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Einleitung Antike

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Die Fundamente unseres Politikdenkens wurden von den alten Griechen gelegt, die im Rahmen der antiken Polis erstmals in der Weltgeschichte die Selbstbestimmung und -verwaltung autarker Bürgerschaften unter Mitwirkung breiter Schichten der Bevölkerung praktizierten und im fünften und vierten vorchristlichen Jahrhundert direkte oder unmittelbare Demokratien realisierten.1 Die von ihnen erfundene Politik basierte auf der Trennung des Öffentlichen vom Privaten, auf der Abdrängung der wirtschaftlichen Angelegenheiten in die Privatsphäre der Familien und auf der Verselbstständigung und Auslagerung eines spezifischen Handlungsfeldes aus dem natürlichen Lebenszusammenhang. Ihr Ziel und Zweck (telos) war die – als Selbstzweck gedachte – Interaktion der freien Bürger, das Miteinander-Reden und Handeln, der geregelte Streit, die Verfolgung gemeinsamer Ziele durch kollektives Handeln, die Konstitution und Organisation familienübergreifender Kollektive und ihrer Beziehungen zueinander. Ihr Resultat war die historisch einmalige Organisation von Bürgergemeinden (Poleis), von staatsfreien Verbands- und Handlungseinheiten, die über den Familien und den natürlichen Abstammungs- und Kultgemeinschaften, den Phylen und Phratrien, angesiedelt waren, wirtschaftlich und politisch unabhängig waren und von der Gesamtheit aller freien Bürger (männlichen Geschlechts) konstituiert und verwaltet wurden. Folge der Entstehung der Polis und des Politischen war die Durchbrechung der altaristokratischen Kette von Schuld und Sühne, Hass und Gewalt, Rache und Gegenrache, die Eindämmung der Fehden und die Zivilisierung der Menschen, die in der Politik einen friedlichen und rationalen Umgang miteinander erlernten.2

Infolge der Erfindung des Politischen bildete sich für die freien Bürger eine Art Doppelleben aus: Neben oder oberhalb des „häuslichen“ Lebens entwickelte sich das „politische“ Leben. Im Haus, im eigenen Oikos, sorgte jeder für sich und seine Familie, in der Polis hingegen für das Wohl der Stadt und für die Interessen der Gesamtheit. Mit den wirtschaftlichen Belangen wurde zugleich die Herrschaft in den Oikos verlagert. Die Politik ereignete sich im Zusammentreffen Freier und Gleicher, die durch keinerlei Befehls-Gehorsams-Beziehungen miteinander verbunden waren. Diese hatten ihren Ort in der vorpolitischen Sphäre der Familie, im Oikos, der alles umfasste, was zum antiken „Haushalt“ gehörte. Hier herrschten die Hausvorsteher als Despoten über ihre Frauen, Kinder und Sklaven.3 Der politische Bereich hingegen wurde von freien und rechtlich gleichgestellten Bürgern konstituiert. Voraussetzung dafür und für das Engagement breiter Bürgerschichten war die Existenz von Sklaven, die für die Subsistenz zu sorgen hatten. Funktionsbedingung der Polis und der Politik war ferner der Ausschluss von ortsansässigen Fremden (Metöken) sowie von Frauen, denen jegliches Bürgerrecht verweigert wurde. Frauen hatten – als Mädchen, Gattinnen und Mütter – ihre Pflichten im Oikos zu erfüllen. Sie wurden von allen öffentlichen Plätzen und Angelegenheiten ferngehalten.

Mit den Reformen des Kleisthenes (508/7 v. Chr.) wurde in Athen – und in der Folge in zahlreichen weiteren griechischen Gemeinwesen – die Aristokratie entmachtet, allgemeine Rechtsgleichheit (Isonomie) als Vorstufe der Demokratie und eine auf der Partizipation aller freien Bürger basierende politische Ordnung institutionalisiert. Der alte Adel verlor seine Vorherrschaft und musste sich fortan mit den unteren Volksschichten auseinandersetzen und arrangieren. Die politische Macht (kratos) geriet in die Hände des „gemeinen Volkes“ (demos), das seine erlangte Freiheit zur politischen Selbstbestimmung, zur öffentlich-diskursiven Willensbildung, zur strengen Kontrolle und zeitlichen Begrenzung der durch Los besetzten Ämter und zur kollektiven Verwirklichung gemeinwohldienlicher Projekte nutzte.4 Zwar existierte die alte, vom Adel dominierte Ordnung zunächst neben der neuen fort, doch wurden ihr wichtige Funktionen entzogen. Der Areopag, der alte Adelsrat, blieb zuständig für die Blutgerichtsbarkeit und für die Aufsicht über die Beamten, doch verlor er auch diese Rolle noch, als ihn die Bürgerschaft unter Führung des Ephialtes 462/61 v. Chr. gänzlich entmachtete, zahlreiche Areopagiten ermordete oder verjagte und in der Folge alle Ämter demokratisch besetzte und kontrollierte. Künftig wurden alle Entscheidungen in der Volksversammlung getroffen, die nun alleine die Oberhoheit ausübte. Durch den Sturz des Areopags wurde der Weg frei zu einer radikalen Demokratie, die in der Zeit des Perikles ihre größten Triumphe feierte und eine kulturelle Blüte ermöglichte, die späteren Zeiten als nie wieder erreichtes Vorbild erschien. Die Gestaltung des Gemeinschaftslebens wurde zur Aufgabe und Pflicht aller Bürger, die ferner an der Selbstverwaltung partizipieren mussten und ihren Beitrag zur Schaffung von Ordnung zu leisten hatten. Durch das Losprinzip und durch die Begrenzung der Amtsdauer wurde gesichert, dass möglichst viele Bürger mindestens einmal im Leben ein politisches Amt übernehmen konnten oder mussten.5

War die Polis einerseits ein Ort der Entspannung und des Zeitvertreibs, der Eintracht und des „ewigen Gespräches“, so war sie andererseits eine Stätte des Streits und der erzwungenen Dienstleistung. Anstatt dem Bürger Freiheits- und Rückzugsrechte zu gewähren, verpflichtete sie ihn zu den unterschiedlichsten Aktivitäten und nahm ihn vollauf in Dienst.6 Wer sich dem politischen Leben verweigerte, verlor seine Bürgerrechte, wurde als „Idiot“, als Eigenbrötler betrachtet und aus der Gemeinschaft ausgeschlossen.7 Trotz (oder wegen?) dieser Militanz wurde das politische Engagement im fünften vorchristlichen Jahrhundert in Athen zum Lebensmittelpunkt der freien Bürger männlichen Geschlechts.8 Infolge des Ionischen Aufstandes (500-494 v. Chr.) und der Perserkriege (490-479 v. Chr.) festigte sich die Bürgeridentität. Die Politik avancierte zu einem eigenständigen und autonomen Betätigungsfeld, dem eine höhere Dignität zugesprochen wurde als der Sphäre der materiellen Produktion und Reproduktion, der Akkumulation und Konsumtion von Reichtum und Besitz. Allerdings entwickelten die Athener zugleich einen ungezügelten, von keiner humanistischen Moral gebremsten Machtinstinkt, der sie zu einer rücksichtslosen Politik gegenüber ihren Partnern im Attischen Seebund verleitete. Dadurch kam es zum Bruch mit Sparta, der den mörderischen Bruderkrieg zwischen beiden Städten auslöste und den Niedergang der demokratischen Polis einleitete.

Im Verlauf des Peloponnesischen Krieges (431-404 v. Chr.) verbreitete sich eine allgemeine Unsicherheit über die Umgangsformen und die Institutionen der athenischen Polis. Die seitherigen Gepflogenheiten des politischen Lebens, die lange Zeit nicht weiter hinterfragten Selbstverständlichkeiten, die eingespielten Gewohnheiten, selbst die geltenden Gesetze (nomoi) wurden infrage gestellt und relativiert. Um 430 v. Chr. grassierte in Athen die Pest, der auch Perikles (ca. 500-429 v. Chr.) zum Opfer fiel. Seine Rolle als „Volksführer“ übernahmen Epigonen – von Kleon über Kritias bis Alkibiades –, die weniger das Wohl der Bürgerschaft als ihre eigenen Machtinteressen im Auge hatten. Ergebnis war die Zerrüttung der Polis und die schließliche Niederlage Athens gegen Sparta. Das Vertrauen in die integrierende und ausgleichende Kraft des demokratisch herbeigeführten Gesetzes schwand. Die frühere Geltung und Bedeutung der Polis war erschüttert. Eine allgemeine „Politikverdrossenheit“ breitete sich aus. Die Bürger zweifelten am Sinn und Zweck der politischen Beteiligung. Innerhalb von nur acht Jahren erlebte Athen eine viermalige Verfassungsänderung, die den ohnehin bereits virulenten Zweifeln an der „Natürlichkeit“ des Gesetzes (nomos) Auftrieb und neue Nahrung gab. 411/10 v. Chr. wurde die Demokratie beseitigt und mit dem Rat der Vierhundert eine Oligarchie errichtet. Dieser folgte zwar die Restitution der Demokratie, die aber mit der Kapitulation Athens (404 v. Chr.) der Tyrannis der Dreißig und der Zehn wich, bis schließlich 403 v. Chr. das Volk wieder die Macht ergriff und alles durch von ihm dominierte Abstimmungen und Gerichtshöfe verwaltete. Zwar wurde die Demokratie damit wiederhergestellt, doch wollte alsbald keiner mehr in die Volksversammlung gehen, weshalb man nach dem Zeugnis des Aristoteles „alle möglichen Listen“ ersann, „um die Menge zur beschließenden Abstimmung zu locken“.9 So führte man wieder Diäten für die Übernahme von Mandaten und 392 v. Chr. endlich ein Tagegeld für den Besuch der Volksversammlung ein, das zunächst einen Obolus betrug, alsbald aber auf zwei und schließlich auf drei Obolen erhöht wurde.

Damit waren aber die Ursachen der Krise und des schwindenden Engagements nicht beseitigt, sondern nur die Symptome angegangen worden. Die Philosophie konnte sich mit solch oberflächlichen Heilmethoden nicht begnügen. Sie musste gründlichere Untersuchungen anstellen, sich über den Sinn und Zweck des individuellen und politischen Lebens verständigen, die Ursachen des Unfriedens und des Sittenverfalls analysieren und die potenziellen Gegenmittel thematisieren. Welche Tugenden und Institutionen waren nötig, um das städtische Leben in vernünftige Bahnen zurückzulenken? Welche Lebensweise, welche Umgangsformen, welche Sitten und Normen waren erforderlich, um zu Frieden und Eintracht zurückzufinden? Wie konnte man sie hervor- und den Menschen nahebringen? Sind Werte und Normen überhaupt lehrbar? Kann man die Bürger zu einem tugendhaften und vernünftigen Leben erziehen? Was ist der Mensch, was ist seine Bestimmung? Welches sind die Institutionen einer wohlgeordneten Polis? Wie werden sie hervorgebracht und vor dem Zerfall geschützt? – Mit diesen Fragen hatten sich nunmehr die Weisen auseinanderzusetzen. Sie stehen im Zentrum der politischen Philosophie der Sophisten sowie ihrer Gegner und Kritiker Sokrates, Platon und Aristoteles. Unzufrieden mit den Verhältnissen in der Stadt, zweifelnd an den überkommenen Sitten, machten sich die Intellektuellen auf die Suche nach dem Bild einer besseren Polis, nach einem neuen Paradigma für die Politik. Dabei entwickelten sie politikphilosophische Einsichten, die für die Folgezeit mustergültig wurden und auch heute noch die Demokratietheorie stimulieren.

Drei Fragenkomplexe schälten sich als besonders dringlich heraus: 1. Wie konnte man einen Maßstab finden, mit dessen Hilfe sich die Wissensbestände (epistéme) ordnen und stabilisieren, mit dem sich wahre Erkenntnisse von bloßen Meinungen (dóxa) unterscheiden ließen? 2. Welche pädagogischen Vorkehrungen konnte man treffen, um die Menschen zu einem tugendhaften Handeln und zur politischen Beteiligung zu motivieren, sie zu Sittlichkeit und Anstand zu erziehen und zu einem glücklichen und zufriedenen Leben zu befähigen? 3. Welche Institutionen waren erforderlich, um den Frieden zu sichern, die Polis zu restituieren und vor dem Zerfall zu schützen?

Die griechische Philosophie, die zu Beginn des 6. Jahrhunderts in Ionien entstand, hatte sich ursprünglich mit dem Kosmos und der Natur und nur indirekt mit den Problemen des menschlichen Zusammenlebens beschäftigt. Kritische Reflexionen auf die soziale und politische Lage blieben zunächst der Lyrik und der Tragödie vorbehalten.10 Die ersten Philosophen, die sich eingehend mit den menschlichen und den politischen Angelegenheiten befassten, waren die Sophisten (Protagoras, Gorgias u.a.), denen die Kontingenz und Veränderbarkeit der Verfassungen und Gesetze bereits früh bewusst und zum zentralen theoretischen Problem wurde. Sie waren in der Regel Anhänger der Demokratie und überzeugt davon, dass sich „Tugend“ oder „Tüchtigkeit“ (areté) lehren lasse. Sie zogen deshalb als Lehrer durch die Lande, um den Kindern wohlhabender Familien gegen Entgelt die Prinzipien eines gelingenden, eines ehrenhaften und erfolgreichen Lebens beizubringen, sie in Rhetorik und praktischer Klugheit (phronesis) auszubilden, damit sie sich sowohl in den eigenen Angelegenheiten als auch im öffentlichen Leben bewähren, ihr Haus möglichst gut verwalten und in den Belangen der Stadt mithandeln und mitreden konnten (vgl. Platon: Protagoras 319 a). Ihr Ziel war es, ihren Schülern angesichts der Unwägbarkeiten der politischen Praxis einen neuen Lebenssinn und eine neue Orientierung zu vermitteln. Leider sind ihre Schriften verschollen und nur wenige Fragmente (vor allem durch ihren Kritiker Platon) überliefert.

Als ihr philosophischer Gegner profilierte sich Sokrates (469-399 v. Chr.), der den Wahrheits- und Werterelativismus der Sophisten attackierte und sich bemühte, die sophistische Kunst und Rhetorik als Dilettantismus, als sinnloses und leerlaufendes Können zu entlarven. Auch er hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die jungen Leute zum Nachdenken über die Prinzipien des guten Lebens zu inspirieren. Anders als seine philosophischen Rivalen ließ er sich dafür aber nicht entlohnen und erhob keinen Anspruch, sie zu erfolgreichen Praktikern zu erziehen. Vielmehr wollte er sie den Alltäglichkeiten gerade entfremden, indem er sie zu kritischen Reflexionen über die Grundsätze der Ethik und der Politik und über die Voraussetzungen und Formen einer rationalen Lebensführung anhielt. Er pflegte auf dem Marktplatz zu disputieren und seine Mitbürger zum Nachdenken über ihre Pflichten in den unterschiedlichsten Situationen anzuregen. Von ihm lernten sie, ihre vorgefassten Meinungen zu hinterfragen und alle eingespielten Selbstverständlichkeiten des praktischen Lebens in Zweifel zu ziehen. Von ihm erfuhren sie, dass Tugend und Anstand, dass Sittlichkeit nicht lehrbar sei, dass jeder Einzelne sie für sich selbst erringen müsse durch die bedingungslose Hingabe an die Liebe zum Wissen (philo sophia), durch eigene Erfahrung und durch die unermüdliche Suche nach dem Guten, Wahren, Richtigen und Schönen. Am Ende wurde er jedoch gerade von der demokratischen Polis wegen Missachtung der Götter und Verführung der Jugend angeklagt und 399 v. Chr. zum Tode verurteilt.

Während sich Sokrates mit mündlichen Diskussionen begnügte, brachten seine Schüler die Gedanken ihres Lehrers und ihre eigenen zu Pergament. Der bedeutendste unter ihnen war Platon (427/29-347 v. Chr.), dem wir das erste umfassende philosophische System und die entscheidenden Anstöße für die künftige Philosophie verdanken. Ihm gelang es, das gesamte Wissen seiner Zeit und die Erkenntnisse seiner Vorgänger zu synthetisieren bzw. zu kritisieren. Dies leistete er nicht nur für die theoretische, sondern auch für die praktische Philosophie, in der sich die Erfahrungen der antiken Demokratie und ihre einstigen Kämpfe, Erfolge und Missgeschicke reflektierten. Er wurde zum Anreger und Ideengeber aller nachfolgenden Philosophen, die – nach einem Wort von Alfred Whitehead – nur einen großen Appendix zum Corpus Platonicum geschrieben haben. Sein bedeutendster Schüler war Aristoteles (384-322 v. Chr.), der auf dem von ihm geebneten Weg weiter ging und die Einsichten seines Lehrers präzisierte und gegebenenfalls korrigierte.11

Im Gegensatz zu den Sophisten waren Sokrates, Platon und Aristoteles keine Anhänger der Demokratie, wie sie in Attika praktiziert wurde. Diese erschien ihnen vielmehr als Verfalls- und Entartungsform des Politischen, die sie für die politische Katastrophe, die Niederlage Athens und den Verfall der Polis, verantwortlich machten. Bereits Sokrates hielt sich von den politischen Tagesgeschäften fern, weil in ihnen die strenge Respektierung der moralischen Gesetze unmöglich war (vgl. Platon: Die Apologie des Sokrates, 31 C f.). Auch Platon und seine Schüler zogen sich enttäuscht aus der politischen Arena zurück und verlegten sich auf die geistige Arbeit in ihrer Akademie. Da Aristoteles kein Athener, sondern Metöke war, hatte er kein Bürgerrecht und konnte folglich seine ganze Kraft der philosophischen Praxis widmen. Die Distanzierung von den konkreten politischen Vorgängen und Entscheidungen ermöglichte es ihnen, grundsätzliche Reflexionen anzustellen und bleibende Einsichten in das Wesen der Politik zu gewinnen. Zwar partizipierten sie selbst nicht am politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess, doch wurden sie nicht müde, ihren Landsleuten den Sinn und Zweck und die Notwendigkeit der politischen Beteiligung zu demonstrieren. Ihr großes Ziel war die Wiederaufrichtung der daniederliegenden athenischen Polis auf einer erneuerten sittlichen Basis.

Doch nicht allein die Philosophen, auch die griechischen Tragödiendichter (Aischylos, Sophokles, Euripides) und Geschichtsschreiber (Herodot, Thukydides) befassten sich mit den jeweils aktuellen Fragen und den prinzipiellen Schwierigkeiten der Politik, den unterschiedlichen Verfassungen und ihrer Wirkung auf die Lebensführung der Bürger. So erörtert Herodot in der berühmten „Verfassungsdebatte“ der Historien die Stärken und Schwächen, Gefahren und Gebrechen der Demokratie. Er lässt Befürworter und Gegner derselben zu Worte kommen und die Vor- und Nachteile der drei möglichen Regierungsformen – Monarchie, Aristokratie/Oligarchie und Demokratie – erstmals in aller Offenheit abwägen. Mit ihm beginnt deshalb die folgende Präsentation und Interpretation „klassischer“ demokratietheoretischer Texte. Ihm folgt die berühmte „Leichenrede“ des Perikles, die Thukydides in seiner monumentalen Geschichte des Peloponnesischen Krieges überliefert hat. Anlässlich der Begräbnisfeier für die ersten Gefallenen des mörderischen Bruderkrieges gegen Sparta erörtert Perikles die Besonderheit der in Athen garantierten Freiheit und das Funktionieren der Demokratie. Sie sei charakterisiert durch die Trennung des Öffentlichen vom Privaten und durch ein breites und mächtiges Bürgerengagement. Im nachfolgenden Auszug aus Platons politikphilosophischem Hauptwerk, der Politeia, wird untersucht, wie die Demokratie entsteht, wie sie beschaffen ist und welche Charaktereigenschaften die in ihr agierenden Bürger entwickeln. Die dabei gewonnenen Einsichten veranlassen Platon zu einer sehr grundlegenden Demokratiekritik. Im Anschluss an Platon hat Aristoteles die von seinem Lehrer aufgeworfenen Fragen weiter verfolgt, seine Antworten kritisch geprüft und in der Politik die Eigenart der unterschiedlichen Verfassungen genauer erörtert. Auch Aristoteles zählt die Demokratie zu den schlechten Verfassungen. Allerdings führt er mit der Politie auch eine als positiv zu bewertende Form der Herrschaft der Vielen ein, die für die Geschichte des demokratischen Denkens sehr einflussreich werden sollte.

Verglichen mit den politischen und philosophischen Gründungsleistungen der Griechen blieb die politische Theorie und Praxis der Römer in der Zeit der Republik auf halbem Wege stecken. Sie vermochte sich nicht aus den Fesseln der aristokratischen Herrschaft und von den Selbstverständlichkeiten der Überlieferung, dem Brauchtum der Väter (mos maiorum), zu lösen. Die Demokratie hatte nie eine reelle Chance in Rom. Das politische Denken der Römer erschöpfte sich demgemäß in der Suche nach pragmatischen Lösungen für die oligarchischen Herrschaftskonflikte und fand diese gewöhnlich in geschichtlichen Exempla, in den vorbildlichen Haltungen und Aktivitäten der Vorfahren und Ahnen. Erst in der Krise der Republik setzten theoretische Reflexionen ein, die – animiert durch die Rezeption der griechischen Philosophie – neue Horizonte öffneten. Sie führten zu einer philosophischen Rückbesinnung auf die Grundsätze und Formen, Werte und Institutionen der republikanischen Praxis, die auf Rechtssicherheit und das Prinzip der Mischverfassung bedacht war und eine Ämterordnung geschaffen hatte, die späteren Zeiten als Vorbild diente und bedeutsam für die Entstehung und Entwicklung des europäischen und amerikanischen Staatensystems, für die Etablierung des bürgerlichen Rechtsstaates, die Machtkontrolle und die Verankerung einer Ämterlaufbahn in den heutigen repräsentativen Demokratien wurde. Der bedeutendste der römischen Denker war Cicero (106-43 v. Chr.), der sich im Anschluss an die mittlere Stoa (Panaitios, Poseidonios) und an die Historien des Polybios (ca. 200-ca. 120 v. Chr.) mit den Pflichten der Bürger (De officiis), mit den Gesetzen (De legibus) und mit den Existenzbedingungen des Gemeinwesens (De re publica) befasste.12 Seine Überlegungen zu den unterschiedlichen Verfassungen und speziell zur Republik sollen deshalb den Abschnitt über die griechisch-römische Antike beschließen.

Demokratietheorien

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