Читать книгу INSEL DER URZEIT - Rick Poldark - Страница 6

Kapitel 1

Оглавление

Dr. Peter Albanese saß in komplettem akademischem Ornat an der Seite von Dr. Tracey Moran auf der Bühne und schwitzte. Die Abschlussfeier des aktuellen Doktorandenjahrgangs war in vollem Gange. Ihm war unsäglich heiß unter seiner Robe, aber das Wetter trug daran keine Schuld. Tatsächlich war es ein kühler, angenehmer Tag im Mai, und die Belüftung im Auditorium funktionierte ebenfalls.

Das Problem war, dass Peter große Menschenansammlungen hasste. In Situationen wie dieser hatte er sich schon immer unwohl gefühlt, und obwohl er nicht der Mittelpunkt dieser großen Menge aus überstolzen Eltern und gelangweilten Geschwistern war, hatte er das Ganze stets als eine anstrengende und schweißtreibende Angelegenheit empfunden. Er war daher überaus dankbar, dass dieses Ritual nur einmal im Jahr stattfand.

Er sah zu Tracey hinüber, die so fröhlich und freudestrahlend aussah, als wäre sie es, die gerade ihren Doktortitel erhalten würde. So lange lag das tatsächlich noch gar nicht zurück, und vermutlich rief die Zeremonie glückliche Erinnerungen in ihr wach. Peters Abschluss lag etwas weiter in der Vergangenheit, wenn es auch nicht gerade Äonen waren, und er hatte sich damals genauso unwohl gefühlt wie heute.

Nachdem sie sich durch unzählige Reden verschiedener hoher Würdenträger der Universität gequält und dazu die üblichen Gastredner ertragen hatten (in diesem Jahr durften ein lokaler Politiker und ein Schauspieler, den er nicht kannte, ihren Senf abgeben), näherte sich die Zeremonie jetzt ihrem Ende. Gleich würde sich die Fakultät der Geowissenschaften, der Tracey und er angehörten, zusammen mit allen anderen beim Empfang unter die Feiernden mischen.

Als der Applaus für die Absolventen verebbt und der Empfang eröffnet war, wandte sich Tracey an Peter. »Das war einfach wunderbar.«

Peter runzelte die Stirn. »Wollen wir uns den Empfang nicht schenken?«

Tracey boxte ihm spielerisch gegen den Arm und kicherte. »Du weißt doch, die Dekanin wäre höchst unglücklich, wenn wir einfach so verschwinden würden.«

Peter stand auf. »Okay, dann ist es jetzt an der Zeit, sich den Eltern zu stellen.«

Tracey stand ebenfalls auf, und gemeinsam folgten sie der Menge aus dem Auditorium. »Komm, so schlimm ist es nun auch wieder nicht.«

Peter hob eine Augenbraue. »Nicht so schlimm? Wir sind schuld daran, dass ihre Kinder, ihr Stolz und ihre Freude, ihr allerliebstes Herzblut, bald als Doktoren der Paläontologe in die Welt hinausziehen.«

Tracey hakte sich bei ihm unter. »Bleib einfach bei mir, dann wirst du gut klarkommen. Lass uns unsere frischgebackenen Absolventen verabschieden.«

Peter, der bei Traceys Geste ein wenig errötet war, ließ sich von ihr mitten in die Menge führen. Sein Gesicht glühte, was zum Teil von der körperlichen Nähe zu Tracey kam, vor allem aber davon, dass er sich Schulter an Schulter und durch enge Türen hindurch vorwärts geschoben, wie Vieh fühlte, das zur Schlachtbank geführt wurde. Er fragte sich, warum es immer wieder Menschen gab, die offenbar nicht in der Lage waren, ein Deo korrekt anzuwenden.

Es war nicht so, dass Peter nicht Lebewohl zu seinen Studenten sagen wollte. Er liebte sie, und er liebte es, sie zu unterrichten. Problematisch waren nur die Eltern, die nicht so recht wussten, was sie über ihr erwachsenes Kind sagen sollten, das es mit der eher exotischen Qualifikation als Paläontologe schwer haben würde, einen anständig bezahlten Job zu finden. Er fühlte sich dann immer beinahe schuldig. Glücklicherweise gab es in diesem Jahrgang nur vierzehn Absolventen. Angefangen hatten sie mit siebzehn, aber drei von ihnen hatten das Promotionsstudium abgebrochen; einer nach dem Ende des ersten Jahres und die anderen beiden nach dem Zwischenexamen.

Sie betraten nun den Saal, der voller Absolventen, ihren Familien und den Dozenten von den verschiedenen Fakultäten war. Sein Plan war eigentlich gewesen, sich eine ruhige Ecke zu suchen und sich von denen, die ihn kannten, finden zu lassen, doch Tracey hatte offenbar andere Vorstellungen.

Sie packte ihn wieder am Arm. »Na los. Lass uns sie suchen.«

Es hatte keinen Sinn, dagegenzuhalten, also ließ sich Peter mit Lämmergeduld durch den Raum ziehen.

Tracey zeigte nach rechts. »Schau mal, da ist Lucy. Komm, wir gratulieren ihr.«

Lucy lächelte, als sie die beiden näherkommen sah und ging ihnen entgegen. Im Schlepptau hatte sie ihre Eltern und einen gelangweilt wirkenden jüngeren Bruder, der es irgendwie schaffte, unbeschadet mit starrem nach unten auf sein Smartphone gerichteten Blick durch den überfüllten Raum zu laufen.

»Herzlichen Glückwunsch, Lucy!«, sagte Tracey und umarmte sie strahlend.

Die Begegnung zauberte ein breites Lächeln auf die Gesichter der Eltern. Der Bruder im Teenageralter sah kurz nach oben und widmete sich dann sofort wieder seinem Handy. Peter trat vor. »Herzlichen Glückwunsch, Lucy.«

Diese lächelte und öffnete ihre Arme, um ihn zu drücken, aber Peter streckte stattdessen unbeholfen seine Hand aus. Dadurch touchierte er eine ihrer Brüste.

Seine Hand zuckte zurück, als hätte sie etwas extrem Heißes berührt. »Hoppla! Das tut mir leid.«

Jetzt war sie es, die ihre Hand ausstreckte und seine schüttelte. Das Lächeln ihres Vaters wirkte nun etwas weniger freundlich.

»Mom und Dad … das sind Tracey und Peter. Peter hat meine Doktorarbeit betreut.«

Lucys Vater streckte zuerst seine Hand aus und Peter schüttelte sie, dann gab er ihrer Mutter die Hand. »Freut mich, Sie kennenzulernen, Mr. und Mrs. Gottesman.«

Mrs. Gottesman zog ihre Schultern nach oben, während sie etwas zu sehr lächelte. Sie wirkte unsicher, und als ob sie nicht wüsste, was sie als Nächstes sagen sollte. »Lucy war für Monate wie besessen von ihrer Arbeit. Es scheint ein ziemlich anspruchsvolles und spannendes Projekt gewesen zu sein.«

Peter nickte lächelnd. »Es war äußerst mutig von ihr, als Studienobjekt die Zahnanatomie von Theropoden zu wählen. Sie hat die Grundlage für ein leicht anwendbares System entwickelt, mit dessen Hilfe sich Fundstücke auf Basis der entsprechenden Taxonomie bezüglich der Gesamtkronenlänge, der Basenlänge und Breite, der Basisform, Apex-Position und der Größe der Kerbverzahnung einzelnen Spezies zuordnen lassen.«

Mrs. Gottesmans Lächeln verblasste nun. Ihr Gesichtsausdruck wandelte sich zu Verlegenheit, in das sich kurz darauf möglicherweise auch ein Hauch Antipathie mischte. Sie räusperte sich und legte ihren Arm um Lucy. »Wir sind sehr stolz auf sie.«

»Ja«, fügte Mr. Gottesman hinzu. »Jetzt hat sie beste Aussichten auf einen Job als Zahnärztin für Dinosaurier.« Sein Tonfall war eher sarkastisch als humorvoll.

Peter gelang es, für Lucy ein Lächeln hervorzubringen. »Meinen Glückwunsch. Du hast wirklich sehr hart dafür gearbeitet.«

Tracey umarmte Lucy noch einmal. »Glückwunsch!«

Die Gruppe trennte sich nun und Peter und Tracey liefen hierhin und dorthin, um sich ähnlichen Interaktionen mit den anderen Absolventen und ihren Familien zu stellen. Sie standen gerade bei den Eltern von Mark Baker, als Peter bemerkte, dass Petra Vasiliev allein und ziellos durch den Raum lief.

Er wollte seinem derzeitigen Gespräch nicht unbedingt entfliehen, denn immerhin schien Marks Vater einigermaßen interessiert an dem ganzen Thema zu sein und zeigte sich begeistert über die Abschlussarbeit seines Sohnes. Aber zu sehen, wie Petra ganz allein und sichtlich verlegen die Menge durchstreifte, berührte ihn irgendwie, denn er wusste ganz genau, wie sie sich gerade fühlte.

Peter legte eine Hand auf Traceys Schulter, wandte sich jedoch an Mark und seine Eltern als er sagte: »Entschuldigen Sie mich bitte für einen Moment.«

Er eilte davon und ließ Tracey das Gespräch allein weiterführen. Zielstrebig bahnte er sich einen Weg durch die Menge. Petra war groß und dünn, trug ein leichtes schwarzes Kleid und hohe Absätze und spielte nervös mit ihren rabenschwarzen Haaren. Sie schien sich äußerst unwohl in ihrer Haut zu fühlen, was ungewöhnlich für sie war.

Als sie sah, wie Peter sich ihr näherte, schenkte sie ihm ein schelmisches Lächeln und zuckte mit den Schultern.

»Herzlichen Glückwunsch«, brachte Peter hervor, ohne zu wissen, was er als Nächstes sagen sollte.

»Danke.«

Er sah sich um. »Wo sind denn deine Eltern?«

»Sie konnten nicht kommen.«

»Wirklich? Das tut mir leid.«

»Kein Problem. So was passiert eben.«

Peter hatte Mitleid mit ihr. Sie tat so, als ob es keine große Sache wäre, aber es war eine große Sache. Man bekam schließlich nicht jeden Tag eine Promotionsurkunde.

Sie sah sich im Raum um. »Stört es dich, wenn wir für einen Moment rausgehen? Diese Masse von Menschen macht mich ganz verrückt.«

Peter stimmte ihr absolut zu. Er sah sich über die Schulter nach Tracey um, die jedoch nicht zu sehen war. »Na klar, sicher. Lass uns rausgehen.«

Während er Petra nach draußen folgte, fragte er sich, warum ihre Eltern nicht gekommen waren. Petra hatte nie viel von ihrer Familie erzählt. Sie war ihm ein Rätsel geblieben. Äußerlich sah sie aus wie ein Goth-Mädchen, aber unter der Oberfläche lag ein scharfer analytischer Verstand. Sie interessierte sich vor allem für das Raubtierverhalten der Tyrannosaurier, womit sie perfekt zu Peter passte – zumindest rein akademisch gesehen.

Als sie draußen waren, holte Petra eine Zigarette hervor, die sie zwischen ihre Lippen steckte, und dann ein Feuerzeug. Sie entzündete eine Flamme, hielt sie an die Spitze ihrer Zigarette und schützte die entstehende Glut mit einer hohlen Hand, deren Fingernägel schwarz lackiert waren, vor dem Wind.

Peter ließ seinen Blick über den Vorplatz schweifen. Er war fast leer, bis auf Einzelne, die dem Empfang offenbar frühzeitig den Rücken gekehrt hatten. Alle anderen waren noch im Saal. »Was hast du als Nächstes vor? Wirst du dir einen Job suchen?«

»Nein, das hat noch Zeit.«

»Was hast du dann vor?«

»Ich weiß es noch nicht. Vielleicht reise ich nach Europa. Ich wollte immer schon nach Prag.«

Peter fragte sich, wer die Rechnung für das Promotionsstudium und Europa bezahlte. Vielleicht waren die abwesenden Eltern ja steinreich. Das wäre zumindest eine Erklärung für Petras lockere Einstellung dem Leben im Allgemeinen und im Speziellen gegenüber. »Es gibt eine große Grabung an einem Standort in Arizona. Sie haben einige Triceratopsknochen mit Markierungen gefunden, die vermutlich von einem physischen Trauma herrühren, und sie brauchen noch gutes Personal für die Analyse.«

Petra sah Peter mit ihren tiefblauen Augen an. »Wirklich?«

»Ich … ich könnte meine Beziehungen spielen lassen und dafür sorgen, dass du in das Projekt aufgenommen wirst.«

Sie lächelte. »Das würdest du für mich tun?«

Peter lächelte zurück. »Für meine beste Schülerin? Aber natürlich.« Es klang wie ein freundliches Kompliment, aber Peter meinte es wirklich ernst. Sie war eine seiner besten Schülerinnen gewesen, wenn nicht sogar die beste.

Petra verzog ihre Mundwinkel zu ihrem typischen Grinsen. »Ante oder post mortem?«

»Ich glaube, Dr. Rathi sagte ante.«

»Irgendwelche Anzeichen eines Heilungsprozesses?«

Jetzt grinste Peter. »Vielleicht.« Er hatte auf einmal gute Laune und neckte sie deshalb ein wenig, damit sie auf andere Gedanken kam und nicht länger an die Abwesenheit ihre Eltern denken musste.

»Wirklich? Vielleicht nehme ich dein Angebot an.«

»Ich hoffe tatsächlich, dass du es tust.«

Sie nahm einen Zug von ihrer Zigarette. »Was genau läuft da zwischen dir und Tracey?«

Peter war überrascht wegen des plötzlichen Themenwechsels. »Was meinst du genau?«

Petra grinste verschwörerisch und stieß ihn spielerisch in die Seite. »Du weißt schon, was ich meine.«

»Wir sind nur Kollegen und Freunde.«

»Das ist alles?«

»Ja, wobei ich nicht wüsste, was dich das angeht.«

Petra dachte eine Minute darüber nach. »Gut.«

Peter war verwirrt. »Was soll das heißen?«

Sie nahm einen weiteren Zug und richtete ihren aufmerksamen Blick dann wieder auf ihn. »Ich weiß es nicht, aber wir könnten es bei einem Drink herausfinden.«

Peter trat sofort zurück und hob die Hände. »Petra, ich denke, du missverstehst hier etwas. Ich möchte dir nur dabei helfen, einen Job zu finden. Das ist alles.«

Petra machte große Augen und klimperte übertrieben mit ihren Wimpern. Bei jedem anderen Mädchen hätte das unschuldig gewirkt, aber Petra war alles andere als unschuldig. Sie war ein Raubtier. »Oh, komm schon, Peter. Das ist doch keine große Sache.«

»Ich bin dein Professor und ich habe deine Dissertation betreut.«

Petra ließ ihre Zigarette auf den Boden fallen und trat sie aus, wobei sie ihren tätowierten Knöchel hin und herdrehte. »Aber jetzt bist du mein Ex-Professor. Ich habe meinen Abschluss nämlich in der Tasche, wenn es das ist, was dir Sorgen macht. Ich bin nicht mehr länger deine Schülerin.«

Peter wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Rein sachlich hatte sie recht. »Wo kommt das denn auf einmal her?«

Petra machte einen Schritt nach vorn und schloss auf diese Weise die Lücke zwischen ihnen. Sie glühte förmlich vor Selbstvertrauen. »Du hast mir schon immer gefallen.«

Peter wich einen Schritt zurück. »Ist das so?«

»Ja. Ich konnte es nur nicht zeigen. Schließlich warst du der Professor, der meine Dissertation betreut hat.«

Sie spielte mit ihm und es erregte ihn. »Ich glaube dir nicht.« Seine Reaktion war mehr als nur Selbstschutz. Sie war die Verteidigung eines schüchternen Mannes, der nicht an weibliche Aufmerksamkeit gewöhnt war. Die meisten Männer mit besseren sozialen Fähigkeiten hätten die Gelegenheit sofort genutzt und die Stimmung aufgegriffen, die Petra aussendete, aber nicht Peter.

Sein Rückzug schien Petra jedoch nur weiter zu ermutigen. »Ach ja?« Sie beugte sich vor und küsste ihn jetzt auf den Mund. Es war ein tiefer und langer Kuss, und als sich ihre Lippen wieder trennten, fühlte sich Peters Gesicht heiß an. In einem schuldbewussten Reflex sah er sich nervös um, denn er spürte jemanden hinter sich stehen und betete, dass es nicht die Dekanin war.

Er drehte sich um und erblickte Tracey.

Sie starrte sie beide mit einem ungläubigen Blick und weit aufgerissenem Mund an.

»Es … es tut mir leid. Ich wollte nicht stören.«

»Nein«, war alles, was Peter hervorbrachte, doch Tracey blieb nicht stehen, um sich eine ausgiebige Erklärung anzuhören. Hastig ging sie davon und verschwand wieder im Festsaal.

Peter drehte sich zu Petra um. »Bitte entschuldige mich.«

Heftig fluchend eilte er hinein und suchte wie von Sinnen die Menge nach Tracey ab, doch sie war in dem Meer von Menschen verschwunden. Seine Gedanken rasten und er bemühte sich, ihre Reaktion zu interpretieren. War sie verärgert? Wenn ja, warum? Weil sie gesehen hatte, wie er eine Studentin geküsst hatte? Warum sollte das für sie relevant sein? Petra war schließlich eine ehemalige Studentin. Oder war sie enttäuscht? Eifersüchtig?

Als echter Analytiker begann er jetzt seine eigene Reaktion zu hinterfragen. Warum war er deshalb so verärgert? Jeder Mann hätte die Gelegenheit, bei Petra zu landen, beim Schopf ergriffen. Aber hatte er das gewollt? Was wollte er überhaupt? Wen wollte er? Hatte er vielleicht Gefühle für Tracey?

Peter stieß jetzt gegen Nick Lyons, der ebenfalls hier lehrte und fast sein Getränk verschüttete.

»Hey, Peter. Was für ein Menschen-Auflauf, nicht wahr?«

»In der Tat. Nick, hast du Tracey gesehen?«

»Ja, sie ist mit Joel gegangen.«

»Sie ist schon gegangen? Mit Joel?«

»Sieht ganz so aus.«

»Wann denn?«

»Vor ein paar Minuten. Du hast sie gerade so eben verpasst.«

Peter zog sein Handy aus der Hosentasche und er wählte Traceys Kontakt aus. Sein Daumen schwebte über dem Wählknopf.

Nick, der nichts von Peters Problemen ahnte, hatte sich schon wieder unter die Menge gemischt. Peter überlegte, was er jetzt tun sollte. Sollte er es wagen, sie anzurufen? Aber wie würde das aussehen? Verzweifelt? Oder schlimmer noch, schuldig? Schuldig woran? Petra hatte schließlich ihn geküsst. Aber woher sollte Tracey das wissen? Wie viel hatte sie überhaupt gesehen?

Peter verfluchte sich innerlich.

Noi Bai International Airport, Vietnam

Bill Gibson verstaute sein Handgepäck in der Ablage über sich und ließ sich in den Fenstersitz über dem Flügel des Flugzeuges fallen. Er hatte eigentlich am Gang sitzen wollen, da es ihm seine Blase mittleren Alters nicht mehr erlaubte, ohne Toilettenbesuch nonstop nach Hause zu fliegen. Aber er würde sich deswegen das Triumphgefühl über seinen Sieg in Hanoi nicht nehmen lassen.

Der Bau der neuen Fabrik würde innerhalb eines Monats beginnen, was Alan äußerst glücklich machen würde, und wenn Alan glücklich war, würde das Bills Chancen auf den Posten des Vizedirektors deutlich verbessern. Der Flurfunk besagte nämlich, dass die Firma zurzeit hausintern nach einer Neubesetzung suchte. Endlich würde er Trish die neue Küche ermöglichen können, die er ihr schon so lange versprochen hatte.

Eine ältere, asiatisch aussehende Frau schlurfte jetzt zu dem Platz neben ihm. Sie lächelte ihn an und mühte sich dann erfolglos damit ab, ihr Handgepäck zu verstauen. Sie stöhnte, als sie es nicht schaffte, die Tasche über ihren Kopf zu heben.

Bill stand auf und machte gebückt einen Schritt auf sie zu, um sich nicht den Kopf an den Lüftungsöffnungen zu stoßen. »Lassen Sie mich Ihnen doch helfen.«

Die Dame nickte dankbar und wich ein Stück in den Gang zurück, um ihn herauszulassen. Bill schob ihre große schwarze Tasche vor sich her, um sich in den Gang stellen zu können. Dann packte er sie am Griff, hob sie hoch und schob sie ohne große Mühe in das Gepäckfach. Anschließend schloss er die Klappe und nickte der Dame zu.

Sie lächelte ihn an. »Danke schön.«

Sie sprach Englisch, das war gut. Bill erkannte eine Chance, und wenn er in einer Sache richtig gut war, dann darin, sich bietende Gelegenheiten zu nutzen. »Wäre es für Sie vielleicht in Ordnung, wenn wir die Sitze tauschen würden? Sie könnten dann am Fenster sitzen. Denn ich werde wahrscheinlich ziemlich oft zur Toilette müssen.« Er tat sein Bestes, um möglichst verlegen auszusehen.

»Oh nein«, sagte die Dame entschieden. »Ich habe Angst vorm Fliegen. Ich schaue nicht gern aus dem Fenster, das ist mir zu gruselig.«

Es war also an der Zeit, zu verhandeln. »Sie könnten doch die Sonnenblende herunterziehen.« Bill deutete auf das Fenster.

Die Dame wirkte immer aufgeregter und fuchtelte mit den Händen herum. »Nein, Sir. Tut mir leid. Ich strecke meine Füße gern im Gang aus. Mein Blutkreislauf ist nämlich nicht mehr der beste.«

Bill begriff, dass er unmöglich als Gewinner aus dieser Verhandlung hervorgehen würde. Außerdem war er ein Gentleman, also ließ er es dabei bewenden. Er kehrte zu seinem Platz am Fenster zurück und beschloss, sich seine gute Laune durch die Platzierung nicht verderben zu lassen. Es ging in seinem Leben immerhin stetig nach oben. Außerdem würde ihm die Rache so sicher sein wie das Amen in der Kirche. Er würde sie nämlich während des Fluges mehrmals bitten müssen, aufzustehen, weil seine Blase ihm das Leben schwer machen würde.

Noi Bai war ein geschäftiger Flughafen, aber nachdem das Flugzeug ein wenig herumgerollt war, durfte es sich relativ schnell in die Warteschlange der Startbahn einreihen. Die Stimme des Piloten erklang jetzt knisternd über die Lautsprecher. Er informierte die Passagiere über die voraussichtliche Flugzeit, die Wetterbedingungen und einiges mehr. Die Flugbegleiter beeilten sich, die Sicherheitseinweisung hinter sich zu bringen, und dann spürte Bill bereits, wie die Motoren anzogen.

Er sah aus dem Fenster. Draußen war es pechschwarz und Regenwasser lief über die Scheibe. Über den Wolken blitzte es, und zwar genau in der Richtung, in die sie flogen.

Durch seine Arbeit war Bill ein erfahrener und abgehärteter Vielflieger. Während das Flugzeug die Startbahn entlang beschleunigte, verzog er keine Miene und blickte ruhig nach vorn. Die Dame neben ihm umklammerte ihre Armlehnen, bis ihre Fingerknöchel weiß hervortraten.

»Es ist alles in Ordnung«, versuchte Bill sie zu beruhigen. »Hier drin ist es sicherer als in einem Auto.«

Die Dame warf ihm mit weit aufgerissenen Augen einen zweifelnden Blick zu.

Das Flugzeug hob jetzt ab, wobei es kurz in der Luft hüpfte und schaukelte, und die Blitze in den schwarzen Wolken außerhalb von Bills Fenster kamen immer näher. Einen Moment später durchstießen sie die dunklen Wolken und erreichten innerhalb weniger Minuten die Reiseflughöhe. Gelegentlich wurde das Flugzeug durchgerüttelt, weshalb das Anschnallzeichen erleuchtet blieb, aber sie waren nun über den Wolken.

Die Dame neben ihm schien sich etwas zu entspannen.

»Am riskantesten beim Fliegen sind der Start und die Landung.«

Sie lächelte ihn schief an. »Was sind Sie, ein Pilot?«

Sie hatte einen deutlich hörbaren Akzent. Er vermutete, dass sie in Vietnam lebte und Verwandte in Australien besuchen wollte.

Bill lächelte zurück. »Nein, aber ich bin beruflich sehr oft mit dem Flugzeug unterwegs. Mein Name ist Bill.«

Sie lächelte nun etwas freundlicher. »Ich bin Bian. Freut mich, Sie kennenzulernen.«

»Besuchen Sie Verwandte?«

»So ist es. Meine Tochter lebt in Melbourne.«

»Oh. Ich bin gerade auf dem Rückweg dorthin.«

Bian lockerte ihren Griff um die Armlehnen, schrak aber zusammen, als das Flugzeug in eine Turbulenz geriet. »Eine schöne Stadt.«

Bill lächelte. »Ich mag Melbourne sehr.« Er sah aus dem Fenster. »Das ist aber ein echt übles Wetter da draußen.«

Das Flugzeug erzitterte wieder und sackte plötzlich ein wenig ab, was ein unangenehmes Kitzeln in der Magengrube nach sich zog. Bian stöhnte. »Ich hasse fliegen. Besonders diese Achterbahnmomente.«

»Stellen Sie sich die Luft einfach wie eine Straße vor. Für ein Flugzeug ist die Luft so fest wie der Asphalt für ein Auto.«

Bian runzelte die Stirn. »Wie soll die Luft fest sein, wenn man sie nicht greifen kann?«

Das Flugzeug sackte erneut ab. »Das sind nur Turbulenzen … wie Unebenheiten auf einer Straße.«

»Sie klingen gar nicht so, als ob Sie aus Melbourne stammen«, sagte Bian jetzt.

»Das liegt daran, dass ich ursprünglich aus New York komme. Ich bin erst vor ein paar Jahren für meinen Job nach Melbourne gezogen.«

Ein weiteres Mal sackte das Flugzeug abrupt nach unten. Die Lichter flackerten. Sogar die Flugbegleiter wirkten jetzt nervös, als sie ihre Uniformen straffzogen und sich Mühe gaben, ihre übliche Körperhaltung einzunehmen.

Bian beobachtete sie aufmerksam und sah besorgt aus. »Ich denke gerade selbst darüber nach, nach Melbourne zu ziehen, um näher bei meiner Tochter sein zu können. Haben Sie Familie?«

Bill lächelte. »Eine Frau und zwei Jungs.«

»Wie alt?«

»Acht und zehn. Können ganz schön anstrengend sein, die beiden.«

Bian kicherte, klang aber immer noch nervös. »Das war bei meiner Tochter auch so. Ist es eigentlich immer noch. Sie ist ungebunden und ich werde nicht jünger. Ich möchte endlich ein paar Enkelkinder haben, mit denen ich spielen kann.«

Bill schnaubte. »Ich leihe ihnen gern jederzeit meine Kinder aus, vielleicht gegen einen kleinen Obolus.«

»Sind sie denn stubenrein?«

»Meistens.« Bill freute sich, dass Bian entspannt genug war, um mit ihm zu scherzen.

Das Flugzeug tauchte jetzt wieder nach unten. Dieses Mal schrie eine der Flugbegleiterinnen auf.

»Das hier ist jetzt aber nicht mehr im grünen Bereich«, sagte Bill angespannt.

»Sagen Sie das bloß nicht«, erwiderte Bian panisch. »Sie sind hier schließlich die Stimme der Vernunft.«

Eine Mutter streichelte beruhigend ihr kleines Kind, das sich ängstlich an sie klammerte. Die anderen Passagiere murmelten in einer Mischung aus Unzufriedenheit und Sorge.

Vor Bills Fenster gab es jetzt ein klapperndes Geräusch, gefolgt von einem lauten Knall. Doch bevor er nach draußen schauen konnte, stürzte das Flugzeug plötzlich gefühlt wie im freien Fall und neigte sich mit der Spitze nach unten. Die Passagiere schrien voller Panik auf.

Bill umklammerte seinen Bauch, in dem etwas nach oben schießen wollte. Der Flieger fiel so plötzlich nach unten, dass es sich anfühlte, als hinge seine Seele noch irgendwo über ihm. Bian umklammerte seinen Arm und schrie laut auf. Der Pilot war nun über die Lautsprecher zu hören. Er erteilte Anweisungen, aber der Lärm der panischen Passagiere in der Kabine und die immer lauter werdenden Fluggeräusche übertönten seine blecherne Stimme. Sauerstoffmasken fielen auf einmal von der Kabinendecke herunter.

Bill riss die für ihn bestimmte Maske aus der Luft, platzierte sie über Mund und Nase und befestigte sie mit dem Gummiband an seinem Kopf. Dann drehte er sich nach rechts und stellte fest, dass Bian bewusstlos geworden war. Er griff nach ihrer Maske, setzte sie ihr auf und sicherte sie, so gut er konnte.

Das Flugzeug schlingerte und torkelte in der Luft, und verlor immer weiter an Höhe. Die Flugbegleiterinnen riefen den Passagieren zu, die Schutzposition einzunehmen, und schnallten sich ebenfalls an.

Bill beugte Bian nach vorn, bevor er sich selbst nach unten beugte und den Kopf zwischen die Arme nahm. Seine Gedanken rasten und er stellte sich die vielen furchtbaren Szenarien vor, die auf sie zukommen konnten. Wenn sie in den Ozean stürzten, würde er die Schwimmweste unter seinem Sitz hervorziehen, und das Sitzkissen würde als Schwimmhilfe dienen. Sobald er soweit war, würde er sich um Bian kümmern. Stürzten sie an Land ab, konnte er nichts tun, außer zu hoffen, dass er den Aufprall überlebte.

Er war schon so oft geflogen und nie hatte es auch nur ansatzweise technische Probleme gegeben. Sein Bewusstsein ergab sich nun zusammen mit seinem Magen der Panik. Er wollte sich so gern an etwas festhalten, egal was.

Das Flugzeug richtete sich jetzt wieder gerader aus und bereitete sich auf eine Not-Landung vor. Es gab einen lauten Knall, als der Boden den mehr herabstürzenden als landenden Metallzylinder berührte. Alles wurde schwarz. Von draußen flackerte Licht auf, als die Kabine auseinandergerissen wurde. Bill spürte kurz Regentropfen auf seinem Gesicht, und seine Augen wurden von einem grellen Licht geblendet. Dann war da wieder nur Schwärze.

***

Bill erwachte. Er hing seitlich an seinen Sicherheitsgurt gepresst in seinem Sitz und schwebte über Bian. Seine Sicht war verschwommen und er hatte hämmernde Kopfschmerzen. Über ihm grollte Donner, und heftiger Regen ergoss sich über die Rückseite seines Kopfes.

Er griff nach links, weil er mit der Seite der Kabinenwand etwas Solides berühren wollte, aber die Wand war nicht mehr da. Auch sein Fenster war weg. Stattdessen ertasteten seine Finger einen Rand aus gezacktem Metall. Als er wieder etwas erkennen konnte, sah er Bian seitlich unter ihm hängen. Ihre Beine baumelten schlaff über dem Gang.

Bill blickte sich vorsichtig um und realisierte, dass die Kabine auseinandergerissen worden war und ihr Inneres frei lag. Er sah üppige, von einem hellen Mond beschienene Vegetation, und hörte das Prasseln des Regens, der auf große tropische Blätter niederging. Überall um ihn herum lagen reglose Körper. Auf dem schlammigen Boden unter ihm ebenso wie in den Überresten der Kabine, wo sie aus ihren Sitzen hingen.

Er streckte die Hand aus und schüttelte Bian sanft. »Bian, geht es Ihnen gut? Bian!«

Doch sie rührte sich nicht. Er konnte leider nur ihren Hinterkopf sehen. In der Kabine gab es keinerlei Bewegung. War er der einzige Überlebende?

In der Ferne ertönte jetzt ein donnerndes und tiefes Grollen. Bill wusste, dass es kein Donner war. Das Geräusch war leise und knurrend, wie ein Rudel Löwen, die gedämpft brüllten. Er schaute auf den Rand der kleinen Lichtung. Die Bäume und die Vegetation bewegten sich. Wehte der Wind so heftig? Doch es war nicht der Wind … etwas bahnte sich einen Weg auf die Lichtung zu … etwas Großes.

Er hörte das Geräusch schwerer, stampfender Schritte und sah, wie dünne Baumstämme im rechten Winkel abknickten. Am Rand der Lichtung zeichnete sich jetzt eine große, dunkle Gestalt ab. Sie gab ein tiefes Grollen von sich, ähnlich dem eines Tigers. Das tiefe Geräusch zog über die Lichtung und löste unfassbare Panik in Bill aus, denn er hörte das Grollen nicht nur … er spürte es.

Zuerst erschien ein riesiger Kopf im grünen Blattwerk der Lichtung. Er sah aus wie der Kopf eines gewaltigen Vogels, bedeckt mit weißen Federn, doch der Schnabel war zu kurz und viel zu breit. Was daran lag, dass es gar kein Schnabel war. Das Wesen, zu dem der Kopf gehörte, trottete jetzt auf die Lichtung und sog dabei schnuppernd die Luft ein.

Bill fragte sich, ob er gestorben und an einen albtraumhaften Ort versetzt worden war, weil sich das riesige Ding etwa ein Dutzend Meter über den Boden erhob. Es hatte einen langen Schwanz, der an der Spitze gefiedert war. Es bewegte seinen Kopf in einer sich wiederholenden Pendelbewegung von einer Seite zur anderen und näherte sich dabei vorsichtig den Trümmern der Maschine.

Das Wesen schnüffelte in der Luft und gab grunzende Geräusche von sich. Dann stampfte es zu den Überresten des Flugzeugs und begann, es näher zu untersuchen.

Bill blieb absolut regungslos. Das Tier befand sich am anderen Ende des Wracks, und er wollte auf keinen Fall dessen Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Er betete, dass es bald das Interesse verlieren und wieder in den Bäumen verschwinden würde, wo es hergekommen war.

Das Tier stupste jetzt den zerbrochenen Rumpf mit seinem Maul an. Das ganze Wrack geriet daraufhin in Bewegung. Bill wimmerte leise, als er auf die linke Seite geworfen wurde. Das Wesen ließ jetzt einen Luftstoß aus seinen Nasenlöchern entweichen, was ein hohes Pfeifgeräusch erzeugte.

Es stupste den Rumpf erneut an und dann ein drittes Mal noch kräftiger, bis das Wrack sich anfing zu drehen. Bill spürte, wie die Überreste des Flugzeugs aufrecht zum Liegen kamen und er nicht mehr in der Luft hing. Seine Hände wanderten unauffällig zur Schnalle seines Sicherheitsgurtes.

Das Wesen stellte die Federn auf seinem Kopf auf wie ein Papagei, was irgendwie an die Frisur eines Punkrockers erinnerte. Es schnupperte erneut und stieß dann ein lautes Brüllen aus, während es rückwärts von den Trümmern wegsprang.

Als keine Reaktion aus dem Wrack erfolgte, schlich es wieder vorwärts. Es schob seine Nase in die Sitze hinein und schnüffelte laut. Dabei stieß es ein leises Grollen aus, öffnete seine massiven Kiefer und riss mit den Vorderzähnen einen Körper von einem der Sitze. Der leblose Oberkörper des Fluggastes, der immer noch angeschnallt war, riss in Stücke.

Das Tier legte den Kopf zurück, warf den Leckerbissen zu seinen hinteren Zähnen und ließ die Kiefer dann aufeinander krachen. Blut tropfte aus seinem Maul und befleckte seine weißen Federn, während es Knochen zermalmte und Fleisch zerkleinerte. Es schluckte den Bissen hinunter und schob die Nase zurück in den Sitz.

Oh mein Gott! Es frisst die Passagiere! Es frisst die verdammten Passagiere! Bill wurde klar, dass er buchstäblich ein gefundenes Fressen sein würde, wenn er in seinem Sitz blieb. Er öffnete daher vorsichtig die Gürtelschnalle. Mit einer langsamen kontrollierten Bewegung schob er die beiden Teile seines Sicherheitsgurtes von seinem Schoß.

Die Bestie hatte jetzt offenbar im wahrsten Sinne des Wortes Blut geleckt und begann, weitere Körper von den Sitzen zu pflücken. Es packte sie mit den Vorderzähnen, kaute sie ein paar Mal und schluckte sie dann hinunter. Es war ein grauenerregender Anblick. Seine Mitpassagiere waren bereits tot, das hoffte Bill zumindest, also spürten sie nichts. Aber es war trotzdem furchtbar zu sehen, wie dieses Ding sie fraß. Es hob ein riesiges, muskulöses Hinterbein an und hielt den Rumpf mit einem krallenbewehrten Fuß fest, während es weitere Fleischstücke aus dem Metallzylinder zog.

Bill hörte plötzlich ein leises Wimmern, das aus einer der Sitzreihen vor ihm kam. Es hatte also noch jemand überlebt! Psst!, dachte er. Wer auch immer es war, er oder sie würde unweigerlich die Aufmerksamkeit dieses Wesens auf sich ziehen. Jetzt sah er, wie jemand aufstand.

Es war eine Frau. Er konnte es trotz des schwachen Mondlichts an ihren langen Haaren erkennen. Sie wirkte benommen, denn sie schwankte hin und her und hielt sich den Kopf.

Setz dich gefälligst wieder hin! Kannst du das Tier nicht sehen?

Sie schrie plötzlich laut auf, was seine Frage beantwortete.

Das große, gefiederte Biest stellte sofort die Federn auf seinem Kopf auf und ließ ein ohrenbetäubendes Gebrüll erschallen, das gleichzeitig nach einem Frachtzug und einem Tier klang. Die Frau drehte sich um und humpelte panisch den Gang hinunter. Sie lief dabei geradewegs in Bills Richtung.

Das riesenhafte Tier nahm seinen Fuß vom Flugzeugrumpf, stampfte neben dem Flugzeug her und folgte ihr. Mit seinen großen Schritten holte es rasch zu ihr auf.

Bill musste unwillkürlich an diesen einen wirklich populären Film denken, der sich um Dinosaurier drehte. »Bleib sofort stehen!«

Die Frau war so erschrocken, eine andere menschliche Stimme zu hören, dass sie mitten in der Bewegung erstarrte.

»Beweg dich nicht!«, rief Bill ihr zu. »Es kann dich nicht sehen, wenn du dich nicht bewegst!«

Wenigstens hoffte er, dass der Fall war. Damals hatte er zumindest gehört, dass die Darstellung der Tiere in diesem speziellen Film auf sorgfältig recherchierten wissenschaftlichen Erkenntnissen beruht hatte. Außerdem war das Buch, auf dem der Film basierte, von einem richtigen Arzt geschrieben worden.

Voller Entsetzen blieb die Frau mehrere Reihen von Bill entfernt stehen. Ihre Blicke trafen sich. Bevor sie irgendetwas tun konnte, kam die Bestie direkt neben dem Teil des Flugzeugs zum Stehen, in dem sie sich befanden.

Es sog die Luft über ihr in seine Nasenlöcher. Seine schwarzen und knopfrunden Waschbärenaugen, die im Schatten scharfer Schädelkämme versteckt waren, bewegten sich wachsam. Seine Zähne waren lang und scharf und schienen fast einen Fuß lang zu sein. Bill formte mit seinen Lippen stumm die Worte: Beweg. Dich. Nicht.

Die Frau erstarrte mit bis zu den Ohren hochgezogenen Schultern, schluchzte aber leise. Ihr Körper zitterte und ihr regennasses Haar klebte in ihrem Gesicht. Sie biss die Zähne aufeinander und versuchte verzweifelt, aber vergeblich, einen leisen Schrei zu unterdrücken.

Die Bestie beugte sich daraufhin sofort hinunter und stupste sie mit ihrer Schnauze an. Die vier Zoll langen Krallen an ihren kurzen Vorderbeinen gingen immer wieder auf und zu. Die Frau zuckte kurz zusammen und starrte dann wieder geradeaus, zitternd vor abgrundtiefer Angst und der Kälte des Regenwassers auf ihrer Haut. Aber sie blieb still stehen, während das Tier sie noch ein paar Mal anstupste und mit bebenden Nasenflügeln ihren Duft einsog.

Oh, verdammt.

Sie musste den Blick auf Bills Gesicht gesehen haben, denn sie duckte sich, bereit, loszurennen, als das Ding plötzlich seine Kiefer zuschnappen ließ. Ihr Blut spritzte auf die Sitze, und ihre Schreie wurden schnell durch die langen Zähne erstickt, die sich in ihren Brustkorb bohrten und ihre Lunge zerfetzten.

Bill hatte nicht vor hierzubleiben und zum Nachtisch zu werden. Er sprang von seinem Sitz hoch, rollte sich zur linken Seite des Rumpfes, zog sich aus der Öffnung, die sein Fenster gewesen war, und ließ sich nach unten in den Matsch fallen. Dann rollte er sich unter die gerundete Kante des Rumpfes und versteckte sich dort.

Er hörte knirschende Geräusche, als die arme Frau, die er mit seinem Ratschlag aus der Populärkultur zum Tode verurteilt hatte, verschlungen wurde. Der Rumpf sank ein wenig tiefer in den Schlamm, und er bewegte sich vorsichtig ein Stück zur Seite, um nicht darunter begraben zu werden. Das Biest musste das Wrack nun wieder mit seinem Fuß festhalten, und es drückte die Überreste des Flugzeuges mit seinem ganzen Gewicht nach unten. Suchte es etwa nach ihm?

Das Grollen, Knurren und Schnüffeln wurde lauter, und der Rumpf wurde weiter nach unten gedrückt, als das Tier sein Maul in die Sitzreihen zwängte und zweifellos die nächsten Gänge seiner Mahlzeit auswählte.

Bill wagte es nicht, auch nur den kleinen Finger zu bewegen, denn dieses Ding konnte wesentlich besser sehen, als ihm die Filme glauben gemacht hatten. Alles, was er jetzt tun konnte, war, versteckt im Schatten unter der Krümmung des Rumpfes zu warten, bis dieses Biest sich den Bauch vollgestopft hatte und weiterzog.

Bian würde es nicht mehr zu ihrer Tochter schaffen, und er betete, dass er überlebte, um seine Frau und seine beiden Jungen wiedersehen zu können.

Vier Wochen später

David Lennox schlüpfte in das dunkle Auditorium und achtete darauf, die Tür leise hinter sich zu schließen, um die Präsentation nicht zu stören. Der Raum war zu etwa drei Vierteln gefüllt, was für ein Paläontologie-Symposium gar nicht schlecht war. Natürlich tat es dem Zuspruch der Studenten keinen Abbruch, dass es dabei um das Fressverhalten des Tyrannosaurus Rex ging. Er setzte sich auf einen Platz in der letzten Reihe und beobachtete mit großem Interesse das Podium.

Ein kleiner Mann mit olivfarbener Haut und schwarzen Haaren war der Redner. Dr. Peter Albanese legte gerade die Ergebnisse verschiedener Ausgrabungen dar. Er klickte mit dem Presenter in seiner Hand und ließ mehrere Bilder und Texte auf einem großen Bildschirm hinter sich auftauchen. »… wie Sie sehen, wurden bei der überwiegenden Mehrheit der Grabungen einzelne Tyrannosaurus-Skelette neben mehreren Triceratops-Skeletten gefunden. Die Triceratops-Knochen weisen grundsätzlich Spuren von Traumata auf, die zu der Zahngröße eines Tyrannosaurus passen. Ein Tyrannosaurus-Fund hat sogar teilweise verdaute Triceratops-Knochen enthalten.«

Auf der anderen Seite des Podiums stand eine junge Frau, die offenbar auf ihren Einsatz wartete. Sie hatte rote Haare, helle Haut und war attraktiv. David wusste, dass es sich dabei um Dr. Tracey Moran handelte.

Dr. Albanese drückte jetzt erneut auf den Presenter und auf dem Bildschirm hinter ihm erschien eine Aufzählung von Schlussfolgerungen. »Wie die meisten Jäger hat der Tyrannosaurus ein signifikantes Leistungsdifferenzial bevorzugt und deshalb nur erheblich schwächere Beutetiere gejagt, um den zur Nahrungsaufnahme nötigen Aufwand möglichst gering halten zu können.

Wenn Sie sich die Schädelanatomie genauer anschauen, sehen sie die nach vorn gerichteten Augen, was bedeutet, dass sich die Sichtfelder beider Augen überlappen. Perimetrie-Studien geben die Überlappung im binokularen Bereich bei etwa fünfundfünfzig Grad an. Das ist überaus bemerkenswert, denn das bedeutet, dass die Fernsicht eines Tyrannosaurus besser gewesen ist als die eines Falken. Tatsächlich scheinen die Theropoden über Sehfähigkeiten verfügt zu haben, die denen vieler moderner Greifvögel ähneln.«

Dr. Moran übernahm jetzt. »Wenn wir zu den Fundstücken zurückkommen, erkennen wir auf den Knochenfragmenten des Hadrosauriers von der jüngsten Grabung Einkerbungen, die vermutlich auf Traumata durch Zähne eines Tyrannosaurus zurückzuführen sind. Zu erkennen sind auch Spuren eines Heilungsprozesses, was bedeutet, dass der Hadrosaurier den Angriff überlebt und sich wieder erholt hat. Wären die Tyrannosaurus Aasfresser gewesen, würden wir keine Anzeichen von Heilungsprozessen finden, sondern nur Markierungen von Traumata.«

Sie klickte mit dem Presenter, und auf dem Bildschirm erschienen nun Darstellungen einer weiteren Ausgrabung. »Es gibt jedoch immer eine Ausgrabung, die dem Trend entgegenläuft und alle bisherigen Erkenntnisse infrage stellt. Bei dieser speziellen Ausgrabung hat man eine Ansammlung von Skeletten gefunden, die so gruppiert waren, dass ihr Tod zeitgleich aufgrund eines einzelnen Ereignisses wie beispielsweise einer Flut eingetreten sein muss. Jedes dieser Skelette, ob groß oder klein, weist Bissspuren von Tyrannosaurus auf, ohne jegliche Anzeichen von Heilung. Hier sind offenbar die Kadaver gefressen worden. Mit anderen Worten, das Verhalten eines klassischen Aasfressers. Was bedeutet, dass Tyrannosaurus wahrscheinlich sowohl Jäger als auch Aasfresser waren.«

Dr. Albanese übernahm die Präsentation jetzt wieder. »Es gibt etliche Mythen über Tyrannosaurier, die durch die Populärkultur, vor allem durch Hollywood, propagiert wurden. Am bekanntesten ist vielleicht in einem sehr beliebten Film eine Darstellung, die vermittelt, dass die Sehfähigkeit von Tyrannosaurus auf Bewegungen basierte. Mehrere Studien deuten jedoch darauf hin, dass sein Sehvermögen bis zu dreizehnmal präziser war als das eines Menschen, vor allem was die Fernsicht betrifft, wobei wir hier von bis zu fünf oder sechs Kilometern Sichtweite ausgehen. Die Tiere haben ihre Beute also entdeckt, egal ob sie sich bewegt hat oder nicht.«

»Vergessen wir nicht ihren massiven Riechkolben«, fügte Dr. Moran hinzu, was bei den Studenten einige Lacher hervorrief. »Sie verfügten also auch über einen mehr als ausreichenden Geruchssinn.«

Dr. Albanese grinste. »Es gibt in diesem Film auch noch diese Szene, in der ein Tyrannosaurier ein Auto jagt … dabei war es für einen Dinosaurier wie ihn keine sehr gute Idee, schnell zu rennen, denn aufgrund seiner winzigen Vorderbeine wäre er wahrscheinlich nicht wieder hochgekommen, wenn er bei der Jagd gestürzt wäre. Viel wahrscheinlicher ist es also, dass der Tyrannosaurus seine Beute nicht durch die Jagd mit hoher Geschwindigkeit überwältigt hat. Stattdessen war er ein schwerfälliger Riese mit kräftigen Beinen und Kiefern, die dazu geeignet waren, Fleisch von Knochen zu reißen.«

Dr. Albanese und Dr. Moran trugen ihre Liste von Mythen über den T. Rex weiter vor und erhielten am Ende ihres Vortrags begeisterten Applaus. Es gab noch eine kurze Frage- und Antwortrunde, während der David geduldig wartete. Es wurden Fragen über die Vokalisation bei geschlossenem Maul gestellt, was es dem T. Rex ermöglicht haben konnte, ein Knurren oder Grollen auf niedriger Tonhöhe zu emittieren, ohne dabei sein Maul öffnen zu müssen. Als die Präsentation vorüber war, gelang es Peter, von der Bühne zu entkommen, Tracey war allerdings noch umgeben von einer Schar sie bewundernder Studenten und Gäste.

David entschied, die Gelegenheit beim Schopfe zu packen und sich vorzustellen. Er ging zu Peter hinüber, der etwas abseitsstand und geduldig darauf wartete, dass Tracey die Bühne verließ. »Eine wirklich ausgezeichnete Präsentation.«

»Danke«, sagte Peter und betrachtete David kurz. Dieser streckte daraufhin die Hand aus. »David Lennox, Personal-Direktor bei Poseidon Tech.«

Peter schüttelte seine Hand. »Poseidon Tech? Das Geophysik-Unternehmen, das diese ozeanischen Such- und Bergungsoperationen durchführt?«

David grinste. »Genau das.«

»Was kann ich für Sie tun?«

David hob eine Augenbraue. »Ich würde mich gern mit Ihnen und Dr. Moran unterhalten.«

Beide Männer sahen zu ihr hinüber. Sie war gerade dabei, sich von den letzten überambitionierten Studenten loszureißen.

»Worüber?«, fragte Peter neugierig.

Tracey kam auf Peter zu. »Das hat Spaß gemacht.«

Jetzt bemerkte sie David und sah ihn aufmerksam an. »Und wer sind Sie?«

David streckte ihr die Hand entgegen. »David Lennox von Poseidon Tech.«

Sie schüttelte seine Hand, aber ihr Gesicht drückte Zurückhaltung aus. »Die Geophysik-Firma, die diese Bergungsarbeiten durchführt?«

David nickte. »Es gibt etwas, das ich mit Ihnen beiden besprechen möchte. Gibt es hier einen privaten Ort, an dem wir in Ruhe reden können?«

Peter und Tracey tauschten zweifelnde Blicke aus.

»Natürlich«, sagte Peter. »Wir können in mein Büro gehen.«

***

Peter schloss seine Bürotür auf und die drei traten ein. David machte die Tür hinter sich zu und Peter begann sofort, Stühle zurechtzuschieben. Zwei standen nebeneinander an der Seite seines bescheidenen hölzernen Schreibtischs. Er drehte sie in Richtung seines Bürostuhls und bedeutete Tracey und David, Platz zu nehmen.

David nickte. »Danke.« Er setzte sich und sah sich aufmerksam im Büro um. Es war ein kleines Büro voller Fotos von verschiedenen Ausgrabungsstätten und Dinosaurier-Skeletten. Es gab keine Bilder einer Frau oder Kinder. Obwohl Dr. Albanese in den Dreißigern war, schien er ledig und ungebunden zu sein. David fragte sich, wie Dr. Morans Büro wohl aussah.

Tracey, die Peter fragend ansah und offensichtlich keinerlei Ahnung hatte, worum es hierbei ging, setzte sich neben David. Peter nahm auf dem Stuhl hinter seinem Schreibtisch Platz. »Also, worum geht es?«

David räusperte sich. »Haben Sie von dem Vietnamese Airlines Flug 207 gehört?«

Tracey nickte. »Ja, das ist doch das Flugzeug, das in diesem Sturm verschwunden ist. Sind Sie an der Suchaktion beteiligt?«

»Wir haben das Flugzeug bereits gefunden«, antwortete David.

»Das ist gut«, sagte Peter. »Wo?«

»Auf einer unbekannten Insel vor der Küste Vietnams.«

»Entschuldigung«, sagte Tracey hellhörig. »Haben Sie gerade eine unbekannte Insel gesagt?«

David nickte. »Ja, das ist richtig.«

»Aber das ist unmöglich«, sagte Peter. »Wir haben schließlich überall Satelliten. Der gesamte Globus wurde mehrmals gescannt und abgebildet.«

»Das ist nicht ganz richtig«, wandte David ein. »Die Kartografie ist nicht unfehlbar, und bei der Kartierung werden auch nicht alle Gebiete gleich behandelt. Welche Regionen der Welt am genauesten kartiert werden, hat viel mit Geld und Ressourcen zu tun. Die ganze Aufmerksamkeit geht in diese Gegenden. Es gibt jedoch unterentwickelte Teile der Welt, die nicht so sehr im Fokus stehen.«

»Dafür gibt es Organisationen wie Pan World«, meinte Peter. »Ein gemeinnütziger Verein, der mit lokalen Regierungen in Ländern der Dritten Welt zusammenarbeitet, um bei der Aktualisierung ihrer Karten zu helfen. Ungenauigkeiten sind das eine, aber wie bitte schön entgeht einem eine ganze Insel?«

»Diese Insel ist etwas ganz Besonderes. Sie besitzt offenbar elektromagnetische Eigenschaften, die die Vermessungs- und Bildgebungsgeräte beeinträchtigen. Die Satelliten haben sie anscheinend nicht aufnehmen können«, erklärte David.

»Das müsste dann aber ein verdammt starkes elektromagnetisches Feld sein«, wandte Tracey ein.

»Sie haben also eine Insel gefunden«, sagte Peter. »Nach dem, was Sie sagen, klingt es so, als würde sich die Untersuchung vor Ort aufgrund von elektromagnetischen Impulsen sehr schwierig gestalten.«

»Ganz genau.«

»Das ist ja durchaus spannend, aber was hat das mit uns zu tun?«

David machte eine kurze Pause und wählte seine nächsten Worte sehr sorgfältig. »Es könnte neben dem Flugzeugwrack noch andere interessante Objekte auf dieser Insel geben, die eine fachmännische Untersuchung erfordern.«

»Was für interessante Objekte?«, fragte Tracey.

»Ich kann an dieser Stelle leider nicht allzu sehr ins Detail gehen, aber lassen Sie mich darauf hinweisen, dass diese Art von Objekten genau Ihre Art von Fachwissen erfordern würden.«

»Geht es etwa um Fossilien?«, fragte Peter.

David seufzte leise und richtete seinen Blick zuerst auf Peter und dann auf Tracey. »Ich bin bereit, Ihnen ein großzügiges Angebot für Ihr Fachwissen zu unterbreiten. Ich möchte Sie dafür zu einem Treffen bei Poseidon Tech einladen, um die genaue Art der Vereinbarung zu besprechen.«

»Einen Moment, bitte«, sagte Peter. »Ich würde zuerst gern wissen, worum es genau geht, bevor ich mich auf den Weg zu Poseidon Tech mache. Ich laufe nämlich nicht gern mit verbundenen Augen durch die Welt.«

»Ich verstehe das«, sagte David. »Ich kann an dieser Stelle aber leider wirklich nicht weiter ins Detail gehen. Bei dem Treffen werden wir Ihnen beiden ein Angebot unterbreiten. Es steht Ihnen frei, dieses Angebot zu akzeptieren oder abzulehnen. Sie sind natürlich zu nichts verpflichtet. Wir erwarten lediglich, dass Sie vor Beginn der Besprechung eine Geheimhaltungsvereinbarung unterschreiben.«

»Sie verpassen uns also einen Maulkorb«, sagte Peter alarmiert.

»Diese eine Voraussetzung ist absolut nicht verhandelbar«, sagte David entschieden. »Bitte verstehen Sie, dass wir vertraglich und vor allem gesetzlich gebunden sind. Wir haben einen Exklusivvertrag mit der vietnamesischen Regierung und die gesamte Operation wird von zwei Offizieren der vietnamesischen Volksmarine überwacht.«

»Ich verstehe«, sagte Peter, klang dabei allerdings voller Zweifel.

»Oh, und Sie werden mit jeweils dreißigtausend Dollar für die Teilnahme an dem Treffen entschädigt, selbst wenn Sie unseren Vorschlag später ablehnen.«

»Dreißigtausend Dollar?«, platzte Tracey ungläubig heraus.

»Für jeden von Ihnen«, bestätigte David.

»Das ist wirklich mehr als großzügig«, sagte Peter, »aber im Moment habe ich alles andere als ein gutes Gefühl bei dieser mysteriösen Nacht-und-Nebel-Aktion.«

David kicherte. »Sie arbeiten mit Mitteln der Regierung, um forschen und lehren zu können. Dies hier ist der Privatsektor, Dr. Albanese. Wir sind ein profitorientiertes Unternehmen, das damit beauftragt worden ist, eine Bergungsoperation durchzuführen. Nichtsdestotrotz stellen die genannten interessanten Objekte, die möglicherweise im Spiel sein können, eine beispiellose Chance für Sie und Dr. Moran und das gesamte Fachgebiet der Paläontologie dar. Zeit ist hier allerdings der entscheidende Faktor. Wir möchten Sie deshalb bereits morgen nach Florida fliegen. Wenn Sie unseren Vorschlag ablehnen, werden wir andere Akteure, die in Ihrem Fachbereich tätig sind, kontaktieren. Sie beide sind allerdings unsere erste Wahl. Wenn ich Sie wäre, würde ich mir also zumindest anhören, was wir zu sagen haben.«

»Es kann ja nicht schaden, dem Treffen beizuwohnen«, meinte Tracey. »Ich bin definitiv gespannt, worum es geht.«

David stand auf. »Ich überlasse es Ihnen, weiter darüber zu diskutieren.« Er zog eine Visitenkarte aus einem silberfarbenen Metalletui, das er in der rechten Brusttasche seines Anzugs trug. »Unter dieser Telefonnummer können Sie mich jederzeit kontaktieren. Ich brauche bis heute Abend acht Uhr Ihre Antwort, ob Sie unsere Einladung zu einem ersten Treffen annehmen.«

Peter und Tracey standen auf. David gab jedem die Hand und verließ dann Peters Büro, wobei er die Tür hinter sich leise schloss.

»Was zum Teufel war das denn für eine Show?«, fragte Peter verwirrt und ließ sich wieder auf seinen Sitz fallen.

Tracey setzte sich ebenfalls wieder hin. »Worum auch immer es geht, es hat ganz sicher nichts mit der Förderung der Paläontologie zu tun.«

»Es muss um Fossilien gehen. Sie haben bestimmt etwas auf der Insel gefunden.«

Tracey schüttelte den Kopf. »Das mag sein, aber ich kann mir nicht vorstellen, warum eine Firma für Bergungsoperationen an fossilen Überresten interessiert sein soll.«

»Es gibt einen großen Markt dafür in Europa und Asien«, erklärte Peter. »Museen finden dort nicht viele Fossilien von Dinosauriern. Eine japanische Firma hat kürzlich einem Museum in Montana drei Millionen Dollar für ein T-Rex-Skelett geboten.«

»Heiliger Strohsack«, keuchte Tracey. »Wenn Poseidon Tech uns dreißigtausend Scheine bietet, nur um mit uns zu reden… stell dir mal vor, was sie uns anbieten werden, wenn wir zusagen.«

Peter runzelte die Stirn. »Wir sind Forscher, keine Geschäftemacher.«

»Denk doch wenigstens kurz darüber nach, was du mit dieser Menge Geld anfangen könntest … eigene Ausgrabungen finanzieren zum Beispiel. Komm schon, Pete. Geld ist immer ein Faktor gewesen. Wir haben uns immer schon darüber beschwert, dass Museen nur für intakte Skelette zahlen, die uns Nullkommanichts über das Fressverhalten der Theropoden verraten.«

»Wir könnten Ausgrabungen nach unvollständigen Skeletten finanzieren«, sagte Peter und beendete ihren Gedanken. »Die Informationen, die wir dadurch sammeln könnten, wären von unschätzbarem Wert.«

Tracey beugte sich auf ihrem Stuhl nach vorn und sah ihm tief in die Augen. »Ich denke, wir sollten wenigstens mit ihnen reden. Wenn uns nicht gefällt, was sie zu sagen haben, gehen wir einfach wieder.«

Peter zögerte. Er mochte es ganz und gar nicht, eine Spielfigur im Spiel von anderen zu sein, aber als Paläontologe ließ sich das leider nicht immer vermeiden. Außerdem gefiel ihm, wie aufgeregt Tracey war. Es törnte ihn sogar an, was er ihr natürlich niemals verraten würde.

»Okay. Dann reden wir mit ihnen und hören uns an, was sie zu sagen haben.«

Tracey packte ihn am Arm und quietschte jetzt fast vor Vergnügen. »Das ist ja so aufregend! Unser erster Schritt in den privaten Sektor.«

Peter gefiel der Gedanke immer noch nicht, denn er gab ihm automatisch das Gefühl, eine Art Söldner zu sein. »Wir werden nur mit ihnen sprechen«, erinnerte er sie. »Wir legen uns nicht vorher schon fest.«

Sie verspottete ihn und salutierte grinsend. »Jawohl, Sir, keine Festlegungen vorab.«

Doch tief in sich wusste er, dass er ihr wider besseres Wissen überallhin folgen würde.

INSEL DER URZEIT

Подняться наверх