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1.2 Präsenz und Bedürfnisse

Aufmerksamsein ist der Schlüssel zum SEIN. Würden wir die Bedeutung des Aufmerksamseins in unserer Gesellschaft erfassen, würden wir uns viel mehr damit beschäftigen und vielleicht schon unseren Kindern in der Schule beibringen, dass der Schlüssel zum Glück nicht im Tun, im Erfolg, im Darstellen, im Wissen oder Haben zu finden ist, sondern im schlichten Aufmerksamsein.

Unsere ganze Kultur lenkt unsere Aufmerksamkeit auf andere Dinge: auf Leistung und das Erreichen von Zielen, auf oberflächliche Bedürfnisbefriedigung und auf Prestige, das sich in Aussehen und Statussymbolen zeigt. Doch das meiste Glück, das von unseren Medien erfolgreich beworben wird, ist sekundär und bedingt. Die gesellschaftliche Vorstellung von Glück führt zu einer tiefen Unzufriedenheit mit dem augenblicklichen Leben und stachelt uns dazu an, uns wieder und wieder anzustrengen, um äußere Ziele und materiellen Reichtum zu erreichen.

Natürlich leben wir auch in einer äußeren Welt und haben als Mensch körperliche, seelische und auch soziale Bedürfnisse. Wir tun gut daran, diese ernst zu nehmen und wenn möglich uns darum zu kümmern, wie eine gute Mutter sich um die wahren Bedürfnisse des Kindes kümmert.

Sich aushalten lernen

Doch welches sind unsere wahren Bedürfnisse? Mutter sein ist eine große Kunst. Wenn wir uns wirklich als Eltern um die Bedürfnisse unserer Kinder kümmern wollen, schließt das auch ein, dass wir auf das Kind schauen und unterscheiden lernen zwischen natürlichen Bedürfnissen, deren Erfüllung das Kind zufrieden macht, und Ersatzbefriedigungen, deren Erfüllung das Kind letztlich noch unzufriedener werden lässt. Wenn ein Kind momentan nicht in sich ruht und unzufrieden ist und sich dabei auf eine materielle Ersatzbefriedigung wie den Kauf eines Spielzeuges fixiert, braucht es unsere Klarheit und unsere Begrenzung als Eltern. Erst dann kann es nach einem Augenblick des schmerzhaften Loslassens wieder zu seiner inneren Ruhe finden und seine wahren Bedürfnisse entdecken.

Genauso ist es bei uns Erwachsenen. Viele Menschen fühlen in sich eine große Ruhelosigkeit und Unzufriedenheit, die sie mit Ersatzbefriedigungen, mit Streben nach Erfolg, Reichtum, Schönheit oder Konsum, zu übertünchen versuchen. Auch hier braucht es unsere Unterscheidungsgabe und unsere Klarheit, uns selbst zu begrenzen und unsere Unzufriedenheiten auszuhalten und ganz zuzulassen. Wie können wir unsere natürlichen Bedürfnisse entdecken, wenn wir unseren Mangel sofort mit Ersatzbefriedigungen zustopfen? Wie können wir uns innerlich finden, wenn wir unsere Ruhelosigkeit und unsere Unzufriedenheit nicht zulassen?

Die Gründe für Unzufriedenheit und ruheloses Suchen nach Ersatzbefriedigungen sind nicht unsere unerfüllten Bedürfnisse, sondern mangelnder Kontakt und mangelnder Friede in uns – letztlich ein Mangel an SEIN. Dieses grundsätzliche Missverständnis kann unser Erleben und unser Verhalten bestimmen. Wir fühlen uns einsam und setzen vielleicht alles daran, diesen Zustand nicht fühlen zu müssen: Wir gehen einkaufen oder bekommen „Hunger“ oder versuchen verzweifelt eine Freundin am Telefon zu erreichen. Doch was uns unruhig macht, ist nicht die Einsamkeit, sondern unser Widerstand gegen diese Einsamkeit. Wenn wir dagegen das einsame Gefühl vollständig in uns zulassen können, dann entsteht Ruhe und ein tiefer Kontakt nach innen. Es entsteht mehr SEIN. Wir sind dann mit der Einsamkeit. Die Folge ist, dass sich ein innerer Frieden ausbreitet und wir ein inneres Angebundensein spüren.

Reflektiere:

Welche natürlichen Bedürfnisse gibt es in deinem Leben?

Wie kümmerst du dich darum?

Welche typischen Ersatzbefriedigungen kennst du von dir?

Wie fühlst du dich, nachdem du ihnen nachgegeben hast?

Damit ein innerer Kontakt entstehen kann, müssen wir lernen, uns auszuhalten, wie eine starke Mutter ihr unzufriedenes, unglückliches Kind. Wir „halten“ uns in unserer Unzufriedenheit und erlauben uns dadurch, sie ganz zu fühlen und ganz damit zu sein. Das ist oft nicht einfach und erfordert eine große Bereitschaft, unangenehmen Zuständen nicht auszuweichen. Haben wir die Kraft und Offenheit, mit dem Unangenehmen zu sein? Mit der Unzufriedenheit? Mit der Hilflosigkeit? Mit dem Schmerz und dem Widerstand dagegen?

Oft wehren wir uns wie ein kleines Kind, wenn die Mutter sagt, dass es das Spielzeug jetzt nicht gibt. Widerstand ist eine natürliche Phase im Prozess des Loslassens. Das müssen wir wissen, sowohl als Eltern, wenn wir unser Kind begrenzen, als auch wenn wir uns selbst „halten“. Widerstand, der sich durch Festhalten, Diskussionen oder Wut ausdrückt, wird mehr oder weniger immer auftreten, wenn wir ein Kind oder uns selbst begrenzen, da dieser schon vorher da war. Er ist ja der Grund dafür, warum wir nach einer Ersatzbefriedigung suchen. Wird uns diese genommen, fühlen wir den eigentlichen Motor für unser Verlangen, den Widerstand.

Mit dem Widerstand zu sein ist eine hohe Kunst. Wer Kinder hat, weiß das. Der Widerstand ist manchmal massiv und wird sich zeitweise gegen uns Eltern wenden. Wenn wir versuchen, den Widerstand zu brechen, wird das Drama noch größer, da wir dem Kind dann die Botschaft vermitteln, dass der Widerstand nicht in Ordnung ist. Aber der Widerstand ist ein natürlicher Prozess und zutiefst richtig, und alles, was es in diesem Moment braucht, ist, dass wir dem Widerstand Raum geben und das Kind darin „halten“. Dann wird es zunächst den Widerstand ganz fühlen und dann den eigentlichen Schmerz, der im Widerstand abgewehrt wird.

Wenn wir den Widerstand als natürliche Phase des Loslassens begreifen, wird es uns leichter fallen, unsere Kinder und uns selbst mit unseren Widerständen „halten“ zu können. Wir werden dann nicht „vernünftig“ auf uns einreden, dass wir jetzt annehmen sollen, sondern werden uns erlauben, die Phase des Widerstandes ganz zu fühlen. Das wird uns von selbst ruhiger machen und uns mit dem darunterliegenden Schmerz oder Mangel in Kontakt bringen.

Reflektiere:

Wie bist du als Kind von deinen Eltern „gehalten“ worden?

Wie kannst du dich selbst „halten“ in Momenten der Unzufriedenheit?

Experimentiere:

Achte auf typische Momente von Unruhe und Unzufriedenheit.

Gib den Gefühlen dabei ganz Raum und bleib dabei. Umfasse sie mit deiner Präsenz.

Unser Urbedürfnis

Betrachten wir diesen Prozess, „uns zu halten“, genauer, werden wir erkennen, dass die transformatorische Kraft das SEIN – die Präsenz – ist. Wir sind zunächst präsent mit der Unzufriedenheit und agieren sie nicht aus. Dann sind wir präsent mit dem Widerstand und schließlich mit dem darunterliegenden Mangel oder Schmerz. In jeder Phase braucht es lediglich unsere Präsenz, kein Tun, keine Vorschläge und keine Veränderungsversuche, damit sich der Prozess in seiner natürlichen Weise entfalten kann.

Schließlich wird der eigentliche Mangel an SEIN für uns sicht- und fühlbar. Und auch hier braucht es nur unsere Präsenz, unsere Fähigkeit, mit dem Mangel ganz zu sein, damit sich mit der Zeit mehr SEIN und damit mehr innere Verbindung einstellt. Der Mangel füllt sich von innen her auf, durchs SEIN, und wir sind wieder friedlich. Kinder zum Beispiel, die auf diese Weise „gehalten“ werden, finden oft bereits nach kurzer Zeit des Dramas wieder zu sich und spielen friedlich. Sie ruhen in sich und folgen ihren natürlichen Bedürfnissen.

So ist es auch mit uns Erwachsenen. Ruhen wir im SEIN, werden wir unsere natürlichen Bedürfnisse erkennen und ihnen Raum geben. Wir sorgen für uns und leben unser Leben von einem „Ort“ der Ruhe und des Erfülltseins aus. Dadurch entfaltet sich eine völlig andere Wirkung auf uns und unser Leben, als wenn wir von Unzufriedenheit und Unruhe getrieben sind. Im einen Fall jagen wir der Erfüllung unserer Bedürfnisse nach und finden selbst dann keine wirkliche Ruhe, wenn sie erfüllt werden. Im anderen Fall sind wir bereits erfüllt von SEIN und unsere Bedürfnisse werden unser Leben zusätzlich bereichern. Wenn sie einmal nicht erfüllt werden, können wir uns sehr leicht dem augenblicklichen Lebensfluss hingeben, da etwas anderes in uns trägt – das SEIN.

Was erfüllt, ist das SEIN. SEIN trägt und nährt uns auf geheimnisvolle Weise. Oft sind wir uns dessen nicht bewusst und glauben, dass die Erfüllung eines Wunsches uns nährt. Aber wenn wir es genauer betrachten, werden wir sehen, dass in einem Moment der Erfüllung eines natürlichen Bedürfnisses ein Loslassen stattfindet, eine Entspannung und damit ein Einsinken – ein mehr SEIN können. Auch hier erfüllt das SEIN, nicht das Stillen eines Bedürfnisses. Wie wäre es sonst erklärbar, dass es viele arme Kulturen auf dieser Erde gibt, deren Menschen oft größere Zufriedenheit ausstrahlen als die Menschen in den reichen westlichen Industrienationen?

Sind wir im SEIN gegründet, werden Bedürfnisse auftreten und Handlungen geschehen wie die Bewegung der Blätter im Wind, aber das, was trägt, ist viel grundlegender und umfassender. Wie bei einem Baum, dessen Saft aus den Wurzeln aufsteigt, um jedes Blatt zu nähren, werden auch wir genährt aus dem SEIN und nicht aus dem Tun oder der Erfüllung unserer Bedürfnisse. Das können wir auch daran sehen, wie wichtig für uns Menschen der Schlaf ist. Er nährt uns auf eine geheimnisvolle Weise. Haben wir gut geschlafen, sind wir entspannt, zufrieden und voller Energie. Schlafen ist unsere natürlichste Meditation als Mensch. Schlafen verbindet uns mit SEIN und lässt uns auftanken.

Insofern ist das grundlegendste aller Bedürfnisse – unser Urbedürfnis – das Bedürfnis nach SEIN, und jeder Moment von Präsenz, in dem wir uns des SEINS bewusst sind, verbindet uns mit unseren Wurzeln und nährt uns. Gelingt es uns, das SEIN in den Mittelpunkt unseres Lebens zu stellen, werden wir unabhängig von den äußeren Lebensumständen ein erfülltes und friedliches Leben führen.

Reflektiere:

Erinnere dich an intensive Momente von SEIN?

Was erfüllt dich in einem solchen Moment?

Wie erlebst du in diesen Momenten deine Bedürfnisse?

Im Einklang leben

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