Читать книгу Warum uns der Klimawandel an innere Grenzen bringt … - Richard Stiegler - Страница 10
ОглавлениеKAPITEL 2
Die tieferen Ursachen des Klimawandels
Ich dachte immer, dass die Hauptprobleme unserer Umwelt der Verlust der Artenvielfalt, der Kollaps unseres Ökosystems und der Klimawandel seien. Ich dachte, dass wir diese Probleme bewältigen könnten, wenn wir innerhalb von 30 Jahren wissenschaftlich nur weit genug vorankämen. Aber ich habe mich getäuscht.
Unsere größten Umweltprobleme liegen im Egoismus, in der Gier und in unserer Gleichgültigkeit … und um damit umzugehen, brauchen wir einen spirituellen und kulturellen Wandel – und wie wir diesen Wandel anstoßen und vollziehen können, das wissen wir Wissenschaftler nicht.
GUS SPETH3
Wie ist es möglich, dass wir als Menschen trotz unserer hohen Intelligenz unsere Lebensgrundlage, also die Ökosysteme, in die wir eingebettet sind, systematisch schädigen, ja vielleicht sogar vernichten? Ist das nicht alles andere als intelligent?
Offensichtlich scheint uns unser Verstand mit all seiner Intelligenz nicht davor zu bewahren, für kurzfristige Vorteile die Schädigung unserer Lebensgrundlage in Kauf zu nehmen. Im Gegenteil. Man hat fast den Eindruck, dass der Verstand alles, was denkbar ist, erreichen will. Ob Atombombe, genetische Manipulationen oder Expeditionen zum Mars, der Verstand kennt keine Schranke, sondern nur die Logik, dass das, was denkbar ist, auch machbar ist. Und das, was machbar ist, gemacht werden muss.
Wenn wir diese Dynamik betrachten, sehen wir, dass in ihrem Zentrum die »Machbarkeit« und damit eine Zunahme an Macht steht. Das Sanskritwort für Mensch ist »purusha« und bedeutet, »etwas, das Macht hat«. Nicht anders lässt sich die Entwicklung des Menschen bis zum heutigen Tag begreifen. Seine Intelligenz hat ihm eine ungeheure Zunahme an Möglichkeiten auf diesem Planeten beschert. Seine Werkzeuge wurden dabei so mächtig, dass er bereits jetzt das Antlitz dieser Erde unwiederbringlich verändert hat.
Natürlich ist die Dynamik des Verstandes nicht nur schlecht oder gefährlich. Sie hat dem Menschen auch sein Überleben gesichert, unzählige Annehmlichkeiten hervorgebracht und zeitlose Kulturgüter geschaffen. Ohne das Streben des Verstandes gäbe es kein Wasserklosett, kein Radio und keine Sinfonie von Beethoven. Es wäre also völlig falsch zu sagen, der Verstand sei die Wurzel des Problems und gefährde mit seiner expansiven Kraft unser Überleben und das Leben anderer Wesen auf diesem Planeten.
Unsere Intelligenz ist nicht das Problem. Sie ist vielmehr ein ungeheuer machtvolles Werkzeug, das uns Menschen zur Verfügung steht. Sie kann gleichermaßen für konstruktive, also dem Leben dienende Prozesse, als auch für destruktive, also dem Leben schadende Prozesse eingesetzt werden. Wie jedes andere Werkzeug auch, kennt die Kreativität des Verstandes keine Ethik.
Ein Hammer zum Beispiel ist ein wunderbares Werkzeug, um Nägel einzuschlagen, und dafür äußerst nützlich. Wir können ihn jedoch auch dazu verwenden, etwas zu zerstören. Dann wird er zu einem destruktiven Instrument. Dem Hammer ist es einerlei, wofür er gebraucht wird, und niemand würde auf die Idee kommen, einen Hammer dafür verantwortlich zu machen, wenn er eine destruktive Wirkung entfaltet. Denn das Problem liegt nicht im Hammer, sondern in der Intention, mit der er eingesetzt wird.
Wofür setzen wir unsere Intelligenz ein?
Wenn wir also erkennen, dass die Intelligenz des Verstandes ein Werkzeug ist, das uns dabei helfen kann, zutiefst humane Dinge zu tun, das aber auch dazu eingesetzt werden kann, Wirtschaftssysteme zu betreiben, die unsere Lebensgrundlage gefährden, oder Kriege zu führen, unter denen ganze Völker leiden, dann müssen wir uns fragen: »Was ist die Intention, die unsere Intelligenz leitet? Wofür setzen wir unseren Verstand ein?«
Wenn wir uns diese Frage stellen, dann erkennen wir an, dass es etwas Grundlegenderes als den Verstand gibt – eine zugrunde liegende Intention, die dem Werkzeug unserer Intelligenz eine Richtung gibt. Im Zentrum steht dann nicht mehr die Machbarkeit und die expansive Kraft des Verstandes, sondern eine Motivation, die darüber entscheidet, wie das Instrument des Verstandes eingesetzt wird.
Doch wo ist diese Grundintention angesiedelt? Gibt es etwas Grundlegenderes, das uns zum Menschen macht, als unseren Verstand? Ja, das gibt es. Menschen sind nämlich nicht nur denkende Wesen, sondern vor allen Dingen auch fühlende Wesen. Menschen haben eine Seele. Das unterscheidet uns ganz grundlegend von Maschinen oder Computern, die zwar höchst effektiv arbeiten und in gewissem Sinne auch denken können, aber nicht fühlen.
Die Fähigkeit zu fühlen gibt uns die Möglichkeit einer hohen Empathie für andere Menschen, aber auch für Tiere und Pflanzen. Sie gibt uns die Möglichkeit, nicht nur zu wissen, dass wir Teil dieses Ökosystems Erde sind, sondern diese Einheit des Lebens unmittelbar zu erfahren. Wie oft wird mir berichtet, dass Menschen eine tiefe Verbundenheit erfahren, wenn sie in der Natur unterwegs sind. Wie viel Zeugnisse gibt es davon, dass Menschen immer wieder von der Schönheit und Erhabenheit des Lebens tief berührt sind und in diesen Momenten dem Geheimnis des Lebens ganz nahekommen.
Die Seele ist das Organ, das lieben kann. Eltern versorgen ihre Kinder nicht, weil es vernünftig ist, dies zu tun, sondern weil sie sie lieben. Diese Liebe ist der Ausdruck einer tiefen Verbundenheit mit den eigenen Kindern. Wenn Eltern diese Verbundenheit motiviert, werden sie dann ihre Kinder schädigen oder sie verletzen? Wohl kaum. Sie werden im Gegenteil alles dafür tun und auch ihre Intelligenz dafür einsetzen, ihre Kinder zu schützen und sie in ihrer Entwicklung zu unterstützen, selbst wenn sie als Eltern dabei auf manches verzichten müssen.
Verbundenheit und Würde
Die fühlende Seele lebt in einer tiefen Verbundenheit mit sich und allen Wesen. Wenn wir diese Verbundenheit in der Tiefe nicht spüren können, leiden wir als Mensch. Dieses Leiden zeigt sich als Einsamkeit, als Unzufriedenheit, als Sinnlosigkeit oder als Sehnsucht. Es ist der Ruf der Seele nach sich selbst. Erst wenn wir diese Verbundenheit in der Tiefe fühlen, kommt etwas in uns zur Ruhe, und wir fühlen die Sinnhaftigkeit unseres Daseins.
Das Gefühl von Sinn entfaltet sich daher nicht durch »sinnvolle« Handlungen oder durch Aufgaben, die wir übernehmen, sondern immer dann, wenn wir uns innerlich verbunden fühlen.
Erst dann spüren wir in der Tiefe den Platz, den wir im Verbund des Lebens einnehmen, und wir spüren die Würde, die in uns und in allen fühlenden Wesen wirkt.
Auch Würde ist ein zentraler Aspekt der Seele, genauso wie die Liebe, die aus tiefer Verbundenheit erwächst. Wir können über Würde diskutieren, wir können sie im Grundgesetz verankern, aber wir müssen sie fühlen, um sie wirklich zu begreifen. Nur dann kann sie ihre Wirkung entfalten und wird für uns zu einer lebensbejahenden Basis, die in allem Lebendigen spürbar wird.
Würde kann uns niemand geben. Wertschätzung kann uns entgegengebracht werden, aber Würde nicht. Würde ist der seinshafte Wert, der allem Lebendigen immanent ist. Sie ist in allen lebendigen Wesen bereits vorhanden, und wenn wir uns seelisch mit einer Pflanze oder einem Tier verbinden und die Einzigartigkeit, die Kostbarkeit und Zerbrechlichkeit dieses fühlenden Wesens spüren, erfahren wir auch seine Würde.
Diese Würde besteht unabhängig davon, ob uns ein Wesen oberflächlich betrachtet gefällt oder nicht. Sie ist auch nicht davon abhängig, ob uns ein Wesen nutzt oder nicht. Eine sogenannte Nutzpflanze hat die gleiche Würde wie ein sogenanntes Unkraut. Ein Mensch, der eine hohe Stellung in der Gesellschaft genießt, hat die gleiche Würde wie eine einfache Hausfrau. All diese Kategorien von wertvoll und nicht wertvoll bestehen in unserem Verstand. Wenn wir uns aber fühlend mit Menschen, Tieren und Pflanzen verbinden und sie liebend in ihrer Einzigartigkeit betrachten, werden wir in allen Wesen die gleiche, unantastbare Würde entdecken.
Spätestens hier müssen wir anerkennen, dass nicht nur Menschen fühlende Wesen sind und damit eine Seele und eine Würde besitzen, sondern auch Bäume und Gräser, Kühe und Insekten. Von hier aus sieht die Welt anders aus. Hier gibt es nicht den intelligenten Menschen und ihm gegenüber eine unbeseelte Natur, die uns zur Verfügung steht, um uns zu ernähren und zu erfreuen, sondern es gibt nur das Eingebundensein in eine Welt von ungeheuer vielfältigen, lebendigen und beseelten Wesen, die alle die gleiche Lebensberechtigung und Würde haben wie wir selbst.
Aus dieser Perspektive ist der zentrale Satz in unserem Grundgesetz »Die Würde des Menschen ist unantastbar« ungenügend. Vielmehr müsste er heißen: »Die Würde aller Lebewesen ist unantastbar.« 4
Wie Seele und Verstand zusammenwirken können
Wenn wir in einer wirklichen Verbindung mit unserer Seele sind, nutzen wir das machtvolle Instrument unseres Verstandes anders. Es geht dann nicht mehr um die Frage, wie wir andere Wesen zu unserem Vorteil benutzen können. Denn wenn wir liebend verbunden sind und die Würde des Lebens in allem spüren, werden wir nicht mehr unser Wohl über das Wohl von anderen stellen können. Wir würden ja auch nicht unsere Kinder für unseren Vorteil ausbeuten oder schädigen.
Nein, wenn die Seele mit ihrer Verbundenheit und Würde im Zentrum unseres Menschseins steht, geht es nur noch um die Frage, wie wir das Miteinander in Vielfalt, was Leben zuinnerst ausmacht, mit unserem Dasein und unserer Intelligenz als Mensch unterstützen können. Unser Verstand agiert dabei nicht abgekoppelt von unserer Seele, sondern als machtvolles Werkzeug, das seine Kreativität für aufbauende, konstruktive Prozesse einsetzt. Erst wenn der Verstand sich der Seele unterordnet, nimmt er wieder seinen angestammten Platz ein und wird zu einem kreativen Instrument des Friedens, der Demut und der Liebe.
Das ist freilich nicht ganz einfach und bleibt eine immerwährende Aufgabe. Denn die innere Verbindung herzustellen, ist kein einmaliger Vorgang. Sie muss immer wieder neu gefühlt und aktualisiert werden. Wir brauchen dazu im eigenen Leben
Besinnungsräume, wie die Meditation oder die Natur, in denen wir uns immer wieder in der Tiefe mit unserer Seele verbinden können. Und wir sollten auch in unserer Gesellschaft der Seele und der Herzensbildung viel mehr Wert beimessen. Das könnte bei den Kindern in der Schule beginnen. Denn wie wollen wir der gesamtgesellschaftlichen Aufgabe gerecht werden, dass der Verstand wieder mehr der Seele dient, wenn wir bereits bei unseren Kindern hauptsächlich kognitive Leistungen fördern?
Wann ist es geschehen, dass sich der Verstand von der Seele abgekoppelt und immer mehr zu einer expansiven Kraft entwickelt hat, die die Würde des Lebens missachtet und aus Profitgier verletzt? Wahrscheinlich gab es diese Tendenz schon immer. Sie mag seit der Aufklärung noch einmal zugenommen haben, da dem Verstand seit dieser Zeit eine besonders hohe gesellschaftliche Wertigkeit beigemessen wird. Doch wie gesagt, vermutlich ist die Gefahr, dass sich der Verstand von der fühlenden Seele und damit vom grundlegenden Wissen um das Eingebundensein abkoppelt, im Menschen angelegt.
Eine besondere Tragweite erhält dieser Vorgang dadurch, dass wir als Menschen seit der Industrialisierung derart machtvolle Maschinen zur Verfügung haben. Eine abgekoppelte Intelligenz, die nur das »Weiter, Schneller und die Expansion« im Sinn hat, schädigt inzwischen die Ökosysteme so massiv, dass sie sogar die Menschheit und das Leben auf der Erde in seiner Ganzheit bedroht. Wenn wir jetzt keine grundlegende Korrektur vornehmen und wieder der Seele mit ihrer Liebe und Würde den ersten Platz geben, werden »technische Korrekturen«, wie die Umstellung auf erneuerbare Energien, uns nicht wirklich retten können: Sie greifen zu kurz und lassen die tiefere Ursache außer Acht.
Fragen zur eigenen Reflexion
• Wie sehe ich die Beziehung zwischen Mensch und Natur? (Male ein Bild dazu oder visualisiere diese Beziehung.)
• Kann ich empfinden, dass Pflanzen und Tiere »fühlende Wesen« sind?
• Wie begegne ich Pflanzen oder Tieren, wenn sie fühlende Wesen sind und eine Würde haben?
• Was steht üblicherweise im Zentrum meines Lebens: der Verstand oder die Seele? Visualisiere die Beziehung zwischen Seele und Verstand fantasievoll.
• In welcher Situation habe ich mich tief verbunden gefühlt? Welchen Stellenwert hat der Verstand in diesen Momenten?
• Was unterstützt mich dabei, mich tiefer mit meiner Seele zu verbinden?