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Stockholm an Pan Am 31!

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Es ist der 16. Oktober 1991. Ich sitze im Flugzeug von Moskau nach New York. In Moskau habe ich einen Vortrag gehalten, in New York soll mir ein Wissenschaftspreis, der Louisa-Gross-Horwitz-Preis, überreicht werden, ruhmreich, international, ein grosser Erfolg. Der Preis macht mich stolz, auch wenn ihn ausserhalb der Forschergemeinde kaum jemand kennt. Wir sind schon drei Stunden geflogen und befinden uns irgendwo zwischen Schottland und Irland. Die Triebwerke der Pan-Am-Maschine surren. Ohne Anfang und ohne Ende, im ewigen Blau. Ich sitze in der Businessclass, bereite mich, wie immer im Flugzeug, auf einen Vortrag vor. Doch plötzlich gibt es Bewegung, der Pilot tritt in die Passagierkabine. Was ist los? Ein Notfall oder nur ein Kontrollgang? Nein, der Captain kommt direkt auf mich zu, beugt sich zu mir. «Sie sind Herr Ernst», sagt er. Ich nicke. «Kommen Sie doch mit ins Cockpit, wir haben einen Anruf für Sie, aus Stockholm.» Stockholm? Das kann nur eines heissen: der Nobelpreis!

Kürzlich erzählte mir meine Schwester, dass sie mich schon in meiner Jugend mit dem Ausspruch gefoppt habe, ich würde diese Krone der Auszeichnungen einmal gewinnen. Anders gesagt, ich galt als Streber. Ein unter Heranwachsenden eher zweifelhafter Ruf. Doch für einen Wissenschaftler ist der Nobelpreis die höchste Ehrung. Sie erfüllt einen mit Stolz und Befriedigung. Und neben der Ehre ist er auch mit einem stattlichen Preisgeld verbunden. Man hofft auf ihn – und erwartet ihn doch nicht. Und wenn es dann so weit ist und man den Anruf erhält, ertappt er einen wie ein Dieb in der Nacht. Natürlich bin ich erfreut, gleichzeitig aber packt mich sofort das schlechte Gewissen. Habe ich ihn verdient, wo Wissenschaft doch Teamarbeit ist? Wer hat ihn noch erhalten, wer hat ihn nicht erhalten? Was denken die anderen? Alle diese Gedanken schwirren mir durch den Kopf in den Sekunden auf dem Weg ins Cockpit.

Der Flugfunk holt mich in die Realität zurück. Der Generalsekretär der Schwedischen Akademie der Wissenschaften teilt mir die freudige Nachricht mit und gratuliert. Dann wird eine Verbindung nach Zürich aufgebaut, wo eine spontane Pressekonferenz zu meinen Ehren auf die Beine gestellt wurde. Die Stimmen sind etwas verzerrt. Jakob Nüesch, Präsident der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH), ist am Apparat und gratuliert mir. Dann erreichen mich einige Journalisten, sie stellen Fragen. Wie fühlen Sie sich? Was machen Sie mit dem Geld? Schweizer Journalisten haben Vorrang. Plötzlich höre ich gebrochenes Schweizerdeutsch mit italienischem Akzent. Das muss ein Journalist aus dem Tessin sein, denke ich. «Herr Ernst, hier Cotti am Apparat, Flavio Cotti. Gratulazione. Sie sind eine Ehre für unser Land.» Wie ich mich getäuscht habe! Es ist der Schweizer Bundespräsident. In diesem Moment fühle ich mich wirklich geschmeichelt. Langsam steigt Freude auf. Ich denke an meine Mutter Irma, an meine Frau Magdalena, an meine Kinder, Anna, Katharina, Hans-Martin. Sie sind alle zu Hause in Winterthur.

Sie begleiten mich längst nicht mehr auf meinen vielen Reisen für meine wissenschaftliche Karriere. Ich würde nie viel Zeit für die Familie haben, hatte ich Magdalena schon früh, noch am Tag unserer Hochzeit, geradeheraus gesagt – und sie hatte es grosszügig akzeptiert. Jetzt, im Moment meines grössten Erfolgs, bereue ich es. Bizarr, wie nötig ein Mensch seine Liebsten in leidvollen Stunden hat! Aber noch viel grösser ist die Sehnsucht nach Gemeinsamkeit in Momenten überbordenden Glücks. Geteilte Freude ist doppelte Freude, wie wahr! Leider erreiche ich meine Familie nicht mehr, die Funkverbindung ist wieder unterbrochen.

Etwas benommen gehe ich zurück an meinen Platz. Dort wartet das Kabinenpersonal und möchte ein Erinnerungsfoto. Ich fühle mich wie ein Radfahrer bei der Siegerehrung, inmitten hübscher Stewardessen. Ist es wirklich wahr? Noch einmal lasse ich mir den Anruf aus Stockholm durch den Kopf gehen, suche angestrengt nach einem Fehler. Ich seziere jedes einzelne Wort der Begründung, die das Nobelkomitee für die Vergabe des Chemiepreises an mich aufgeführt hat: «für meine bahnbrechenden Beiträge zur Entwicklung der Methoden hochauflösender kernmagnetischer Resonanzspektroskopie». Ursprünglich als Analyseverfahren für die Chemie entwickelt, reicht ihre Bedeutung inzwischen weit darüber hinaus. Heute steht im Untergeschoss eines jeden Spitals ein Magnetresonanzapparat. Zu Tausenden werden weltweit täglich Patienten und Probanden in die Röhre geschickt. Die MRI-Bilder, die dabei entstehen, decken gefährliche Krankheiten auf, entlarven frühzeitig Hirntumore, zeigen, wo Blutgefässe verstopft sind, retten Leben.

Die kurze Begründung wird den vielen brillanten Wissenschaftlern nicht gerecht, die ebenfalls zu dieser hoch potenten Methode beigetragen und meinen Beitrag überhaupt erst ermöglicht haben. Manche erhielten vor mir den Nobelpreis, weil sie die theoretischen Grundlagen erarbeitet hatten, auf denen ich dann aufbaute. Aber viele Forscher, die nach mir entscheidend dazu beitrugen, dass die Methode vom Chemielabor in die Spitäler gebracht werden konnte, bleiben aussen vor. Oder die Kollegen, mit denen ich zusammengearbeitet habe und die nicht oder noch nicht gewürdigt worden sind. Wes Anderson zum Beispiel, mein Freund und früherer Boss bei der kalifornischen Firma Varian Associates in Palo Alto. Tag und Nacht diskutierten und tüftelten Wes und ich in den 1960er-Jahren, bis wir den magischen Trick fanden, der die Kernmagnetresonanz erst zu einer brauchbaren Methode machte. Und meine Kollegen an der ETH Zürich: «Was ist mit Kurt Wüthrich?», werde ich später in der Zeitung zitiert. Hat das Komitee in Stockholm Kurt Wüthrich, der mit der Methode grosse und wichtige Lebensmoleküle erforscht und verstanden hat, einfach übersehen? Als ich wenig später realisiere, dass ich der alleinige Gewinner bin, ist mir der Preis vor allem peinlich.

Kaum in New York gelandet, wird noch in der Flughalle am John-F.-Kennedy-Flughafen eine Pressekonferenz organisiert – mir zu Ehren? Oder weil ich ausgerechnet auf dem letzten Pan-Am-Flug war, der jemals abhob? Genau in diesem Herbst geht auch die traditionsreiche amerikanische Airline in Konkurs. Später im Hotel begegne ich Kurt Wüthrich, der wie ich mit dem eingangs erwähnten Louisa-Gross-Horwitz-Preis ausgezeichnet wird. Zusammen haben wir es geschafft, die ETH Zürich zu einem internationalen Mekka der Forschung mit Kernmagnetresonanz zu machen. Er, der ehrgeizige Sportlehrer, der Leistungsmensch. Ich, der stille Schaffer, der oft an sich selbst zweifelte. Doch hier in New York ist mir die Begegnung unangenehm. Denn seit einigen Jahren ist unsere Zusammenarbeit, gelinde gesagt, getrübt. Ich bin froh, als ich aus New York wieder abreisen kann. Zum Glück erhält Kurt Wüthrich elf Jahre später ebenfalls den Nobelpreis für Chemie, für seine Kernspinresonanzforschungen im Bereich der Biomoleküle. Auch das ist ein Erfolg für die ETH, vor allem aber beendet es eine lange Eiszeit zwischen uns beiden, die nach meiner alleinigen Ehrung im Jahr 1991 herrschte.



Spitzenforscher sind eigenartige Menschen, mich eingeschlossen. Für den Erfolg ist eine enorme Disziplinierung der eigenen Bedürfnisse notwendig; es gilt, die Ziele vollkommen in den Dienst der Wissenschaft zu stellen. Emotionen, Befindlichkeiten, ja die «Seele» des Wissenschaftlers haben da keinen Platz; es geht einzig und allein darum, die Naturgesetze so «objektiv» wie möglich darzustellen. Deshalb verzichtet ein Wissenschaftler in vielen Dingen auf das Ausleben persönlicher Freiheiten. Trotzdem sind es Menschen, die im Labor stehen, mitsamt ihrem emotionalen Auf und Ab, den irrationalen Zwischentönen, die in der objektiven Wissenschaft auf den ersten Blick nur zu stören scheinen. Ich bin jedoch überzeugt, dass dieses ganzheitliche Menschsein für den Fortschritt unerlässlich ist. Ein Mensch, der nur auf einem Bein steht, kommt selten schnell vorwärts. Mir war zuerst die klassische Musik, dann die tibetische Kunst sehr wichtig. Ich habe mich in die buddhistische Kultur vertieft und eine Sammlung von kostbaren tibetischen Rollbildern, den Thangkas, aufgebaut. Sie wurde mir zu einem Ausgleich und zuletzt auch zu einer erfüllenden Leidenschaft, die mir über viele Krisen hinweggeholfen hat. Emotional war mein Leben eine wilde Reise voller Höhen und Tiefen. Ich hatte nie das Gefühl, ein Glückspilz zu sein; das Schicksal hat mich nie begünstigt, doch allen Hürden zum Trotz bin ich meinen Weg gegangen. Aber auf keinen Fall wollte ich je nur als «der Wissenschaftler» oder «der Spektroskopiker» gelten.

Richard R. Ernst

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