden nur aus den Augenwinkeln betrachten, damit sie nicht die eigene Angst bemerken'. Blitzschnell nahm er die Büchse von der Schulter, entsicherte es und zielte auf das Ungeheuer auf dem großen Felsblock. Zum sofortigen Schießen konnte er sich nicht entscheiden. Ringsum unheildrohende Stille – Grabesstille. Einige Vögel schwirrten über ihn durch die Luft.
Immer die Feuerwaffe im Anschlag, ging er bedächtig, winzige Schritte machend, Schritt für Schritt rückwärts. Plötzlich drang die Löwenjagdsymbolik in sein Bewusstsein. Im Mittelalter sah man die menschenverschlingenden Löwen als Symbol für unheilvolle, todbringende Mächte. Dalheim wagte nicht, einen Ruf in Richtung der vorausgegangen, weit entfernten Jagdfreunde zu geben.
Der Leopard schaute zu ihm starr und unentwegt. Was tun? Sein Empfinden von Panik, seine Angst um Leib und Leben ließen nach. Er bildete sich ein, schon sehr weit weg von diesem Tier zu sein. Er wagte einen direkten Blick auf die Bestie, sie drehte den Kopf und lief weg. Schnellen Schrittes eilte er seinen Kumpanen hinterher. An einer Biegung hatten sie auf ihn gewartet.
„Vor wenigen Minuten – eine Raubkatze mit riesigem Schwanz auf dem Felsen über mir“, schilderte er aufgeregt und mit Unterbrechungen, „majestätisch … im Hinterhalt wartend, auf Lauer liegend … zum Sprung bereit. Ich dachte jeden Moment macht sie einen Satz auf mich … und bohrt ihre Zähne in mein Fleisch … und beißt sich… unwiderruflich fest …“.
Auf seine stockend vorgetragene Schilderung der Erlebnisse reagierten die anderen mit lautem Lachen. Das kränkte ihn sehr.
„Du Bekanntschaft mit Schneeleoparden gemacht“, sagte Sascha, der Jagdhelfer. „Schneeleopard keine Gefahr für Mensch, ist friedlich. ... Es war Glück, dass du ihn gesehen. … Forscher suchen ihn das gesamte Jahr und sehen ihn nur ein- oder zweimal. Er lebt im Gebirge – über tausend Meter. Vielleicht ist krank. Kam weiter nach unten. Sucht hier Futter.“
„Ja, der Schneeleopard hat sein Reich weit oben, in den großen Bergen gleich unter dem Himmel, dort hat er seine Jagdgründe, dort lauert er auf Bergziegen und Steinböcke“, ergänzte Michael Derling, der mitreisende Jagdfreund, Publizist und Experte im Jagen.
Die Waidmänner kamen zurück zur Jagdhütte, es war fast dunkel. Sie suchten die Rindenstücke und Holzspäne zusammen, die sie tagsüber in der Sonne trocknen ließen, schichteten sie in dem eisernen Ofen, der in der Ecke der Holzhütte stand, übereinander und begannen Feuer zu machen. Das Feuer wollte nicht brennen. Es drang sehr viel Rauch aus dem Ofen in den Raum.
Sascha Kempf, der Jagdhelfer, Mittvierziger mit kurzem Oberlippenbart und kleiner Strickmütze gab Hinweise: „Zuerst Ofenklappe öffnen, dann Ofentür. Nicht umgekehrt.“
Auf dem Ofen stand eine Pfanne, in der Speck und Zwiebeln angebraten und danach Eier eingerührt wurden. Nach dem Essen saßen sie noch beisammen, sprachen über die Erlebnisse des Tages und streckten sich anschließend auf den Schlafpritschen aus.
Sascha schlief im hinteren Teil seines abseits stehenden Gefährts.
Als am folgenden Morgen die ersten Lichtstrahlen durch das kleine Fenster in die Hütte drangen, waren zwar von den Jagdfreunden keine Schlafgeräusche mehr zu hören, aber keiner wollte als erster aufstehen. Jeder wartete, dass der Nachbar das Bett verließ und Feuer in dem eisernen Ofen in der Ecke machte. Öffnen der Ofenklappe, dann der Ofentür – nicht umgekehrt. Das Wasser im Teekessel musste zum Sieden kommen – frischer Teeaufguss, ausgiebiges Frühstück. Was übrig blieb, wurde in den Rucksäcken mitgenommen. Sie überprüften die Ausrüstung, besprachen die Marschroute und komplettierten die Kleidung.
Für den Jäger gab es zwei Tageszeiten, an denen er auf jagdlichen Erfolg hoffen konnte. Morgens – wenn der Tag begann – jagte er in die ‚Sonne hinein‘ - am Abend nutzte er das letzte ‚Büchsenlicht‘, die letzten Sonnenstrahlen.
Vor der Hütte hörten sie ein Auto. Konstantin – der Jagdführer – holte sie im Geländewagen ab, um sie zu Futterstellen und aussichtsreichen Jagdgebieten zu fahren und ihnen Stellen relativ hoher Wilddichte zu zeigen.
Konstantin Mautner, Endfünfziger mit Dreitagebart und schwarzem, kurzem Oberlippenbart trug den gesamten Tag eine Karakulmütze. Sie hatte die Form eines Schiffchens und war aus dem Fell des Karakul-Schafs gefertigt. Er hatte sie schräg nach hinten aufgesetzt, so dass vorn die dunklen Haare heraus schauten. Die Jackentaschen an der abgewetzten, erdfarbenen Joppe waren ausgebeult. Sie fuhren etwa eine Stunde. Konstantin stellte den Spritfresser seitlich auf einer verbreiterten Stelle eines Waldweges ab, alle stiegen aus und nahmen ihre Ausrüstung mit.
Sie marschierten über Hügel, kraxelten über felsiges Gelände, überquerten Grasflächen mit Buschwerk und kamen in lichten Mischwald. Nun wurde der Wald dichter.
Für Dalheim begann mit dem Wald ein anderer Raum – mehr als nur ein Standort von Bäumen. Er war für ihn ein friedvoller Ort der Schönheit, Romantik und Ruhe. Schon als Kind konnte er stundenlang im Wald umherstromern.
Konstantin und Sascha führten die Jagdtouristen über Waldsteppenflächen. Sascha erläuterte die unterschiedlichen Vogelarten, die in der Luft kreisten oder auf einzeln stehenden Bäumen saßen.
Dalheim genoss den freien Raum des fernöstlichen Waldes. Der angeblich im Mann verankerte Jagdtrieb steuerte ihn. Nicht das Töten von Tieren, das er eher als unangenehm empfand, diktierten seine Handlungen beim Jagen, sondern die Emotionen beim Beobachten, Auflauern, Nachstellen, Überlisten und letztlich das ‚Besitzen‘ bestimmten sein Jagdmotiv. Der Tod des erlegten Tieres war nur das unausweichliche Resultat am Ende eines erfolgreichen Jagdtages.
In der Heimat war die Romantik der Jagd im Rückzug. Hier – in den Weiten der Gebirgslandschaft spürte er das Gefühl der Urwüchsigkeit und der Unberührtheit. Er wünschte sich die Erhaltung dieser Naturbelassenheit. Ein Gefühl der Unbeschwertheit erfasste ihn.
Sie gingen weiter auf einem Waldweg, den hohe Sibirische Lärchen einsäumten. Ein leichter Gegenwind blies aus Richtung des angesteuerten Jagdreviers. Allmählich erwachte die Natur. Über dem Wald sah man Vögel Flugbahnen ziehen. Konstantin erläuterte, an der orangen Bänderung an der Unterseite erkenne man den Sperber.
Es waren kaum Geräusche wahrzunehmen. Das Knacken der Äste unter den Jagdstiefeln der Jäger war weithin zu hören, denn in der Früh schien im Wald totale Stille zu herrschen. Um eine erfolgreiche Jagd zu haben, musste man dem Ort sehr nahe kommen, wo das Wild ruhend seine Nacht verbracht hatte. Mit Vorsicht pirschten sich die Jäger auf schmalen Pfaden durch den Wald. Mit dem Feldstecher nahmen sie die Vorgänge an den von Konstantin betreuten Futterplätzen in Augenschein. An Wildschweinen hatten sie kein Interesse. Großwild sahen sie an diesem Morgen nicht. Aber am Nachmittag erlegten sie Sibirische Steinböcke und Federwild, das sich am Balzplatz aufhielt.
Konstantin versprach, die Trophäen zu präparieren und für den Transport vorzubereiten. Sie lauerten Sibirischen Braunbären auf. Dalheim hielt Ausschau nach Tieren mit prächtigen Geweihen, er wollte imposant wirkende Trophäen mit nach Hause nehmen. Maral, Elch oder Steinbock müssten doch vor die Büchse zu kriegen sein.
Während einer Rast kamen noch andere Jagdhelfer hinzu. Sie bestaunten Dalheims englische Jagdwaffe, besonders Konstantin beäugte sie mit gierigem Blick.
Noch an diesem Tag gerieten die Jagdfreunde in die Fänge Konstantins und seiner Kumpanen.