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Einleitung Mittelalter und Frühe Neuzeit

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Das Politikdenken der Antike erfuhr einen entscheidenden Bruch mit der Entstehung der großen Reiche, die der griechischen Ausnahme im Kontext der antiken Despotien ein Ende setzten und die autarken Städte absorbierten (Alexanderreich, Diadochenreiche, Römisches Reich). Die Bürger fanden sich nunmehr als Glieder großflächiger Einheiten wieder, die sich durch Unterjochung der kleinen Einheiten konstituierten und institutionell konsolidierten. Die Bürgerschaft wurde anonymisiert, ihre Einheit war nur noch mystisch erfahrbar. Die Angehörigen dieser Riesenreiche kannten sich nicht mehr, waren als Gesamtheit weder durch verwandtschaftliche oder ethnische noch durch politische oder religiöskultische Beziehungen miteinander verbunden, sondern einer ihnen unsichtbaren Macht ausgeliefert, deren Gewalt sie im Akt der Eroberung zu spüren bekommen hatten.

Demokratie war in diesen Imperien undenkbar. Die Städte und Provinzen waren zu Befehlsempfängern der Könige und ihrer Satrapen geworden. Ihre Organisation und Verwaltung lag in den Händen der privilegierten Schichten. Für diejenigen, die keinen Zugang in die Reichsverwaltung oder in den Militärapparat fanden, blieb zunächst nur das eigene Haus, die Familie, die durch Arbeit zu ernähren war. Politik im Sinne der Bürgerbeteiligung an den Entscheidungen der Polis hatte aufgehört zu existieren.

Philosophisch reflektiert sich diese Lage in individualistischen Rückzugskonzeptionen (Hedonismus, Kynismus, Epikureismus, Stoizismus) und in der Wiederbelebung der altorientalischen Reichsidee, der zufolge es die Aufgabe des Königs ist, als unbeschränkter „Herrscher“ (Dominus) Gesetze zu erlassen und ihre Einhaltung zu garantieren und als „guter Hirte“ (Pastor) seine „Herde“ auf den richtigen Weg zu führen. Die entpolitisierte, aus der Reichsgestaltung und -verwaltung ausgeschlossene Bürgerschaft suchte sich aber zugleich neue Sphären der sozialen Interaktion, Räume der Gemeinschaftsbildung, der politischen Betätigung und Selbstverwirklichung. Sie intensivierte die alten und entwickelte neue Formen der Religion und schuf sich dadurch einen Ersatz für die verlorene oder verweigerte Politik.1 Die Reichsverdrossenheit wurde in neuen Kooperationen kompensiert. Unterhalb des politisch-administrativen Apparates wurden neue Formen des Zusammenlebens erprobt, wurden neue Handlungsorientierungen gewonnen, wurde eine neue Sphäre kollektiver Rationalität geschaffen, die den eingetretenen Mangel an Erfahrungs- und Selbstbestimmungsmöglichkeiten ausgleichen und ihre Glieder über den erfahrenen Freiheits- und Sinnverlust hinwegtrösten konnte.

Den nötigen Raum boten im Römischen Reich insbesondere die urchristlichen Gemeinden, die sich durch die erfolgreiche Heidenmission des Apostels Paulus von Syrien über Kleinasien, Makedonien und schließlich das ganze Imperium Romanum bis nach Nordafrika ausbreiteten. In religionssoziologischer und religionspolitologischer Sicht erscheinen sie als Gegengründungen zum Imperium Romanum. In ihnen versammelten sich Menschen, die den sozialen und politischen Verhältnissen entfremdet waren, den wirtschaftlichen und rechtlichen, religiösen und kulturellen Ereignissen im Imperium distanziert gegenüberstanden und die politischen Geschehnisse ihrer Umgebung mit Argwohn betrachteten. Sie schlossen sich zu einer neuartigen Glaubensgemeinschaft zusammen und entwickelten darin neue Verhaltensorientierungen und Muster des Umgangs und der Geselligkeit. Allerdings trocknete auch diese Quelle neuer Sinnfindung alsbald aus. Mit der institutionellen Stabilisierung der christlichen Kirche seit der Mitte des 2. Jahrhunderts wurde auch in ihrem Inneren der Raum für intersubjektive Selbstverwirklichung eingeschränkt und schließlich beseitigt. Die Kirche, die sich stets als Gotteshaus, als Oikos definierte, brachte auch in ihrem Binnenraum Herrschaftsstrukturen hervor, die das soziale und politische Leben der Gemeinden korrumpierten und einen hierarchischen Apparat installierten, der nach und nach die Aktivität und Spontaneität der Gemeindemitglieder erstickte. Das fortdauernde Bedürfnis nach politischer Betätigung provozierte jedoch in der Folgezeit Abspaltungen und Neugründungen. Immer wieder rebellierten einzelne christliche Gruppen und Sekten gegen die Verknöcherung der Ekklesia. Das begann bereits in der Spätantike und wiederholte sich in der Geschichte immer wieder, bis die Universalkirche in der Frühen Neuzeit zerbrach.

Von Demokratie war über lange Zeit nicht mehr die Rede; die Politikdenker der Spätantike und des frühen Mittelalters hatten jedoch andere Probleme zu lösen. Sie schrieben Fürstenspiegel und erörterten das Verhältnis von weltlicher und geistlicher Gewalt. Im christlichen Abendland wurde nach der „Konstantinischen Wende“ (313 n. Chr.) die Vision eines universalen, die Welt umspannenden Reiches leitend, das durch das Miteinander von Kaiser- und Papsttum errichtet werden sollte. Erst infolge der Erschütterung dieser Vorstellung durch die beginnenden Kämpfe zwischen Imperium/Regnum und Sacerdotium und mit dem Aufstieg der oberitalienischen Städte im hohen und späten Mittelalter schien Demokratie wieder denk- und machbar. Die Kaiser sahen sich mit Königen und Fürsten konfrontiert, die in weltlichen Dingen keinen Höheren mehr anerkennen wollten und sich selbst als oberste Gesetzgeber und Richter ihrer Königreiche oder Fürstentümer begriffen. Hinzu kam das Bürgertum der aufstrebenden Städte, das in die laufenden Auseinandersetzungen hineingerissen wurde, für Autonomie und Mitbestimmung in den kommunalen Angelegenheiten kämpfte und sich gegen die Willkür der aristokratischen Mächte, aber auch gegen einzelne Monarchen wehrte. In diesen Auseinandersetzungen wurden die Grundlagen für die neuzeitliche Entwicklung gelegt. In den großen philosophischen Debatten des Spätmittelalters – Aristoteles-Rezeption, Armutsstreit, Universalienstreit – sind theoretische Klärungen erreicht worden, die für die künftige Philosophie bahnbrechend wurden.

Entscheidend für die Entstehung einer autonomen, der Definitionsmacht der Religion entronnenen politischen Theorie wurde die Aristoteles-Rezeption, die in der Mitte des 13. Jahrhunderts begann. Während Moses Maimonides (1135/38-1204) eine Synthese zwischen jüdischem und aristotelischem Denken erstrebte, die später von Baruch de Spinoza und Moses Mendelssohn (1729-1786) aufgegriffen wurde, gelang Thomas von Aquin (1225-1274) eine Synthese zwischen christlichem und aristotelischem Denken, die zum Ausgangspunkt für die späteren christlichen Aristoteliker Aegidius Romanus, Jean Quidort von Paris, Dante Alighieri, Marsilius von Padua, Wilhelm von Ockham u. a. wurde, die allesamt mit aristotelischen und christlichen Mitteln, rationaler Argumentation und Bibel-Zitaten ihre jeweiligen politischen Optionen begründeten. Zwar führte die Aristoteles-Rezeption nicht unmittelbar zum Postulat der Demokratie, vielmehr ließen sich die unterschiedlichsten Ordnungsvorstellungen in ihrem Gefolge begründen (Pluralität weltlicher Fürstentümer, päpstliche Weltherrschaft, Souveränität der französischen Monarchie, Weltkaisertum etc.), doch lag ihr Gedanke greifbar nahe. Einen ersten Durchbruch erreichte Marsilius von Padua (ca. 1275/80 bis ca. 1342), der die Wege zu einem möglichen Frieden untersuchte und die Chancen der städtischen Selbstverwaltung und der Partizipation der Bürger erörterte. Er begründete die Idee der Volkssouveränität und wurde dadurch zu einem Meilenstein der modernen Demokratietheorie. Mit ihm beginnt deshalb die folgende Präsentation.

Neue Ordnungsideen wurden im 14. und 15. Jahrhundert in Florenz entwickelt, das seine Unabhängigkeit gegen das hegemoniale Bestreben der Visconti verteidigen musste, die seit 1277 Mailand beherrschten, gegen Ende des 14. Jahrhunderts ein Königreich zu errichten strebten und die Autonomie der meisten Städte im Norden und vieler in Mittelitalien beendeten. Italien als Ganzes war seinerzeit durch Parteikämpfe zerrissen. Seit dem Ende der Staufer waren die italienischen Stadtrepubliken in permanente Kriege miteinander verstrickt, aus denen die Pentarchie der fünf großen Signorien oder Principati Florenz, Mailand, Venedig, Rom und Neapel hervorgegangen war. Italien wurde ferner zum Objekt der Begierde der um Vorherrschaft in Europa kämpfenden Großmächte. Die italienischen Städte mussten fürchten, in den Konflikten zwischen Habsburgern, Frankreich und Aragon zerrieben zu werden, und sich folglich nicht nur gegeneinander verteidigen, sondern auch gegen die drohende Fremdherrschaft zur Wehr setzen. Die Sehnsucht nach Frieden, nach Einigkeit und Freiheit Italiens veranlasste die dortigen Humanisten zu radikalen Reflexionen über die Conditio humana und trieb sie auf die Suche nach alternativen Formen der politischen Organisation, die sie – wieder einmal – in der glorreichen Vergangenheit, d. h. in der altrömischen Geschichte vorgebildet fanden. Im Bemühen um Abwehr der Fremdherrschaft und Aufrechterhaltung der republikanischen Ordnung aktualisierten die humanistischen Denker der Frührenaissance in Florenz die antike Partizipations- und Selbstverwaltungsidee.

In allen Feldern von Kunst und Wissenschaft wurde die griechisch-römische Antike zum Orientierungsmuster und gegen die Werte und Prinzipien der jüdisch-christlichen Tradition geltend gemacht. Durch Rückbesinnung auf die griechische Polis bzw. die römische Republik, d. h. auf Aristoteles und/oder Cicero, wurde der Florentiner Republikanismus oder Bürgerhumanismus (Hans Baron) begründet, der die antiken Bürgertugenden beschwor und das Ideal einer sich selbst verwaltenden Gemeinschaft freier, gleicher und wehrhafter Aktivbürger entwickelte. In einer Radikalisierung und Politisierung der humanistischen Positionen Francesco Petrarcas (1304-1374) erinnerten Coluccio Salutati, Leonardo Bruni, Leon Battista Alberti, Matteo Palmieriu. a. an die Sitten der Väter, die einst Roms Größe erwirkten, und begründeten gegen das Einheits- und Hegemoniestreben der Visconti die libertas Italiae, die Freiheit der republikanisch verfassten Stadtstaaten. Sie erneuerten die klassische Überzeugung, die Persönlichkeit des Individuums gelange erst durch die Teilnahme am Leben der polis und res publica zu moralischer und intellektueller Reife, ein vollkommenes Leben bestehe in der Verbindung von intellektueller Muße und ehrenhafter Tätigkeit in einer wohlgeordneten Republik.2 Es entwickelte sich folglich ein ethischpolitischer Diskurs, der dem politischen Engagement der Bürger Eigenwertigkeit zuschrieb. Die politische Ordnung beruht nicht auf göttlicher Gnade, sondern auf der virtù, der Tugend der Bürger, die ihren Lebenssinn einerseits in der Kontemplation, andererseits in der Interaktion mit ihresgleichen suchen. Die Selbstverwirklichung des aus den Banden der Herkunft emanzipierten Individuums kann demnach nur gelingen, wenn es sich als aktiver Teil der Bürgerschaft begreift.

Zwar verblasste der Optimismus im Lauf des 15. Jahrhunderts angesichts des Aufstiegs mächtiger Adelsfamilien, die das politische Leben der Bürgerschaft unterdrückten und die Republik in die Signorie, die monokratische Herrschaft einzelner Männer, transformierten, doch lebte der republikanische Gedanke und der durch ihn entfachte Tugenddiskurs fort. Im 16. Jahrhundert wurde er durch Niccolò Machiavelli (1469-1527) erneuert und zur Inspirationsquelle der englischen, amerikanischen und französischen Revolutionäre.3 Verharrten die frühen Humanisten noch im Rahmen der christlichen Weltanschauung, die sie durch die alten Wertvorstellungen zu erweitern und zu beleben suchten, so betonte Machiavelli die unüberbrückbare Kluft zwischen beiden Welten, um die Synthese aufzusprengen und der „verweiblichten“ christlichen Ethik die „männliche“ der alten Römer entgegenzustellen, d. h. die Politik aus der religiösen Bevormundung und den von ihr erzeugten Skrupeln zu befreien. Gegen die Maximen der christlichen Sozialethik – Gottes- und Nächstenliebe, Leben in Demut und Bescheidenheit, Barmherzigkeit und Feindesliebe, Verachtung der irdischen Güter, Glaube an ein Leben nach dem Tod usw. – stellte er den heidnischen Wertekanon, der sich auf die Jetztzeit konzentriert und die klassischen Tugenden der Tapferkeit, Gerechtigkeit, Besonnenheit und Weisheit sowie vor allem Stärke und Standhaftigkeit, Disziplin und Vaterlandsliebe propagiert. Getrieben von der Sehnsucht nach Vereinigung des zerrissenen und nach Befreiung des von fremden Mächten belagerten Italiens entwarf Machiavelli die Maximen einer Politik, die keine Rücksicht nimmt auf die Gebote der christlichen Ethik und die Bedürfnisse der Einzelnen und Familien, sondern sie dem Interesse des Staates unterordnet. So wurde er zum Begründer der Staatsraison, dem Leitstern der frühneuzeitlichen Politik.

Im Principe (1513), in den Discorsi (1513-1522) sowie in seiner Geschichte der Stadt Florenz (1520-1525) unternahm Machiavelli eine schonungslose Analyse der geschichtlichen Lage. Darin wurde Selbstbehauptung anstatt Selbststeigerung zum Ausgangspunkt und Grundprinzip der politischen Theorie, womit zugleich die empirisch-analytische, d. h. die nicht- oder anti-normativistische Politikbeobachtung einsetzte, wie sie noch heute die Politikwissenschaft dominiert. An die Stelle teleologischer Prämissen trat die Frage nach Regel- und Gesetzmäßigkeiten. Zweck des Politischen sollte nur mehr die Sicherung des Friedens, die Freiheit Italiens und seine staatliche Einheit sein. Alle Mittel, die diesem obersten Ziel dienen konnten, mussten recht sein. Zwar war Machiavelli ein Anhänger der Republik, doch hatte er als junger Mann den mit seiner Hinrichtung auf dem Scheiterhaufen jämmerlich scheiternden Versuch Savonarolas miterlebt, eine direktdemokratische Ordnung in Florenz zu etablieren (1494-1498), und daraus den Schluss gezogen, unter den gegebenen Bedingungen sei eine kraftvolle Monarchie vorzuziehen. Zur Herstellung des Friedens und um dem allgemeinen Sittenverfall zu begegnen, schien es ihm deshalb geboten, dem Fürsten Zugeständnisse zu machen, ihn aus der Bindung an Recht und Gesetz zu entlassen und allein auf seine Tüchtigkeit und seinen Verstand zu vertrauen, seine virtù und ragione, durch die er die Notwendigkeit und das Glück bezwingen kann, die ehernen Geschichtsmächte necessità und fortuna.

Damit begründete der Florentiner jene Politiktradition, die bis heute unter dem pejorativen Titel Machiavellismus zusammengefasst und als skrupellose Machtpolitik oder „Dämonie“ perhorresziert wird. Machiavelli selbst war jedoch kein Machiavellist, sondern verzehrte sich in der patriotischen Sehnsucht nach Vereinigung des zerrissenen Italiens und seiner Befreiung von französischer, deutscher und päpstlicher Fremdherrschaft. Durch seine so motivierten theoretischen Leistungen wurde er zum bahnbrechenden Klassiker des politischen Denkens und zum Ausgangspunkt zweier gegensätzlicher politischer Strömungen. Seine theoretische Neuerung liegt in der Emanzipation des Politikdenkens von den überkommenen religiösen und moralisch-sittlichen Einbindungen. Er schuf eine Terminologie, die es erlaubte, politische Interessen (wieder) in ihrer autonomen Logik wahrzunehmen und ihr gemäß zu definieren und auch zu verfolgen. Diese Einsicht verpflichtete ihn aber keineswegs auf die Tradition des Etatismus (Staatsraison), wie er sie in seinem Principe begründete. Vielmehr konnte sich die aus der religiösen Obhut entlassene Politik durchaus auch republikanisch entfalten – das zeigen die Discorsi, mit denen Machiavelli den Florentiner Bürgerhumanismus beerbte und eine anti-etatistische Denkschule begründete, die den Höhepunkt ihrer Wirksamkeit in der Amerikanischen und Französischen Revolution erreichte und heute von einigen Autoren wiederbelebt wird. Zwar hatte der gelernte Jurist nur geringe philosophische Kenntnisse, doch gerade dies verschaffte ihm die Distanz, die den radikalen Bruch mit der Tradition und einen Neuanfang ermöglichte. Indem er die christliche Ethik verwarf, gewann Machiavelli eine Position, von der aus die Phänomene der politischen Welt nicht mehr heilsgeschichtlich verklärt erscheinen mussten, sondern in ihrem Eigensinn begriffen werden konnten.

Zu ganz ähnlichen Resultaten gelangte – von völlig verschiedenem Ausgangspunkt her und fast in konträrem Interesse – Machiavellis Zeitgenosse Martin Luther (1483-1546), der die virulente Kritik an der Papstkirche radikalisierte und die Religion aus dem Quellgrund des christlichen Glaubens erneuern wollte. Ihre Symbiose mit der Politik musste aufgelöst werden! In der Vermischung von Weltlichem und Geistlichem erblickte Luther das Grundübel seiner Zeit, das ein für alle Mal zu beseitigen war. Ausgehend vom urchristlichen Prinzip der Gottes- und Nächstenliebe begründete er die Notwendigkeit einer prinzipiellen Trennung von Religion und Politik, um die Kirche, die „Bürgerschaft Gottes“, der weltlichen wie der geistlichen Herrschaft zu entwinden. Dafür sollte umgekehrt die profane Politik dem Zugriff des Klerus entzogen sein. Luther und Machiavelli sind daher nicht nur Zeitgenossen, sie sind sich auch in der Sache sehr nah. Beider Wollen hat dieselbe Folge: Befreiung der Politik aus der geistlichen Vormundschaft und Stärkung der weltlichen Herrschaft durch Entmachtung der römischen Kirche.

Die von Luther ausgelöste Reformation setzte eine tiefe Zäsur in die europäische Geschichte. Durch sie wurde die Idee der Einheitswelt eines Orbis christianus, die Hoffnung auf ein weltumspannendes christliches Reich, die das mittelalterliche Denken der Christen beherrscht und geleitet hatte, beerdigt. Sie fand zwar weiterhin Verfechter – bis hin zu den katholischen Gegenrevolutionären des 19. Jahrhunderts –, hatte aber keine Realisierungschance mehr. Folge der Reformation war die Spaltung der christlichen Kirche. Der Protestantismus trennte sich vom Katholizismus und entwickelte neue Formen der Kirchenverwaltung, des Glaubens und der Liturgie. Im Gefolge der Reformation durchlitt Europa im 16. und 17. Jahrhundert eine Welle blutiger Bürgerkriege, in denen sich die Christen gegenseitig abschlachteten. Sie erschütterte den Kontinent und erreichte ihren Höhepunkt im Dreißigjährigen Krieg (1618-1648). Als Katalysator der Formierung souveräner Staaten war die Reformation die wohl wichtigste Schubkraft im Prozess der Trennung von Religion und Politik und der Entstehung des europäischen Staatensystems, das im Westfälischen Frieden von1648 seine für Jahrhunderte gültige Form und Gestalt fand. Durch Konzentration und Zentralisation der politischen Entscheidungs- und herrschaftlichen Zwangsgewalt – in Händen von absoluten Monarchen oder Parlamenten – entstand der nach innen wie außen souveräne, aus ständischer Herrschaft gelöste, durch Bürokratie und stehendes Heer institutionell konsolidierte Staat, der auf einem fest umgrenzten Territorium das „Monopol legitimen physischen Zwanges“ bzw. der „Gewaltsamkeit“ behauptet,4 mit Hilfe von Polizei und Verwaltung den innerstaatlichen Frieden sichert und seine Beziehungen zu anderen Staaten in Krieg und Frieden rechtlich regelt, ohne eine übergeordnete Entscheidungsund Befehlsinstanz zu akzeptieren. Die klassische Begründung des modernen, rechtlich unbeschränkten Staates entwickelte Thomas Hobbes (1588-1679), der ihn auf den Vertrag eines jeden mit einem jeden zurückführte, durch den der Naturzustand beendet wird – der Krieg eines jeden mit einem jeden. Hobbes‘ Leviathan (1651) wurde zum Ausgangs- und kritischen Bezugspunkt aller folgenden Staatstheorien, die um die Frage nach der konkreten Staatsform (Monarchie oder Republik, Aristokratie oder Demokratie) und der Rechte und Grenzen des Staates kreisten. In ihrer kontroversen Diskussion reflektiert sich die moderne Transformation vom absolutistischen Fürsten- zum gewaltenteiligen Verfassungsstaat, vom monarchischen Macht- zum bürgerlichen Rechtsstaat, vom Stände- zum Repräsentativstaat und zur parlamentarischen Demokratie sowie schließlich vom liberalen Nachtwächter- zum Interventions-, Sozial- und Wohlfahrtsstaat. Der Demokratiebegriff behielt dabei lange den negativen Klang, den ihm einst Platon und Aristoteles eingelegt und abgelauscht hatten. Noch Marsilius von Padua, der für eine gemäßigte Demokratie votierte und die Partizipation der Bürger stärken wollte, verstand Demokratie im Anschluss an Aristoteles als Herrschaft des Pöbels (I,8,3).

Der erste Denker, der einen eindeutig positiv konnotierten Demokratiebegriff entwickelte, war Baruch de Spinoza (1632-1677), der ihn aus einer systematischen Kritik am Leviathan des Thomas Hobbes gewann. Spinoza folgt im Theologisch-politischen Traktat (TTP) von 1670 weitgehend den Hobbes’schen Vorgaben – vom Menschenbild über die Vertragstheorie bis hin zur Staatstheorie –, diskutiert aber alle relevanten Probleme stets im Hinblick auf die demokratische Regierungsform, die ihm als die natürlichste von allen galt, weil in ihr niemand sein Recht derart auf einen anderen überträgt, dass er selbst fortan nicht mehr zu Rate gezogen werden müsste – vielmehr überträgt er es auf „die Mehrheit der gesamten Gesellschaft, von der er selbst ein Teil ist. Auf diese Weise bleiben alle gleich, wie sie es vorher im Naturzustand waren“ (TTP, XVI, 240). Spinoza radikalisiert die Hobbes’sche Forderung nach Glaubens- und Gewissensfreiheit und betont nicht nur die Freiheit des Denkens und Fühlens im Inneren des Bürgers, sondern begründet auch dessen Recht auf Meinungsäußerung nach außen (TTP, XX, 301-307), auf Kritik und freie Wahl der Religion. Er aktualisiert damit den Gedanken der religiösen Toleranz, der bereits im Kontext der Hugenottenkriege in Frankreich von Jean Bodin und in der Englischen Revolution von den Levellers vertreten wurde.

Der Theoretiker der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft, der Klassiker des Liberalismus und des britischen Konstitutionalismus war John Locke (1632-1704). Nach Hobbes‘ grandioser Ermächtigung hielt er es nun für geboten, den Staat in seine Schranken zu weisen. Der Emanzipation der Politik von der Religion sollte die Emanzipation der Ökonomie von der Politik folgen. Die ökonomischen Beziehungen waren dem Zugriff der Obrigkeit zu entziehen, die bürgerliche Gesellschaft sollte aus dem Staatsleben freigesetzt, der Merkantilismus durch ein System der Handelsfreiheit abgelöst werden. Der Staat sollte nur so viel Macht haben, wie nötig ist, um Leben und Privateigentum der Einzelnen vor Übergriffen zu schützen und sollte selbst nicht in die Eigentumsordnung eingreifen dürfen. Darüber hinaus begründete Locke die Gewaltenteilung zwischen Krone und Parlament, wie sie in der Bill of Rights (1689) festgelegt wurde. Hatte Hobbes das seit Jahrhunderten währende Machtgerangel zwischen beiden als eine Hauptursache von Bürgerkrieg und Unfrieden ausgemacht, so sollte es nunmehr – durch Regeln gebändigt – auf Dauer gestellt werden und Grundprinzip der Verfassung sein. Der König sollte die Außenpolitik, das Parlament die Innenpolitik bestimmen, wobei der König als king in parliament auch im Innern eine bedeutende Rolle spielt. Es ging somit (noch) nicht um die Trennung von Legislative, Exekutive und Judikative, sondern um Teilung und Balance der Staatsgewalt zwischen Krone und Parlament.

Die Prinzipien der Gewaltenteilung und der rechtlichen Begrenzung der Staatsgewalt wurden von Charles de Montesquieu (1689-1755) präzisiert. In seinem großen Werk Vom Geist der Gesetze (1748) konnte er zeigen, dass die Gesetze keine Diktate irgendwelcher Souveräne, sondern historisch erwirkte Festlegungen sind, die in einer Vielzahl gewachsener Gegebenheiten wurzeln. Sie sind abhängig vom Gesamtzusammenhang der jeweiligen natürlichen, sozialen, ökonomischen, religiösen, politischen, klimatischen und sonstigen Bedingungen und entspringen den konkreten Lebensverhältnissen, Gewohnheiten und Sitten, die nicht zur Disposition des Souveräns stehen. Als Grundvoraussetzung der Freiheit erschien Montesquieu die strikte Trennung von Legislative, Exekutive und Judikative, wobei die exekutive Befugnis in den Händen des Königs läge, die Gesetzgebung aber Sache gewählter Repräsentanten ist. Der Autor konnte sich auf eine mehr als 50-jährige Praxis der Gewaltenbalance in England beziehen, die ihm als vorbildlich und als beste aller damals bestehenden Ordnungen galt (11. Buch, 6. Kap.). Der englische Parlamentarismus schien die ideale Verkörperung der Republik zu sein, weil hier die besten Köpfe des Volkes – ohne Bindung an ihre Wähler durch ein imperatives Mandat – durch gemeinsame Beratung das Für und Wider der Entscheidungen erörtern und durch Abwägung der theoretischen und praktischen Alternativen das Gemeinwohl sowie die Wege zu seiner Verwirklichung ermitteln.

Der Klassiker der modernen Demokratietheorie ist Jean-Jacques Rousseau (1712-1778). Er verschärfte die Hobbes-Kritik Spinozas und präzisierte den Gedanken der Volkssouveränität. Alle Befugnisse und Kompetenzen der Regenten leiten sich demnach her vom Willen des Volkes, den zu vollstrecken ihre Pflicht und Aufgabe ist. Während Montesquieu den englischen Parlamentarismus als wohlgelungene Ordnung rühmte, erblickte Rousseau in ihm eine Illusion. Er sah in den englischen Repräsentanten nicht uneigennützige Vertreter des Volkes, sondern eine volksabgehobene und volksfeindliche Clique von machtgierigen und korrupten Egoisten, die sich um das Gemeinwohl nicht scheren und sich stattdessen auf Kosten des Volkes bereichern. Deshalb suchte er nach einer alternativen Form der politischen Organisation und fand diese in der Demokratie, die seinerzeit – wie schon in der Antike – immer als direkte oder unmittelbare Demokratie verstanden wurde und daher zum Staat im Gegensatz stand. Der Ausdruck „direkte Demokratie“ wäre Rousseau und allen Denkern bis zur Französischen Revolution als Pleonasmus erschienen. In dem später geprägten Begriff „repräsentative Demokratie“ hätten sie eine contradictio in adjecto erblickt, da in ihren Augen Stellvertretung und Demokratie einander ausschließen. Der allgemeine Volkswille, die volonté générale, schreibt Rousseau im Contrat Social (1762), könne nicht von Stellvertretern „repräsentiert“ werden, sondern nur von der Gesamtheit der Bürger. Einzelne seien überfordert, wollten sie diese Aufgabe übernehmen. Das Postulat der Stellvertretung entspringe einem grundlegenden Irrtum. Wenn nämlich die Menschen, wie von Hobbes vorausgesetzt, in einem „Krieg aller gegen alle“ stehen, dann könne man von ihnen schwerlich erwarten, dass sie sich auf einen Gesellschaftsvertrag einigen. Unterstelle man aber, dass sie sich zu einem solchen Vertrag oder Bund einigen können, dann sei es absurd anzunehmen, sie müssten sich auch noch einem Dritten unterwerfen und ihre Souveränität auf diesen übertragen.

Da sich Großflächenstaaten jedoch nicht durch Zusammenkunft und öffentliche Diskussion der ganzen Bürgerschaft regieren und verwalten lassen, setzte ihnen Rousseau – inspiriert durch die erfolgreichen demokratischen Experimente in seiner Heimatstadt Genf – die Vision von kleinen und überschaubaren, direktdemokratisch organisierten Gemeinwesen nach dem Vorbild der antiken Polis entgegen, in denen die Bürger ihr tatsächliches Wollen (volonté de tous) dem allgemeinen Willen (volonté générale) angleichen, sich die Maximen der Vernunft zu eigen machen und in den Dienst des Gemeinwesens stellen, ihr privates Interesse dem der Allgemeinheit unterordnen, die Privateigentumsordnung revolutionieren und sich selbst durch eine naturgemäße Sozialisation, durch Partizipation und politisches Engagement zur Mündigkeit erziehen. Voraussetzung der Demokratie seien 1. ein sehr kleiner Staat, in dem das Volk leicht zu versammeln ist und jeder jeden Bürger kennt; 2. eine große Einfachheit der Sitten und 3. fast vollkommene Gleichheit in Bezug auf Stand und Vermögen. Soll sie realisiert werden, müssten folglich die bestehenden Staaten zerschlagen werden. An ihre Stelle hätten kleine, überschaubare Einheiten zu treten, in denen die Vermögensunterschiede aufzuheben und die Einzelnen durch eine angemessene Erziehung zu natürlicher Sittlichkeit zu befähigen wären. Rousseau selbst äußerte gelegentlich Zweifel hinsichtlich der Praktikabilität der Demokratie. Seine demokratischen Ideen wurden jedoch in der Französischen Revolution von den Jakobinern aufgegriffen, die in der Nationalversammlung die Auffassung vertraten, nur eine direkte Demokratie ermögliche eine adäquate Repräsentation, d. h. Darstellung oder Vergegenwärtigung des Volkswillens.

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