Читать книгу Demokratietheorien - Rieke Trimcev - Страница 32

Interpretation

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Die politische Theorie und Praxis der Griechen fand seinerzeit keine Entsprechung in anderen Regionen. Gemessen an den Höhen, die das philosophische Denken mit Platon und Aristoteles erreichte, hatten die Römer nichts Ebenbürtiges aufzuweisen. Bürgerliche Selbstverwaltung durch Partizipation der unteren Volksschichten (plebs) war kein Thema. Die Demokratie stand zu keiner Zeit auf dem Programm. Die Republik war und blieb ein aristokratisch-oligarchisches Regime. Die Römer waren Praktiker und Pragmatiker. Sie orientierten sich an den Sitten der Väter (mores maiorum) und an geschichtlichen Vorbildern (exempla). Ihr Denken kreiste um die aristokratischen Techniken des Machterwerbs, der Machtverteilung, des Machteinsatzes und des Machterhaltes. Als Leitbilder dienten ihnen die großen Persönlichkeiten der Vergangenheit, die zu Heroen verklärt wurden. Zwar kam es in der Zeit der Ständekämpfe im 5. und 4. vorchristlichen Jahrhundert zur Erschütterung der oligarchischen Ordnung, doch gelang es den Plebejern nicht, sie abzuschütteln und den Bann der Tradition zu brechen. Sie mussten sich mit Kompromissen und mit Verbesserungen ihrer rechtlichen Stellung und ihrer materiellen Lage zufriedengeben. Eine grundsätzliche Änderung der Senatsaristokratie war weder intendiert noch möglich. Das römische Denken konnte folglich die Demokratietheorie kaum stimulieren, doch wurde die auf Rechtssicherheit bedachte republikanische Praxis bedeutsam für die Entstehung und Entwicklung des europäischen und amerikanischen Staatensystems, für die Genealogie des bürgerlichen Rechtsstaates und die Verankerung des „aristokratischen“ Elements, der elitären Machtstrukturen und des Ämterwesens, in der repräsentativ-demokratischen „Mischverfassung“.

Als wichtigster Beitrag Roms zur Entwicklung der europäischen Kultur wird gewöhnlich das Römische Recht und die mit ihm befasste Rechtswissenschaft angesehen. Mit ihrer Hilfe wurde im spätmittelalterlichen Europa die Trennung von Religion und Politik, die Verselbstständigung der weltlichen Herrschaft und die Befreiung des politischen Ordnungsdenkens aus der religiösen Umklammerung forciert. Darüber hinaus hatten die Römer in der Republik ein ausgetüfteltes System der checks and balances, der Gewaltenteilung und -verschränkung, institutionalisiert, das späteren Zeiten als Vorbild diente und die neuzeitliche Staatstheorie (von Machiavelli bis Montesquieu, von Thomas Jefferson bis Robespierre) inspirierte. Es wurde als Muster einer gelungenen Organisation von Regierung und Verwaltung betrachtet und auf den neuzeitlichen Staat übertragen. Nach dem Sturz des letzten Königs L.Tarquinius Superbus (509 v. Chr.) und der Vertreibung der Tarquinier aus Rom hatten die römischen Patrizier eine aristokratisch-oligarchische Ämterordnung und ein System der Machtbalance errichtet, das die Erstarkung einzelner Geschlechter oder Sippen und den Rückfall in monarchische bzw. tyrannische Herrschaftsformen verhindern sollte. Die politische Ordnung der Republik resultierte aus dem Zusammenspiel von Senat, Magistrat und Volksversammlung. Die Macht lag beim Senat, der die ehemaligen Kompetenzen des Monarchen bei sich konzentrierte und kooperativ organisierte. Die in ihm versammelten Patrizier praktizierten ein Rotationsprinzip, das den jährlichen Wechsel der Amtsinhaber garantierte. Der Magistrat (Konsuln, Prätoren, Zensoren, kurulische Ädilen, Quästoren) wurde beraten und beaufsichtigt vom Senat, dessen Ratschläge bindend waren. Die oberste Jahresmagistratur (Konsulat) wurde geteilt, die Entscheidungsgewalt an zwei Amtsinhaber vergeben, von denen seit 367 v. Chr. einer Plebejer sein durfte, der andere Patrizier sein musste. Konsuln und Prätoren verfügten – wie die in Krisenzeiten eingesetzten Diktatoren – über eine unbeschränkte Amtsgewalt, während die anderen Beamten nur eine beschränkte innehatten. Das Volk, die nicht-aristokratischen freien Bürger konnten ihren Willen nur in der Kurienversammlung artikulieren, die von den Patriziern dominiert und kontrolliert wurde. Erst infolge der Ständekämpfe wurden die Mitspracherechte der Plebs erweitert und neue Arten der Volksversammlung geschaffen. Dennoch blieb die Verfassung der Republik die einer Oligarchie. Die Macht kam nach den Ständekämpfen in die Hände der neuen patrizisch-plebejischen Nobilität. Die Mitwirkung des Volkes bei der Rechtsprechung und Gesetzgebung entpuppte sich als Schein, die politischen Entscheidungen wurden durch Absprachen der Nobiles untereinander getroffen.

Solange dieses System ohne allzu große Reibungen funktionierte, benötigte man keine Theorien, die das Handeln anleiteten. Erst in der Krise der Republik, als ihre Existenz infrage gestellt war, als mit Pompeius, Caesar und Octavian die Ära der Magnaten und die Rückkehr zur Alleinherrschaft einzelner Männer begann, wurden theoretische Reflexionen unternommen, die sich um die Rettung und Stabilisierung der bedrohten Ordnung bemühten und den Übergang in die Monarchie des Imperium Romanum zu verhindern suchten. Dabei half die Rezeption der griechischen Philosophie, mit der die Römer im Zuge ihrer Eroberungen in Berührung kamen. Im Spiegel des ganz anders gearteten Denkens der Griechen verlor die römische Überlieferung ihre Selbstverständlichkeit. Sie wurde verfremdet und reflexiv. Traditionsfixierte Römer wie der ältere Cato wehrten sich deshalb vehement gegen die drohende Überfremdung der römischen Kultur. Angesichts des unaufhaltsamen Aufstiegs Roms zur Weltmacht erwiesen sich vor allem die hellenistischen Herrschaftstheorien als adäquater Resonanzboden für die erforderlichen theoretischen Bemühungen. War doch hier längst von der Existenz autonomer Poleis und vom Engagement der sich selbstbestimmenden Bürgerschaft abstrahiert worden. Nicht die Klassiker des politischen Denkens, sondern ihre Nachfolger gelangten entsprechend zu Einfluss. Insbesondere die ethischen, anthropologischen und kosmopolitischen Spekulationen der mittleren Stoa (Panaitios, Poseidonios) konnten zu einem vertieften Verständnis der allgemeinen menschlichen Lage im entstehenden Imperium Romanum beitragen. Ihre Überlegungen zu den natürlichen und göttlichen Gesetzen, zu Gerechtigkeit und Wohlfahrt, Rechten und Pflichten des Bürgers, ihre Dekadenztheorie und Affektenlehre, ihre Konzeption des gerechten Krieges (bellum iustum) usw. konnten die Selbstverständigung der Römer stimulieren. Ferner konnten die geschichtstheoretischen Reflexionen des Polybios helfen, die Probleme der römischen Herrschaftsordnung besser zu verstehen. Seine Analysen zum Aufstieg Roms, seine Thesen zum Verfassungskreislauf, seine Auszeichnung der klassischen Republik als gelungene Verwirklichung einer Mischverfassung konnten bei der Erforschung der Krisenursachen und bei der Suche nach Auswegen aus der desolaten Lage helfen.

Doch auch die Hellenisierer gewannen nicht die erforderliche Distanz zur Tradition und schufen kein wirklich neues Orientierungssystem. Sowohl die Griechen selbst, die (über den „Scipionenkreis“) in Rom wirksam und bedeutsam wurden (Panaitios, Polybios, Poseidonios u. a.), als auch die von ihnen inspirierten Römer (Cicero, Sallust) blieben der alten republikanischen Ordnung verhaftet und kritisierten die schlechte Gegenwart am Maßstab der glorreichen Vergangenheit. Der bedeutendste römische Denker war Cicero (106-43 v. Chr.), der vor allem als Rhetor und Anwalt, aber auch als Politiker Karriere machte und schließlich in der Philosophie reüssierte. Zwar entwickelte er kaum neues Gedankengut, doch gelang ihm die Adaptation der griechischen Einsichten auf die römische Republik, die er im Anschluss an Polybios als adäquate Verwirklichung der von Aristoteles und den Peripatetikern begründeten Mischverfassung interpretierte und zur besten aller denkbaren Ordnungen stilisierte. Jeder Bürger hat demnach Anteil an der Regierungsgewalt – nach Maßgabe seiner Würde (dignitas). Die Konsuln verkörpern das monarchische, der Senat das aristokratische und die Volksversammlungen das demokratische Prinzip.

Das Mit- und Gegeneinander dieser drei Elemente auf der Basis eines allgemeinen Konsenses über das geltende Recht und das gemeine Wohl (consensus iuris et utilitatis communio) habe Rom zu seiner Blüte geführt [De re publica I, 26-29 (42-45)]. Die egoistischen Bestrebungen der Stände seit der Zeit der Gracchen (133-121 v. Chr.) hätten diese ideelle Grundlage jedoch zerstört und damit den Niedergang und Verfall der Republik eingeleitet, die nunmehr durch Bürgerkriege zerrissen war und im Begriff stand, über die Diktatur Caesars (48-44 v. Chr.) zur Monarchie überzugehen. Das Volk (populus) war nicht mehr durch die Anerkennung des Gesetzes und durch gemeinsame Interessen verbunden, hatte demnach aufgehört, als Volk im Sinne Ciceros zu existieren (siehe den Beginn des obigen Auszugs). Es hatte sich in Parteien und Faktionen zersplittert, die sich aufs heftigste bekämpften. Um den Zerfall der Republik aufzuhalten, beschwor Cicero noch einmal die aristokratischen „Bürger“-Tugenden, den Patriotismus und die Idee der Gerechtigkeit (iustitia). Er begriff die res publica als „Sache des Volkes“ (res populi) und rief zur Eintracht (concordia) und zum gesteigerten Bürgerengagement, zur Disziplin und zur Selbstaufopferung der Einzelnen fürs Gemeinwesen und fürs Vaterland (patria) auf.

Wie einst Platon und Aristoteles, so war auch Cicero kein Anhänger der Demokratie. Er war Verfechter der alten republikanischen Senats- und Optimatenherrschaft, die er als Herrschaft der Besten und Würdigsten begriff. Die Leitung des Gemeinwesens gebühre denen, die durch höhere Einsicht (consilium) und größere Tatkraft (animus) am besten dazu befähigt sind. Die Menschen sollen die ihnen jeweils auferlegten Pflichten erfüllen, wobei sich, wie schon die mittlere Stoa zu zeigen versuchte, der legitime Herrschaftsanspruch der „Besseren“ unmittelbar mit dem Nutzen der Schwachen verbindet [De re publica III, 24 (36)]. Ähnlich wie Sallust (86-35 v. Chr.) erklärte Cicero die Krise der Republik als Folge der nach Karthagos Niederlage einsetzenden moralischen Degeneration, der um sich greifenden Korruption und des damit verknüpften allgemeinen sittlichen Verfallsprozesses. Er bemühte sich deshalb um die Wiedergewinnung der alten Tugenden und Sitten.

Sein großes Ansehen gründete auf seiner Leistung als Rhetoriker, der in Rede und Gegenrede das Für und Wider der unterschiedlichen Auffassungen bedachte und deshalb auch in seinen philosophischen Schriften das Wahre und Richtige – wie zuvor Platon – in Gestalt von Dialogen zu ermitteln suchte. Diese Form ermöglichte es ihm (wie einst schon Herodot), Fürsprecher und Gegner der unterschiedlichen Verfassungen ihre Argumente vortragen zu lassen. Für die Rolle des Apologeten in der „Demokratenrede“ (siehe Auszüge) wählte er, um keinen noch Lebenden zu brüskieren, Scipio Aemilianus Africanus den Jüngeren († 129 v. Chr.), der einst Karthago (146 v. Chr.) und Numantia (133 v. Chr.) bezwungen hatte. Seine beiden – leider nur fragmentarisch überlieferten – politikphilosophischen Hauptwerke, De republica und De legibus, enthalten wertvolle Erläuterungen zum Funktionieren der republikanischen Ordnung und zu den Prinzipien und Techniken der oligarchischen Herrschaft, mit deren Hilfe die Plebs in Schach und von den Schalthebeln der Macht ferngehalten wurde. Ihr philosophischer Wert ist umstritten und wurde in jüngerer Zeit gelegentlich überschätzt.

Ciceros bleibende Leistung war, das römische Politikdenken auf neue, von den Griechen übernommene Grundlagen gestellt zu haben. Den Römern aber bleibt insgesamt das Verdienst, das Recht auf neue Art systematisiert und eine Ämterlaufbahn kreiert zu haben, die in der Nachwelt zahlreiche Bewunderer fand und in modifizierter Gestalt von den modernen Staaten übernommen wurde.

→ Dieser Beitrag ist digital auffindbar unter: DOI https://doi.org/10.46499/1651.2038

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