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KAPITEL 1

Mitgefühl

Wenn ich nicht für mich bin, wer ist dann für mich?

Wenn nicht jetzt, wann sonst?

RABBI HILLEL

Eine der bedeutsamsten Erfahrungen meines Lebens hatte ich, als ich sechs Jahre alt war. Meine Familie lebte in Illinois, am Rande von Kornfeldern. Ich erinnere mich daran, wie ich eines Abends draußen stand und auf das Regenwasser in den Furchen herabblickte, die die Traktoren hinterließen, und dann zu unserem Haus zurückschaute. Ich fühlte mich wehmütig und traurig angesichts des Zorns in meinem Inneren. Es gab Lichter, die auf den entfernten Hügeln funkelten, dem Zuhause anderer, vielleicht glücklicherer Familien.

Als Erwachsener heute kann ich erkennen, dass meine Eltern liebevolle, ordentliche Menschen waren, die mit ihrem eigenen Stress umzugehen hatten, und dass meine Kindheit in vielerlei Hinsicht eine glückliche war. Mein Vater hatte einen schweren Job und meine Mutter alle Hände voll mit meiner Schwester und mir zu tun. Ich kann mich nicht daran erinnern, was in unserem Haus in jener Nacht geschah. Es könnte einen gewöhnlichen Streit gegeben haben. Aber ich erinnere mich daran, als wäre es gestern gewesen, eine Fürsorge mir selbst gegenüber empfunden zu haben. Ich fühlte mich schlecht, jene Gefühle waren von Bedeutung, und ich wollte mir helfen, mich selbst besser zu fühlen. Viele Jahre später lernte ich, dass dies Mitgefühl war – die Erkenntnis von Schmerz zusammen mit dem Wunsch, ihn zu lindern –, das man sich selbst genauso wie anderen entgegenbringen kann.

Ich kann mich genau daran erinnern, dass ich wusste, dass es an mir war, durch die vor mir liegende Zeit zu kommen und jene Lichter und Menschen und jenes größere Glück zu finden.

Ich liebte meine Eltern und war niemandem feindselig gesonnen, sondern ich war für mich selbst. Ich war entschlossen – wie ein Kind es nur sein kann, und genauso ein Erwachsener –, ein so gutes Leben zu haben, wie ich nur konnte.

Mein eigener Weg des Wohlbefindens begann mit Mitgefühl, wie es bei den meisten Menschen der Fall ist. Mitgefühl für Sie selbst ist fundamental, denn wenn Sie sich nicht darum kümmern, wie Sie sich fühlen, und etwas dafür tun möchten, ist es schwer, eine Anstrengung zu unternehmen, um glücklicher und resilienter zu werden. Mitgefühl ist beides, weich und muskulös. Studien haben beispielsweise gezeigt, dass, wenn Menschen Mitgefühl empfinden, sich Gehirnareale für die Bewegungsplanung zum Handeln vorbereiten.

Mitgefühl ist eine psychologische Ressource, eine innere Stärke. In diesem Kapitel werden wir erkunden, wie Sie Mitgefühl entwickeln und für sich selbst nutzen können, und in späteren Kapiteln werden wir sehen, wie man Mitgefühl anderen entgegenbringt.

Stehen Sie sich selbst bei

Wenn wir andere mit Respekt und Zuwendung behandeln, kommt normalerweise das Beste in ihnen zum Vorschein. Weitgehend dasselbe würde geschehen, wenn wir uns auf die gleiche Art und Weise behandeln könnten.

Doch die meisten von uns sind mit anderen besser befreundet als mit sich selbst. Wir kümmern uns um ihren Schmerz, erkennen positive Qualitäten an ihnen und behandeln sie angemessen und freundlich. Aber was für eine Art Freund sind Sie für sich selbst? Viele Menschen sind hart zu sich selbst, sind kritisch, hegen Selbstzweifel und wirken eher destruktiv als konstruktiv.

Stellen Sie sich vor, Sie behandeln sich so, wie Sie es mit einem Freund oder einer lieben Freundin tun würden. Sie würden ermutigend, warmherzig und verständnisvoll sein und Sie würden sich helfen, zu heilen und zu wachsen. Denken Sie darüber nach, wie ein typischer Tag aussehen könnte, wenn Sie sich selbst beistehen würden. Wie würde es sich anfühlen, Ihre guten Absichten und Ihr gutes Herz wertzuschätzen und weniger selbstkritisch zu sein?

Warum es gut ist, zu sich selbst gut zu sein

Es ist hilfreich, die Gründe zu verstehen, warum es sowohl angemessen als auch wichtig ist, sich selbst beizustehen. Andernfalls könnten Glaubenssätze wie diese die Kontrolle übernehmen: „Es ist selbstsüchtig, darüber nachzudenken, was du möchtest.“ – „Du verdienst keine Liebe.“ – „In deinem tiefsten Inneren bist du schlecht.“ – „Du wirst versagen, wenn du größere Träume hegst.“

Erstens, es gibt das Grundprinzip, dass wir Menschen mit Anstand und Mitgefühl behandeln sollten. Nun, „Menschen“ schließt die Person mit ein, die Ihr Namensschild trägt. Die Goldene Regel ist eine Straße, die in beide Richtungen befahren wird: Wir sollten mit uns selbst so umgehen, wie wir es mit anderen tun.

Zweitens, je mehr Einfluss wir auf jemanden haben, umso größer ist unsere Verantwortung, ihn gut zu behandeln. Beispielsweise haben Chirurgen große Macht über ihre Patienten, daher ist es ihre große Pflicht, Sorgfalt walten zu lassen, wenn sie sie operieren. Wer ist die eine Person, die Sie am meisten beeinflussen können? Sie selbst sind es, Sie selbst in diesem Moment und Ihr zukünftiges Selbst: die Person, die Sie in der nächsten Minute, Woche oder im nächsten Jahr sein werden. Wenn Sie über sich selbst wie über jemanden denken, demgegenüber Sie eine Pflicht zur Fürsorge und Freundlichkeit haben, was würde sich an der Art und Weise ändern, wie Sie mit sich selbst reden und wie Sie durch Ihren Tag gehen?

Drittens, gut zu sich selbst zu sein, ist gut für andere. Wenn Menschen ihr eigenes Wohlbefinden erhöhen, werden sie für gewöhnlich geduldiger, kooperativer und fürsorglicher in ihren Beziehungen. Denken Sie darüber nach, wie andere davon profitieren würden, wenn Sie sich selbst weniger gestresst, besorgt oder irritiert und sich friedlicher, zufriedener und liebevoller fühlen würden.

Sie können praktische Maßnahmen ergreifen, um sich selbst davon zu überzeugen, dass es wirklich gut ist, sich selbst mit Respekt und Mitgefühl zu behandeln. Sie könnten einfache Aussagen niederschreiben – wie etwa „Ich stehe mir selbst bei“ oder „Ich trete für mich selbst ein“ oder „Auch ich bin wichtig“ – und sie sich selbst laut vorlesen oder sie irgendwo anbringen, wo Sie sie jeden Tag sehen. Sie könnten sich vorstellen, jemandem zu erzählen, warum Sie sich mehr um Ihre eigenen Bedürfnisse kümmern werden. Oder stellen Sie sich einen Freund, einen Mentor oder sogar Ihre gute Fee vor, die Ihnen nahelegen, sich selbst beizustehen – und lassen Sie sich überzeugen!

Das Gefühl, sich um sich selbst zu kümmern

Als ich 1969 von zu Hause wegging, um an der UCLA (= University of California, Los Angeles, A.d.Ü.) zu studieren, war ich hyperrational und verkopft. Dies war eine Vermeidungsstrategie, um mich nicht traurig, verletzt und bekümmert zu fühlen, doch fühlte ich dann überhaupt nichts mehr. Ich musste mit mir selbst in Kontakt kommen, um zu genesen und zu wachsen. Kalifornien in den 1970er-Jahren stand im Zentrum des Human Potential Movement, und ich tauchte darin ein, obwohl es ziemlich verrückt schien. (Urschrei-Therapie! Selbsterfahrungsgruppen! Entblöße deine Seele auf Kommando!) Ich lernte schrittweise, mich allgemein in meine Emotionen und meine Körperempfindungen einzustimmen. Insbesondere begann ich dem Gefühl, mir selbst beizustehen, Aufmerksamkeit zu schenken und mir selbst Wärme und Unterstützung, statt Kälte und Kritik entgegenzubringen. Dies zu tun fühlte sich gut an, deshalb fuhr ich damit fort. Jedes Mal, wenn ich mich auf diese positiven Erfahrungen fokussierte, war es so, als ob ich einen Muskel trainieren und ihn stärken würde, immer wieder. Durch das wiederholte Üben einer Haltung von Freundlichkeit und Ermutigung mir selbst gegenüber drangen diese schrittweise in mich ein und wurden zu einer natürlichen Seinsweise.

Viele Jahre später lernte ich als Psychologe, auf welche Weise meine intuitiven Bemühungen funktioniert hatten. Sich auf die Erfahrung einer psychologischen Ressource zu fokussieren und dranzubleiben – wie etwa dem Gefühl, sich selbst beizustehen – ist eine kraftvolle Art und Weise, diese in Ihrem Gehirn zu verstärken. Dann nehmen Sie diese innere Stärke, wohin Sie auch immer gehen, mit.

In den Kapiteln über Achtsamkeit und Lernen werde ich Ihnen im Detail erklären, wie Sie Ihre Gedanken und Gefühle in dauerhafte innere Stärken umwandeln können: die Grundlage wahrer Resilienz. Das Wesentliche ist einfach: Erstens, machen Sie eine Erfahrung dessen, was Sie in sich entwickeln möchten – wie etwa Mitgefühl oder Dankbarkeit –, und zweitens, fokussieren Sie sich darauf und halten Sie das Erlebte aufrecht, um dessen Konsolidierung/Festigung in Ihrem Nervensystem voranzutreiben.

Dies ist der fundamentale Prozess positiver Neuroplastizität. Um ein Gefühl dafür zu bekommen, probieren Sie die Übung im Kasten aus. Sie dauert nur eine oder zwei Minuten – oder Sie verlangsamen sie um einer tieferen Wirkung willen. Wie bei allem, schlage ich vor, dass Sie sie Ihren eigenen Bedürfnissen anpassen. Darüber hinaus können Sie im Alltag darauf Acht geben, wenn Sie eine Haltung oder ein Gefühl der Fürsorge für sich selbst haben – und dann bleiben Sie bei der Erfahrung für ein paar zusätzliche Augenblicke, indem Sie sie in Ihrem Körper spüren und sich in sie hinein sinken lassen, während diese in Sie hinein sinkt.


SICH SELBST BEISTEHEN Erinnern Sie sich an eine Zeit, als Sie jemandem Beistand leisteten: vielleicht einem Kind, das Sie beschützten, einem Freund, den Sie ermutigten, oder einem älteren Elternteil mit Gesundheitsproblemen. Erinnern Sie sich daran, wie sich das in Ihrem Körper anfühlte – in der Haltung Ihrer Schultern, in Ihrem Gesichtsausdruck. Erinnern Sie sich an einige Ihrer Gedanken und Gefühle – vielleicht gab es ein Erleben von Fürsorge, vielleicht Entschlossenheit oder sogar eine heftige Intensität.

Wissend, wie es sich anfühlt, jemandem beizustehen, bringen Sie sich selbst gegenüber diese Haltung entgegen. Spüren Sie, wie es sich anfühlt, sich selbst ein Verbündeter zu sein – jemand, der auf Sie achten, Ihnen helfen, Sie beschützten wird. Erkennen Sie, dass Sie Rechte haben und Bedürfnisse, die wichtig sind.

Es ist normal, wenn andere Reaktionen auftauchen, wie etwa sich wertlos zu fühlen. Nehmen Sie sie einfach wahr und lösen Sie sich von ihnen, und dann kehren Sie zu dem Gefühl zurück, sich selbst Gutes zu wünschen. Fokussieren Sie sich auf diese Erfahrung und bleiben Sie bei ihr für ein paar Atemzüge oder länger.

Entsinnen Sie sich an Zeiten, in denen Sie sich wirklich für sich selbst eingesetzt und stark gemacht haben. Vielleicht ermutigten Sie sich selbst während einer schweren Arbeitsphase oder Sie nahmen bei jemandem, der Sie verletzt hatte, kein Blatt vor den Mund. Entwickeln Spüren Sie, wie sich das anfühlte, und zwar in emotionaler Hinsicht sowie in Ihrem Körper. Erinnern Sie sich an einige der Gedanken, die Sie hatten, wie etwa: „Es ist völlig in Ordnung, mir helfen zu lassen.“ Bleiben Sie bei dieser Erfahrung und lassen Sie sie Ihren Geist ausfüllen.

Erfahren Sie, was es heißt, sich wirklich seinem eigenen Wohlbefinden gegenüber zu verpflichten. Lassen Sie die Gefühle, Gedanken und Absichten, sich selbst ein guter Freund oder eine gute Freundin zu sein, in Ihr Bewusstsein dringen, lassen Sie sie ein Teil von Ihnen werden.

Bringen Sie ihrem Schmerz Mitgefühl entgegen

Mitgefühl ist eine warmherzige Sensibilität für Leiden – vom feinen mentalen oder physischen Unbehagen bis zum quälenden Schmerz –, die mit dem Wunsch einhergeht, zu helfen, wenn Sie können. Mitgefühl zu geben, mindert den Stress und beruhigt Ihren Körper. Mitgefühl zu empfangen, macht Sie stärker: versetzt Sie besser in der Lage, Atem zu schöpfen, Halt zu finden und weiterzumachen.

Sie profitieren von beidem, Mitgefühl zu geben und zu empfangen, wenn Sie es sich selbst anbieten. Je besser Sie die Lasten und den Stress bei anderen erkennen können, umso besser erkennen Sie dieselben Dinge bei sich selbst. Je mehr Sie sich von deren Leiden bewegen lassen, umso mehr kommen Sie mit ihrem eigenen in Kontakt. Sie können die gleiche Unterstützung, die Sie für einen anderen aufbringen, sich selbst angedeihen lassen. Und wenn es nicht viel Mitgefühl seitens anderer für Sie gibt, dann ist es umso wichtiger, dass Sie es sich selbst entgegenbringen.

Dies bedeutet nicht, zu jammern und sich im Elend zu suhlen. Mitgefühl für Sie selbst findet dort statt, wo Sie beginnen, wenn die Dinge schwer werden, nicht wo Sie aufhören. Forschungen von Kristin Neff und anderen haben gezeigt, dass Selbstmitgefühl eine Person resilienter macht, sie besser in die Lage versetzt, wieder auf die Beine zu kommen.

Es senkt die Selbstkritik und baut Selbstwertgefühl auf, indem es Ihnen hilft, aktiver und erfolgreicher zu sein, und nicht selbstzufrieden und bequem. Im Mitgefühl für Ihren eigenen Körper steckt ein Gefühl der Mitmenschlichkeit: Wir alle leiden, wir alle sehen uns mit Krankheiten und dem Tod konfrontiert, wir alle verlieren andere, die wir lieben. Jeder ist zerbrechlich. Wie Leonard Cohen sang: „There is a crack in everything / That’s how the light gets in.“* Jeder hat einen Riss. Jeder braucht Mitgefühl.

Herausforderungen ans Selbstmitgefühl

Trotzdem ist Selbstmitgefühl für viele von uns eine Herausforderung. Ein Grund dafür liegt in der Art und Weise, wie unser Nervensystem funktioniert. Das Gehirn ist dazu bestimmt, von unseren Erfahrungen verändert zu werden, hauptsächlich von negativen und insbesondere von jenen, die in der Kindheit stattfanden.

Es ist ganz normal, dass Sie verinnerlichen, wie Eltern oder andere sie behandelt haben –was ein Übergehen, Schmälern oder Bestrafen ihrer zarteren Gefühle und Sehnsüchte eingeschlossen haben mag– und sich dann selbst ebenso behandeln.

Ich hatte beispielsweise gewissenhafte und liebevolle Eltern und bin ihnen sehr dankbar dafür. Gleichwohl erfuhr ich, während ich heranwuchs, häufig Kritik und nicht viel Mitgefühl, und ich nahm diese Einstellungen in mich auf. Ich bin immer vom Schmerz anderer bewegt worden. Aber mein eigener Schmerz? Ich schob ihn beiseite und wunderte mich dann, warum er weiter zunahm.

Mitgefühl lernen

Ich musste lernen, wie ich meinem eigenen Leiden Mitgefühl entgegenbringen konnte. Wir lernen viele Dinge im Leben, einschließlich wie man Fahrrad fährt, sich bei einem Freund entschuldigt oder sich selbst beruhigt, wenn man aufgeregt ist. Was ist nötig, damit Lernen stattfinden kann?

Der Schlüssel, um jede Art psychologischer Ressource zu kultivieren, Mitgefühl inklusive, besteht darin, diesbezüglich wiederholte Erfahrungen zu machen, die zu beständigen Veränderungen in der neuronalen Struktur oder Funktion führen. Es ähnelt dem Aufnehmen eines Liedes auf einem altmodischen Tonbandgerät: Wenn das Lied gespielt wird – wenn Sie also die Ressource erfahren –, können Sie veranlassen, dass eine physische Spur in Ihrem Nervensystem hinterlassen wird.

Wenn Sie bereits etwas Erfreuliches oder Nützliches erfahren – vielleicht die Befriedigung, einen Bericht bei der Arbeit zu beenden, oder die Annehmlichkeit, sich am Ende eines langen Tages aufs Sofa fallen zu lassen –, bemerken Sie es einfach. Sie können auch bewusst eine Erfahrung dessen erschaffen, was Sie entwickeln möchten, wie etwa das Gefühl, sich selbst beizustehen. Sobald Sie die Erfahrung machen, fühlen Sie diese möglichst in vollem Ausmaß und nehmen Sie sich ein wenig Zeit – einen Atemzug oder zwei oder zehn –, um dabei zu bleiben. Je öfter Sie dies tun, umso mehr richten Sie sich darauf aus, psychologische Ressourcen in sich zu verschalten.

Um mehr Selbstmitgefühl zu entwickeln, nehmen Sie sich ein paar Minuten Zeit und probieren Sie die Übung im Kasten aus. Indem Sie Mitgefühl für sich selbst kultivieren, werden Sie besser in der Lage sein, es sich zunutze zu machen, wann immer Sie es brauchen.


MITGEFÜHL FÜR SIE SELBST Erinnern Sie sich jetzt einmal an Zeiten, in denen Sie sich von Menschen, Haustieren oder spirituellen Wesen liebevoll umsorgt fühlten, in Ihrem Leben heute oder in der Vergangenheit. Jede Art von Fürsorge für Sie zählt, wie etwa Zeiten, in denen Sie miteinbezogen, geachtet, gemocht oder geliebt worden sind. Entspannen Sie sich, und öffnen Sie sich für das Gefühl, liebevoll umsorgt zu sein. Wenn Sie abgelenkt werden, kehren Sie einfach zu dem Gefühl, Fürsorge zu empfangen, zurück. Bleiben Sie bei diesen Gefühlen, und spüren Sie, wie sie in Sie eindringen, wie Wasser in einen Schwamm.

Dann denken Sie an einen oder mehrere Menschen, für die Sie Mitgefühl empfinden – vielleicht an ein Kind, das Schmerzen hat, an eine Freundin, die eine Scheidung durchmacht, oder an Flüchtlinge, die ihre Heimat verlassen mussten. Bekommen Sie ein Gefühl für deren Lasten, Sorgen und Leiden. Spüren Sie eine warmherzige, anteilnehmende Fürsorge. Sie könnten eine Hand auf Ihr Herz legen und Gedanken hegen wie etwa: Möge dein Schmerz nachlassen mögest du Arbeit finden … mögest du diese Krankheit überstehen.“ Geben Sie sich selbst dem Mitgefühl hin, indem Sie zulassen, dass es Sie ausfüllt und Sie durchströmt.

Spürend, wie sich Mitgefühl anfühlt, übertragen Sie es auf sich selbst. Erkennen Sie jegliche Arten und Weisen, in denen Sie sich gestresst, müde, krank, schlecht behandelt oder unglücklich fühlen. Dann bringen Sie sich Mitgefühl entgegen, so wie Sie es bei einem Freund oder einer Freundin tun würden, die sich wie Sie fühlen mag. Werden Sie sich bewusst, dass jeder Leid erfährt und dass Sie nicht allein mit ihrem Schmerz sind. Vielleicht legen Sie eine Hand auf Ihr Herz oder Ihre Wange. Je nachdem, was geschehen ist, könnten Sie denken: „Möge ich frei sein von Leiden … mögen diese verletzten Gefühle vorübergehen…möge ich mich nicht so sehr sorgen… möge ich von dieser Krankheit genesen.“ Stellen Sie sich Mitgefühl als einen sanften warmen Regen vor, der auf Sie niederfällt, der die müden, schmerzenden, sehnsüchtigen Stellen im Inneren berührt und lindert.

Finden Sie Akzeptanz

Einst stiegen mein Freund und ich die East-Buttress-Route auf die Spitze des Mount Whitney*. Der Abstieg zurück zu unserem Zelt führte durch eine schneebedeckte Schlucht. Es war Oktober, der Schnee war zu Eis geworden und wir mussten uns sorgfältig und langsam fortbewegen. Es wurde dunkel und wir konnten nicht sehen, wo wir gingen. Um einen tödlichen Sturz zu vermeiden, beschlossen wir, die ganze Nacht über auf einem kleinen Felsvorsprung sitzen zu bleiben, eingehüllt in eine Rettungsdecke, mit den Füßen in unseren Tagesrucksäcken und zitternd bei eisigen Temperaturen.

Ich mochte es nicht, dort zu sein, aber ich musste der Realität unserer Situation ins Auge sehen. Sie zu leugnen oder gegen sie anzukämpfen hätte uns umbringen können. Oben auf diesem Berg musste die Sorge um mich selbst das Erkennen und Akzeptieren all dessen mit einschließen, was in meiner Umwelt wirklich passierte. Akzeptanz kann mit anderen Reaktionen einhergehen. Beispielsweise kann eine Person aufgrund einer Ungerechtigkeit aufgebracht sein und trotzdem akzeptieren, dass die Dinge sich so verhalten. Akzeptanz bedeutet nicht Bequemlichkeit oder Kapitulation. Wir können etwas akzeptieren, während wir zugleich versuchen, es besser zu machen.

Ich musste zudem akzeptieren, was in meinem Inneren geschah. Ich war müde, mir war kalt und ich machte mir Sorgen. So fühlte ich mich. Zu versuchen, diese Gefühle beiseite zu schieben, hätte einer bereits stressigen Situation nur noch mehr Stress hinzugefügt und mich noch schlechter fühlen lassen. Manchmal ist es geschickt, Gedanken und Gefühle in eine gesündere, glücklichere Richtung anzustoßen. Doch das funktioniert nur, wenn wir zuallererst einmal unsere Reaktion darauf akzeptieren. Ansonsten wird unser Anstoß nur wenig Zugkraft haben und wir verleugnen, was wir wirklich fühlen. Wenn wir nicht akzeptieren, wie es wirklich um uns steht, werden wir es nicht klar erkennen können, und wenn wir es nicht klar erkennen, werden wir schlechter in der Lage sein, damit umzugehen.

Das ganze Ich ist wie ein großes Haus, und nicht alle Anteile zu akzeptieren, die Sie ausmachen, gleicht dem Schließen einiger Räume darin: „Oh-oh nein, ich sollte nicht verletzlich wirken, besser ich verschließe diese Türe.“ – „Um Liebe zu bitten lies mich wie einen Narren aussehen, das will ich nie wieder, da schieb ich einen Riegel vor, das sperre ich lieber weg.“ – Ich begehe Fehler, wenn ich aufgeregt bin, so ist das mit der Leidenschaft, da werf ich lieber den Schlüssel weg.“ Wie wäre es, alle Türen in Ihrem Inneren zu öffnen? Sie können immer noch im Auge behalten, was sich in den verschiedenen Räumen befindet, und entscheiden, wie Sie handeln oder was Sie davon der Welt zeigen wollen. Zu akzeptieren, was in Ihrem Inneren steckt, verleiht Ihnen größeren Einfluss darüber, nicht weniger. Probieren Sie die Übung im Kasten aus, um Ihr Gefühl dafür zu vertiefen.


SELBSTAKZEPTANZ Schauen Sie sich um, und finden Sie etwas, das existiert – und akzeptieren Sie es. Erkennen Sie, wie es sich anfühlt, etwas zu akzeptieren.

Denken Sie an eine Freundin und an verschiedene Aspekte dieser Person. Erkunden Sie, wie es ist, diese Aspekte Ihrer Freundin zu akzeptieren. Sehen Sie, ob Sie infolgedessen eine Linderung, Öffnung und Ruhe spüren können.

Seien Sie sich Ihrer Erfahrung bewusst. Versuchen Sie, was auch immer Sie erfahren, zu akzeptieren, ohne ihm etwas hinzuzufügen. Können Sie die Empfindungen des Atmens, wie sie sind, akzeptieren? Wenn Urteile auftauchen, können Sie diese auch akzeptieren? Versuchen Sie, sich kurze Dinge zu sagen, wie „Ich akzeptiere diesen Gedanken“ oder „Ich akzeptiere diesen Schmerz“ oder „Ich akzeptiere, dass ich mich dankbar fühle – oder traurig“. Wenn es einen Widerstand gegen etwas gibt, können Sie diesen Widerstand akzeptieren? Wenn gewisse Teile Ihrer Erfahrung herausfordernd sind, erinnern Sie sich an das Gefühl, sich selbst beizustehen, und an das Gefühl des Selbstmitgefühls. Seien Sie sich der Akzeptanz als einer Erfahrung an sich bewusst, als einer Einstellung oder einer Ausrichtung auf Dinge, die etwas erkennt, ohne sich abzuwenden, die empfängt, ohne Widerstand zu leisten. Lassen Sie die Akzeptanz sich in Ihrem Inneren ausbreiten.

Seien Sie sich verschiedener Teile Ihrer selbst bewusst, jener, die Sie mögen, und jener, die Sie nicht mögen. Sie könnten einige davon benennen: „Es gibt einen Teil, der Süßigkeiten genießt einen Teil, der einsam ist … einen Teil, der kritisch ist … einen Teil, der sich jung fühlt … einen Teil, der Liebe will.“ Dann erkunden Sie, wie es ist, diese Anteile als Tatsache zu akzeptieren, und zwar indem Sie mit den leichteren beginnen. Wenn bestimmte Dinge schwer zu akzeptieren sind, ist es normal und in Ordnung, und Sie können später auf sie zurückkommen, wenn Sie möchten. Sie könnten sich selbst Dinge sagen wie: „Ich akzeptiere den Teil meiner selbst, der meine Kinder liebt … ich akzeptiere den Teil meiner selbst, der Geschirr im Spülbecken liegen lässt … ich akzeptiere den Teil meiner selbst, der in der Schule gehänselt wurde… ich akzeptiere den Teil meiner selbst, der nachtragend ist.“ Akzeptanz könnte sich anfühlen, als wenn innerlich in Ihnen etwas weicher wird, sanfter, wie ein Sich-Öffnen und ein Einbeziehen verschiedener Teil Ihrer selbst. Sie könnten Ihre Arme um sich selbst legen und alles, was zu ihnen gehört umarmen. Sinken Sie in Selbstakzeptanz ein, so wie diese in Sie einsinkt.

Erfreuen Sie sich am Leben

Wenn ein Arzneimittelhersteller Freude patentieren könnte, gäbe es jeden Abend im Fernsehen Werbespots dafür. Angenehme Erfahrungen – wie etwa eine Katze zu streicheln, Wasser zu trinken, wenn Sie durstig sind, oder eine Freundin anlächeln – verringern Stresshormone, kräftigen das Immunsystem und helfen Ihnen, sich wieder bequem zurückzulehnen, wenn Sie frustriert oder besorgt gewesen sind.

Durch Freude erhöht sich auch die Aktivität zentraler neurochemischer Botenstoffe, einschließlich Dopamin, Norepinephrin (= Noradrenalin, A.d.Ü.) und natürlicher Opioide. Tief im Inneren des Gehirns benutzen Schaltkreise in den Basalganglien ansteigendes Dopamin, um jenen Handlungen Priorität einzuräumen, die sich belohnend anfühlen und sie anzustreben. Wenn Sie im Hinblick auf bestimmte Dinge motivierter sein möchten – wie etwa sich darin zu üben, gesunde Lebensmittel zu essen oder ein schwieriges Projekt bei der Arbeit voranzubringen –, dann wird das Sich-Fokussieren auf das, was an dem Vorhaben erfreulich oder angenehm ist, Sie auf natürliche Art und Weise dazu bringen, es zu verwirklichen. Norepinephrin hilft Ihnen, aufmerksam und engagiert zu bleiben. Bei einer langweiligen Nachmittagsbesprechung etwas zu finden, irgendetwas, was angenehm daran ist, wird sie wach halten und effektiver machen. Natürliche Opioide, einschließlich der Endorphine, beruhigen Ihren Körper, wenn Sie gestresst sind, und verringern physischen und emotionalen Schmerz.

Zusammen sorgen Dopamin und Norepinephrin dafür, Erfahrungen zu „bewahren“, indem sie ihre Konsolidierung/Verfestigung als beständige Ressource in Ihrem Gehirn erhöhen. Angenommen, Sie möchten zu Hause oder bei der Arbeit geduldiger sein. Um diese innere Stärke zu entwickeln, halten Sie nach Gelegenheiten Ausschau, in denen Sie Geduld erfahren können. Dann fokussieren Sie sich auf das, was immer daran angenehm ist, wie etwa auf das Gefühl, wie gut es sich anfühlt, ruhig und entspannt zu bleiben. Eine Erfahrung der Geduld oder jeder anderen psychologischen Ressource ist ein Geisteszustand, und ihn zu genießen hilft, ihn in eine positive, in Ihr Gehirn eingebettete Eigenschaft zu verwandeln.

Sich am Leben zu erfreuen ist eine wirkungsvolle Art und Weise, sich um sich selbst zu kümmern. Denken Sie an einige Dinge, die Sie genießen. Für mich schließen sie den duftenden Kaffee, das Sprechen mit meinen Kindern und die Beobachtung eines Grashalms, der durch die Spalte in einem Gehweg emporwächst, mit ein. Was steht auf Ihrer eigenen Liste? Nicht so sehr die umwerfenden Momente, sondern die kleinen realen Gelegenheiten, um sich selbst im härtesten Leben an der Gegenwart zu erfreuen: vielleicht sich mit jemandem vertraut zu fühlen, sich zu entspannen, wenn Sie ausatmen, oder am Ende eines langen, harten Tages in den Schlaf zu gleiten. Und unabhängig davon, was um sie herum vor sich geht, können Sie immer etwas finden, an dem Sie sich im Inneren Ihres eigenen Geistes erfreuen: vielleicht an einem heimlichen Witz, einer vorgestellten Erfahrung oder an der Erkenntnis Ihrer eigenen Warmherzigkeit.

Diese kleinen Möglichkeiten, das Leben, das Sie haben, zu genießen, enthalten eine große Lektion. Es sind meistens die kleinen Dinge, die sich im Laufe der Zeit anhäufen, die den großen Unterschied ausmachen. Es gibt ein Sprichwort in Tibet: „Wenn du auf die Minuten Acht gibst, werden die Jahre auf sich selbst Acht geben.“

Was ist die wichtigste Minute im Leben? Ich denke, es ist die nächste. Es gibt nichts, das wir hinsichtlich der Vergangenheit tun können, und wir haben nur begrenzten Einfluss auf die kommenden Stunden und Tage. Doch die nächste Minute – Minute für Minute für Minute – steckt stets voller Möglichkeiten. Gibt es Gelegenheiten, bei denen Sie sich selbst beistehen, sich um Ihren Schmerz kümmern, sich akzeptieren und sich an dem erfreuen können, wozu Sie in der Lage sind? Gibt es etwas, das Sie heilen können, etwas, das Sie lernen können?

Minute für Minute, Schritt für Schritt, Stärke um Stärke, Sie können stets mehr des Guten in Ihrem Inneren entwickeln. Ihnen selbst zuliebe und genauso den anderen zuliebe.

Schlüsselpunkte

• Mitgefühl umfasst die warmherzige Sorge um das Leiden und den Wunsch, es zu lindern, wenn es möglich ist. Mitgefühl kann man sowohl anderen als auch sich selbst entgegenbringen.

• Mitgefühl ist eine psychologische Ressource – eine innere Stärke –, die mit der Zeit entwickelt werden kann. Wir entwickeln innere Stärken, indem wir sie erleben. Dies führt zu dauerhaften Veränderungen im Nervensystem.

• Sich selbst beizustehen und sich um seinen Schmerz zu kümmern wird Sie resilienter, zuversichtlicher und leistungsfähiger machen. Gut zu sich selbst zu sein ist auch für andere gut.

• Dinge zu akzeptieren, wie sie sind – einschließlich Ihrer selbst – hilft Ihnen, mit ihnen effizienter umzugehen und ihnen weniger Widerstand und Stress entgegenzusetzen.

• Freudige, angenehme Momente bereichern jeden Tag. Sie verringern zudem Stress, verbinden Sie mit anderen Menschen und – der dauerhafte Vorteil – steigern Ihr Lernvermögen aus den Erfahrungen, die Sie machen.

• Kleine Dinge summieren sich mit der Zeit. Viele Male am Tag können Sie Ihr Gehirn zum Besseren verändern.

* Auf Deutsch etwa: „Durch alle Dinge geht ein Riss / So kommt das Licht hinein.“, A.d.Ü.

* Der Mount Whitney ist ein 4421 m hoher Berg in Kalifornien und der höchste Berg der USA außerhalb Alaskas, A.d.Ü.

Das resiliente Gehirn

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