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Politeia (ca. 387 v. Chr.)

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10. Die Demokratie ist nun offenbar das nächste, was wir betrachten müssen: auf welche Weise sie entsteht und wie ihr Charakter beschaffen ist. Dann können wir auch den Charakter des entsprechenden Menschen kennenlernen und ihn neben die anderen stellen, um unser Urteil abzugeben. […]

Der Wandel von der Oligarchie zur Demokratie, sagte ich, ergibt sich doch aus der Unersättlichkeit des Verlangens nach dem, was man sich als höchstes Gut vorgesetzt hat, daß man nämlich möglichst reich werden müsse.

„Wieso denn?“

Die Regenten in der Oligarchie, glaube ich, regieren ja nur dank ihrem großen Vermögen. Deshalb sind sie nicht willens, durch ein Gesetz die jungen Leute, die ein zügelloses Leben führen, in Schranken zu halten; sie haben nichts dagegen, daß diese ihr Vermögen verschwenden und zugrunde richten. Sie selbst möchten den Besitz solcher Jünglinge aufkaufen oder Darlehen darauf geben und können so noch reicher und angesehener werden.

„Ja, das vor allem haben sie im Sinn.“

Das ist doch wohl klar, daß man in einer Stadt unmöglich den Reichtum ehren und zugleich Besonnenheit unter den Bürgern erlangen kann. Entweder das eine oder das andere muß man drangeben.

„Das ist ziemlich klar.“

Indem man sich also in den Oligarchien um die Zuchtlosigkeit nicht kümmert und sie einreißen läßt, werden bisweilen Menschen von gar nicht unedler Art in die Armut hineingedrängt.

„Ja, gewiß.“

Da sitzen sie denn in der Stadt, denke ich, mit Stacheln und Waffen versehen. Die einen haben Schulden, die anderen sind ihrer bürgerlichen Rechte verlustig gegangen, bei den dritten ist beides der Fall. Sie hassen die, welche nun ihr Vermögen in Besitz genommen haben, und stellen ihnen und auch den übrigen nach und sind auf Umsturz bedacht.

„So ist es.“

Die Geldmenschen aber ducken sich und tun so, als ob sie diese nicht sähen. Doch jeden von den übrigen jungen Leuten, der sich mit ihnen einläßt, schädigen sie, indem sie ihr Geld bei ihm anbringen. Indem sie dann Zinsen im vielfachen Betrag des verliehenen Kapitals einstreichen, machen sie die Zahl der Drohnen und Bettler in der Stadt immer größer.

„Natürlich, viel größer“, sagte er.

Und sie wollen diesen schlimmen Brand auch nicht löschen, fuhr ich fort. Weder schränken sie die Freiheit ein, daß jemand sein Vermögen nach Belieben verwenden kann, noch beseitigen sie diese Mißbräuche durch folgendes Gesetz.

„Durch welches denn?“

Durch das, das als zweites auf jenes folgen sollte und das die Bürger verpflichtet, sich um Tüchtigkeit zu kümmern. Wenn man nämlich die Vorschrift erließe, daß jeder seine freiwilligen Finanzgeschäfte in der Regel auf eigene Rechnung und Gefahr abschließen müsse, dann würden in der Stadt weniger schamlos Gewinne gemacht, und es käme dort auch weniger zu den schlimmen Zuständen, von denen wir eben sprachen.

„Ja, viel weniger“, versetzte er.

Jetzt aber, fuhr ich fort, bringen aus all diesen Gründen die Regenten ihre Untergebenen in der Stadt eben in diese üble Lage. Und was sie selbst und die Ihrigen betrifft, so gewöhnen sie ihre Söhne an Schwelgerei und machen sie zu jeder körperlichen und geistigen Anstrengung zu schlaff, um in Freuden und Schmerzen standhaft zu sein, und dem Müßiggang ergeben.

„Zweifellos.“

Sie selbst aber kümmern sich um nichts als um den Gelderwerb und bemühen sich ebensowenig um die Tüchtigkeit wie die Armen.

„Freilich nicht.“

Wenn nun Regenten und Regierte solcher Art miteinander in Berührung kommen, auf Reisen oder sonst bei gemeinsamen Anlässen, etwa bei Festgesandtschaften, oder wenn sie bei Feldzügen auf demselben Schiff sind oder im selben Heer dienen, oder wenn sie einander gar mitten in Gefahren beobachten, dann sind es durchaus nicht immer die Armen, die von den Reichen verachtet werden. Wenn dann manchmal so ein Armer, hager und sonnverbrannt, in der Schlacht neben einem Reichen steht, der im Schatten verweichlicht wurde und viel überflüssiges Fleisch mit sich trägt, und wenn er dann sieht, wie dieser außer Atem und völlig unbeholfen ist – meinst du nicht, daß er sich dann sagt, daß diese Leute ihren Reichtum nur der Feigheit der Armen verdanken? Und wenn sie dann unter sich allein sind, dann wird wohl der eine dem anderen zurufen: Diese Leute sind in unserer Hand; sie sind ja nichts wert. „Ja, ich weiß wohl, daß sie das tun“, sagte er.

Und wie es bei einem kränklichen Leib nur einen kleinen Anstoß von außen braucht, daß er wirklich krank wird, ja wie er manchmal sogar ohne äußere Einwirkung in sich selbst uneins wird, so geschieht es doch auch mit der Stadt, die sich in einem ähnlichen Zustand befindet: aus einem geringfügigen Anlaß, wenn etwa die eine Partei aus einer oligarchischen, oder die andere Partei aus einer demokratischen Stadt fremde Hilfe herbeiholt, wird sie krank und gerät in einen inneren Streit; manchmal wird sie sogar ohne äußere Einwirkung in sich uneins.

„Ja, gewiß.“

Nach meiner Ansicht entsteht also eine Demokratie, wenn die Armen die Oberhand gewinnen und dann ihre Gegner entweder umbringen oder verbannen und den Übrigbleibenden an der Verwaltung der Stadt und den Ämtern im gleichen Maße Anteil geben, wobei denn in der Regel die Ämter in der Demokratie durch das Los besetzt werden.

„Ja, das ist die Art, wie die Demokratie eingeführt wird“, sagte er, „mag das nun durch Waffengewalt geschehen, oder indem ihre Gegner aus Furcht das Feld räumen.“

11. Auf welche Weise leben nun diese Menschen? Und wie ist ferner eine solche Verfassung beschaffen? Denn offenbar wird sich der Mensch, der ihr entspricht, als der demokratische erweisen.

„Ja, offenbar“, sagte er.

Das erste ist doch wohl, daß sie selbst frei sind, daß die Stadt voll Freiheit und Redefreiheit ist, und daß jeder in ihr tun darf, was er will?

„So behauptet man wenigstens“, erwiderte er.

Wo das aber erlaubt ist, da wird sich doch offenbar jeder seine Lebensweise so gestalten, wie es ihm gefällt.

„Das ist klar.“

Unter einer solchen Verfassung, denke ich, wird sich also die größte Mannigfaltigkeit unter den Menschen finden.

„Ohne Zweifel.“

So wird dies wahrscheinlich die schönste von allen Verfassungen sein, fuhr ich fort. Gleich einem bunten Kleid, geziert mit allen Farben, so mag uns auch diese Stadt in der Buntheit aller ihrer Sitten sehr schön erscheinen. Und vermutlich, sagte ich, werden sie auch die meisten für die schönste erklären, wie die Kinder und Weiber, wenn sie etwas buntes sehen.

„Gewiß“, sagte er.

Und es ist auch bequem, du Glücklicher, sich in ihr eine Verfassung auszusuchen, fuhr ich fort.

„Wieso?“

Dank der Freiheit, die in ihr herrscht, enthält sie alle Arten von Verfassungen. Und wer eine Stadt gründen will, wie wir das vorhin taten, der braucht anscheinend nur in eine Demokratie zu gehen und sich dort, wie in einem Trödlerladen mit Verfassungen, das Modell auszusuchen, das ihm zusagt; hat er dann seine Wahl getroffen, so kann er seine Stadt einrichten.

„Vermutlich wäre er da um Muster nicht verlegen“, sagte er.

Daß aber so gar kein Zwang besteht, fuhr ich fort, in dieser Stadt ein Amt zu übernehmen, auch wenn du noch so geschickt dazu bist; daß dich auch niemand zwingt zu gehorchen, wenn du nicht willst; daß du nicht in den Krieg ziehen mußt, wenn Krieg geführt wird; daß du nicht Frieden zu halten brauchst, wenn die anderen ihn halten, falls du kein Bedürfnis nach Frieden hast, und daß du andererseits, wenn dir ein Gesetz verbietet, ein Amt zu bekleiden oder Richter zu sein, nichtsdestoweniger ein Amt bekleiden oder Recht sprechen kannst, wenn du dazu Lust hast – ist ein solches Leben für den Augenblick nicht göttlich und wonnevoll?

„Ja, vielleicht für den Augenblick“, erwiderte er.

Platon: Politeia VIII, 555a-557e. In: Ders.: Jubiläumsausgabe sämtlicher Werke. 8 Bde. Zürich/München 1974, Bd. IV: Der Staat. Übersetzt von Rudolf Rufener, S. 414-419. © Berlin: De Gruyter, 2011

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