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Der hier abgedruckte Text entstammt dem politikphilosophischen Hauptwerk Platons (427/29-347 v. Chr.), der Politeia – zumeist mit dem anachronistischen und irreführenden Titel „Der Staat“ ins Deutsche übersetzt. Die Polis, Organisationsprinzip und Verwaltungseinheit im antiken Griechenland der archaischen und klassischen Zeit, war kein Staat, da ihr die entscheidenden Wesensmerkmale der so bezeichneten politischen Form fehlten: Souveränität nach innen und nach außen, Konzentration und Verselbstständigung der politischen Entscheidungs- und herrschaftlichen Zwangsgewalt durch stehende Heere und Bürokratie. Im Gegensatz zu dieser neuzeitlichen Organisationsform war die Polis kein verselbstständigter politischer Apparat, sondern die autarke Bürgerschaft, die sich selbst bestimmte und regierte. Dementsprechend befasst sich Platons Politeia nicht mit dem Aufbau und den Strukturen eines hierarchisch geordneten und bürokratisch verwalteten „Staates“, sondern vielmehr mit den Bedingungen und Formen, Institutionen und Normen der bürgerlichen Selbstverwaltung, mit der Verfassung, der Zusammensetzung, den Sitten und Institutionen der antiken Bürgerschaft, die ihre Probleme nicht an einen Staat delegieren konnte, sondern in Eigenregie lösen musste. (Da kein deutsches Synonym existiert, sollte auf eine Übersetzung des Begriffs Polis verzichtet werden.)

Platon wurde ca. 427/29 v. Chr. als Sohn einer aristokratischen Familie in Athen geboren. Er erlebte seine Kindheit und Jugend während des Peloponnesischen Krieges (431-404 v. Chr.) und wurde durch die nicht enden wollenden inneren und äußeren Kämpfe mit den Unwägbarkeiten des Lebens vertraut. Durch seinen Lehrer Sokrates wurde er als junger Mann in die Philosophie eingeführt und zum Nachdenken über die Grundlagen und Formen, Werte und Normen der Ethik und Politik sowie zur kritischen Infragestellung der in der Polis zirkulierenden Meinungen angeregt. Von ihm erlernte er den radikalen Zweifel, der alle seitherigen Gepflogenheiten und Dogmen vor den Gerichtshof der Vernunft zitierte. Durch die mehrfache Verfassungsänderung zwischen 411 und 403 v. Chr., durch die Niederlage und den Zerfall der athenischen Polis wurde er sensibilisiert für die Fragilität und Kontingenz der politischen Institutionen und für die Relativität und Unbeständigkeit der Sitten. Der Prozess gegen Sokrates, der 399 v. Chr. mit der Verurteilung und dem Tod des An geklagten endete, musste das ohnehin vorhandene Misstrauen des jungen Philosophen gegen die Demokratie schüren. Platon zog sich in der Folge enttäuscht aus der politischen Arena zurück und konzentrierte sich mit seinen Schülern auf die geistige Arbeit in der von ihm gegründeten Akademie. Er begann, alle damaligen Wissensgebiete systematisch zu durchdringen, unterzog die Erkenntnisse seiner Vorgänger einer kritischen Revision und entwickelte das erste umfassende und in sich geschlossene philosophische System, das zur Inspirationsquelle und zum permanenten Bezugspunkt der künftigen Philosophie wurde.

In der Entwicklung des platonischen Werkes werden gewöhnlich drei Phasen unterschieden: 1. die frühen Dialoge, die sich vor allem mit ethischen Fragen des richtigen und guten Lebens befassen; 2. die mittleren Dialoge, deren bedeutendster die Politeia ist; 3. die späten Dialoge, in denen die Suche nach dem Guten durch die grundsätzlichere Frage nach dem Sein des Seienden überlagert bzw. verdrängt wird. Es gab seinerzeit keine unproblematischen Anknüpfungspunkte mehr. Man konnte sich auf keine Vorgaben der Tradition stützen, sondern war genötigt, ganz von vorne zu beginnen und neue Fundamente für das Denken zu legen. Vor allem im Bereich der Ethik und Sittlichkeit gab es keine irreversiblen Gewissheiten mehr, vor denen die Skepsis hätte haltmachen können. Die widersprüchlichsten Auffassungen über das richtige Leben standen unvermittelt neben- und gegeneinander. Die Sophisten waren deshalb zu der Einsicht gelangt, dass Aussagen über das Wahre, Gute und Richtige relativ und situationsabhängig sind. Vordringlich war folglich die kritische Durchdringung und Dekonstruktion der kursierenden Meinungen, die auf ihren rationalen Kern zu reduzieren waren. Platon verfasste deshalb Dialoge, in denen zumeist Sokrates der Wortführer ist, der im Gespräch mit wechselnden Partnern das Für und Wider der unterschiedlichen Auffassungen bedenkt, seinen Gesprächspartnern ihre theoretischen Grenzen vorführt, ihre Prämissen verwirrt und sie zu neuem Nachdenken inspiriert, damit sie durch eigene Einsicht zur Erkenntnis des Richtigen und Wahren gelangen. Seine Methode war die Mäeutik. Sokrates führte nach seinem Selbstverständnis das Handwerk seiner Mutter fort, die einst Hebamme gewesen war. Er wollte keine neuen Dogmen und Einsichten verkünden, sondern aus seinen Mitbürgern nur das herauskitzeln, was ohne ihn bereits in ihnen war. In ebendieser Weise erörtert er in Platons Politeia mit seinem Gegenspieler Glaukon die Prinzipien und Erfordernisse eines vernünftigen Lebens und die Funktionen und Probleme der Polis, die seinerzeit ziemlich im Argen lag und eine Totalreform an Haupt und Gliedern nötig hatte.

In den Frühdialogen konzentrierte sich Platon auf die Sitten und Umgangsformen. In einer schroffen Kritik des sophistischen Wahrheits- und Werterelativismus suchte er zu zeigen, dass sich ein „richtiges“, ein vernünftiges und glückliches, ein gerechtes, ehrenwertes und zufriedenes Leben nur führen lässt, wenn man allgemeine Interessen verfolgt und sich um Tugendhaftigkeit oder Tüchtigkeit bemüht. Tugend oder Tüchtigkeit (areté) sei aber nur als Einheit aller ihrer einzelnen Momente möglich: als Ganzes aus Tapferkeit (andreía), Besonnenheit (sōphrosýne), Gerechtigkeit (dikai¯os’yne), Frömmigkeit (eúsébeia) und Einsicht/Klugheit/Weisheit (sophía) – unter der strengen Kontrolle und Leitung der Vernunft (lógos). Keine dieser Tugenden könne für sich, ohne alle anderen sein. Alle komplettieren sich im einzelnen Menschen zu einem Ganzen, das entweder als Totalität aller Einzelmomente oder aber gar nicht existiert (vgl. Laches, 199c-e; Charmides, 166e; Protagoras, 329c, d; 349b ff.; Gorgias, 481b ff. und passim). Platons Tugendideal war demnach die allseitig entwickelte Persönlichkeit, die nicht auf Einzelheiten fixiert ist und einzelne Vermögen oder Kräfte auf Kosten der anderen ausbaut, sondern sich um die gleichmäßige Entwicklung aller Anlagen bemüht. Nur dann könne das menschliche Zusammenleben in vernünftige Bahnen zurückgelenkt und die Polis zu einem harmonischen Ganzen werden. Im Anschluss an die sokratische Kritik an den Sophisten lehrte Platon, dass Tugendhaftigkeit oder Tüchtigkeit nicht lehrbar ist, dass jeder Einzelne sie für sich selbst erringen muss, indem er seine Triebe und Leidenschaften durch Vernunft und Einsicht zügelt.

Auch die späteren Werke Platons beschäftigen sich mit den Problemen der Tugend/Tüchtigkeit. Seit den mittleren Dialogen verlagerte sich der Akzent jedoch von der individuellen Handlungsorientierung auf die politischen Institutionen. Da Weisheit und Tugendhaftigkeit seinerzeit längst keine Wesensmerkmale der athenischen Bürgerschaft mehr waren, da sich der Appell an die menschliche Einsichtsfähigkeit und Vernunft als vergeblich erwies, ging Platon auf die Suche nach stabileren Ordnungsformen, die dem individuellen Handeln einen Außenhalt und dem Zusammenleben Sicherheiten bieten konnten, die dabei aber allen menschlichen Anlagen und Neigungen Rechnung zu tragen hatten. Den Ausgangspunkt und den zentralen Gegenstand der Politeia bildet die Gerechtigkeit, die nun nicht länger als individuelle Tugend, sondern als unverzichtbares Konstitutionsprinzip einer wohlgeordneten Polis begriffen wird. Ihr Fehlen wird als Hauptgrund der allgemeinen Misere diagnostiziert. Sokrates hinterfragt und widerlegt zunächst die Auffassungen seiner Gesprächspartner und holt dann zu einer weitläufigen Betrachtung aus, um das Wesen der Gerechtigkeit zu erkennen. Besser als in den Handlungen der Einzelnen lasse sich diese Idee anhand der Polis studieren, die als ein großer Mensch vorgestellt wird.

Neben der sokratischen Ethik wurde die Ontologie des Parmenides zur zweiten Säule, auf der Platons Philosophie errichtet wurde, die Suche nach dem Sein des Seienden, nach dem Festen und Ruhenden hinter den Erscheinungen. Die Synthese beider Fragestellungen führte zur Ideenlehre, wie sie in der Politeia entwickelt ist (vgl. 502d ff.). Durch sie gewann Platon den Maßstab, mit dessen Hilfe sich Wahres von Falschem, gesichertes Wissen (epistéme) von bloßer Meinung (dóxa) sowie Gutes von Schlechtem unterscheiden ließ. Der letzte Grund der menschlichen wie natürlichen Dinge liegt demnach in den Ideen, die Platon als Urbilder aller empirischen Erscheinungen begreift. Sie vermitteln den einzelnen Erfahrungstatsachen Zusammenhalt und Struktur. Die ordnungsstiftenden Ideen sind keine bloßen Behelfskonstrukte des denkenden Kopfes, der sich mit ihrer Hilfe Orientierung verschafft und das Erfahrungsmaterial zurechtlegt, sie sind subsistierende Wesenheiten und für Platon das eigentlich Reale und Existierende. Die konkreten Phänomene dagegen gelten als bloße, mehr oder weniger gelungene oder missratene Verkörperungen oder Nachbildungen, die nur durch ihre Teilhabe an den Ideen existieren und nur verstanden werden können, wenn sie zurückgeführt werden auf diesen ihren Ursprung. Sollen die real existierenden Dinge erkannt werden, so müssen sie auf ihr Urbild (eidos, idéa) reduziert werden. Hinter den schönen Dingen ist die Idee der Schönheit (kállos), hinter den guten Taten und Institutionen die Idee des Guten (agathón) zu erkennen – und diese letztere ist für Platon die höchste Idee, die allen anderen zugrunde liegt. Sie zu erfassen ist folglich Aufgabe der Philosophie und das Ziel aller mittleren und späteren platonischen Dialoge.

Den Sinn und Zweck (télos) des menschlichen Lebens sieht Platon in der „Vervollkommnung der Seelen“, in der Entfaltung und Steigerung der ethischen und dianoetischen, das heißt verstandesmäßigen, Anlagen und Fertigkeiten. Aufgabe der Polis ist es, diese zu ermöglichen und zu fördern. Erkenntnisleitende Frage der Politeia ist demzufolge, welche Einrichtungen vonnöten sind, um dieses Ziel zu erreichen. Da alle Institutionen im Dienst der „Seelenpflege“ stehen sollen, werden sie aus dem Bild einer „vollkommenen Seele“ abgeleitet. Die menschliche Psyche setzt sich nach Platon aber aus drei Teilen zusammen: den Begierden und Leidenschaften, den Tugenden und der Vernunft. Diese müssen folglich ein organisches Ganzes bilden und sich gegenseitig stützen. In Analogie dazu sieht Platon in der Polis eine Arbeitsteilung vor. Die drei menschlichen Grundvermögen werden von drei Ständen realisiert: für die Vernunft sind die Regenten zuständig, tugendhaft oder tüchtig müssen vor allem die Wächter sein, die Begierden und Leidenschaften sind vornehmlich Sache des einfachen Volkes, der Handwerker und Bauern. Nicht die Gesamtheit der Bürger soll demnach befähigt werden, alle Fertigkeiten gleichermaßen zu entfalten, vielmehr soll jeder „das Seine tun“ und die seiner Stellung entsprechenden Pflichten erfüllen (431d ff.). Für das politische Geschehen sind neben oder nach den Regenten die Wächter ausschlaggebend, die für die Sicherheit der Gemeinschaft und für die innere Ordnung verantwortlich sind. Ihrem Amt und ihrer Erziehung widmet Platon deshalb ganz besondere Sorgfalt (374e ff.). Sie haben sich der Verwirklichung des Gemeinwohls und der Optimierung der Einheit zu widmen und dafür auf jegliches private Glück zu verzichten. Ihre Aufgabe ist die Selbstaufopferung für die durch Wissen erfolgreich gegründete und regierte Stadt. Bei der von ihnen geforderten Tugend oder Tüchtigkeit (areté) sollen wieder alle Einzeltugenden in Rechnung gestellt und Vorkehrungen getroffen werden, die ihre gleichmäßige Ausprägung ermöglichen. Da die vier Grundtugenden (Tapferkeit, Besonnenheit, Gerechtigkeit, Einsicht) – wie schon die Frühdialoge zeigten – ein untrennbares Ganzes bilden (427e), müsste die unverhältnismäßige Entwicklung einer Einzeltugend – etwa der Tapferkeit – ohne gleichzeitige Ausbildung aller anderen eine Dissonanz zur Folge haben (Verwegenheit, Tollkühnheit usw.). Nur dann, wenn sie sich wechselseitig balancieren, kann sich die Polis zu einem harmonischen Ganzen entfalten, das die Einzelnen zu einem gerechten und geglückten Leben befähigt, dessen Ziel und Zweck in der vollkommenen Gemeinschaft und in der Identifikation aller mit dem Ganzen besteht.

Die Polis entstehe, weil kein Mensch sich selbst genügen kann, schreibt Platon (369b ff.). Jeder hat viele andere nötig und ist auf seine Mitmenschen angewiesen. Dies gilt bereits für die Selbsterhaltung und die materielle Reproduktion. Noch deutlicher wird es hinsichtlich der Idee des richtigen und guten Lebens. Im Ausgang von der Idee des Guten, auf die nach Platon letztlich alle guten Dinge, Eigenschaften und Aktivitäten zurückgehen, kann Sokrates seine Gesprächspartner mit nur geringen Schwierigkeiten davon überzeugen, dass in der vollkommen eingerichteten Polis die Frauen und Kinder allen gemeinsam gehören, dass folglich nicht die Eltern über die Eheschließung entscheiden und dass die Erziehung der Kinder kollektiv zu erfolgen hat. Ferner kann er einsichtig machen, dass Privateigentum für das allgemeine Wohlergehen abträglich und die gemeinschaftliche Arbeit auf der Basis gemeinsamen Besitzes vorzuziehen ist – im Frieden wie im Krieg. Der Tausch und seine Medien, Geld und Vertrag, sollen abgeschafft und verboten werden, weil ihnen der Betrug substanziell innewohnt. Schließlich kann Sokrates zeigen, dass die Regenten wissbegierig oder weisheitsliebend, also Philosophen sein müssen, weil Ignoranten, Narren und Idioten nur selten richtige Entscheidungen im Interesse der ganzen Bürgerschaft treffen (vgl. 472d ff.).

Welche Regierungsform wollte Platon etablieren? – Als beste aller denkbaren Verfassungen zeichnet er die gemäßigte Aristokratie und die konstitutionelle Monarchie aus, d. h. Regierungen, die dem Gemeinwohl dienen und sich den Gesetzen der Stadt unterordnen, ohne an ihnen zu rütteln (445e). Nur in diesen Ordnungen herrsche Gerechtigkeit und Güte. Neben diesen gebe es vier weitere Grundtypen von Verfassungen, die Platon als verfehlt betrachtet (544b ff.): 1. die kretische und lakonische Verfassung, die ausschließlich auf den Krieg ausgerichtet ist; 2. die Oligarchie, die auf der Einschätzung des Vermögens beruht, in der die Reichen herrschen und die Armen keinen Anteil an der Regierung haben; 3. die Demokratie, in der die vielen Armen die wenigen Reichen unterdrücken; 4. „die edle Tyrannis, die vierte und letzte Krankheit einer Stadt“. Patriarchalische Herrschaft, korrupte Königsherrschaft und dergleichen lägen in der Mitte zwischen diesen Formen und seien bei Hellenen ebenso wie bei „Barbaren“ anzutreffen. Alle diese Verfassungen resultieren aus der Natur der Bürgerschaft und formen ihrerseits bestimmte Charaktere. Die lakonisch-kretische beispielsweise, die Platon mangels besserer Ausdrücke Timokratie oder Timarchie zu nennen pflegt, entspringe einer streit- und ehrsüchtigen Bürgerschaft und fördere ebendiese Eigenschaften.

Von diesen Beobachtungen ausgehend gelangt Platon zu einer Verfallstheorie bzw. einer Theorie des Verfassungskreislaufs: Der Mensch der Aristokratie sei gut und gerecht (545a), er folge den Gesetzen und bemühe sich um Tüchtigkeit und ein ehrbares Leben. Aus der Aristokratie erwachse die Timokratie, da die nachfolgende Generation der Machthaber die Sitten ihrer Väter missachte und sich in zügelloser Streitlust und Ehrsucht übe. Ihr folgt die Oligarchie, die alle Regierungskompetenzen in den Händen weniger Reicher konzentriert. Ihr Übergang in die Demokratie sei gesetzmäßig und erfolge wegen der Unersättlichkeit des Verlangens nach Reichtum. Es sei offensichtlich, schreibt Platon, „dass man in einer Stadt unmöglich den Reichtum ehren und zugleich Besonnenheit unter den Bürgern erlangen kann. Entweder das eine oder das andere muss man drangeben“ (555c). Wie im obigen Auszug deutlich wird, entstehe eine Demokratie immer dann, wenn die Armen in der Stadt die Oberhand gewinnen und ihre Gegner entweder umbringen oder verbannen, um schließlich die Ämter unter sich zu verlosen (557a). Damit erinnert Platon an den Sturz des Areopags (462/61 v. Chr.) und die Ermordung und Vertreibung der Areopagiten. Die Umwandlung der Demokratie schließlich führe zur Tyrannis (562a ff.), und zwar wegen der übersteigerten Freiheit, die den demokratischen Menschen sich wahllos den wechselnden Begierden hingeben lasse: „Bald berauscht er sich bei Wein und Flötenspiel, dann trinkt er wieder Wasser und magert ab; bald treibt er Gymnastik, dann geht er wieder müßig und kümmert sich um nichts; bald tut er wieder, als beschäftige er sich mit Philosophie; manchmal treibt er Politik, und wenn er aufspringt, redet und handelt er, wie es ihm gerade einfällt“ (561c). Da die Menschen der Demokratie „darin unersättlich und gegen alles andere gleichgültig“ sind, ertöne irgendwann der Ruf nach einer starken Hand, die wieder Ordnung in die aufgewühlte Gesellschaft bringt. Damit schließt sich dann der Kreis. Der Tyrann erzwingt die innere Ruhe, gewöhnt die Bürger wieder an Recht und Ordnung und schafft so die Voraussetzungen für die Rückkehr zur Monarchie bzw. zur gemäßigten Aristokratie usw. Jede Veränderung der Verfassung resultiere daraus, „dass in dem Teile der Bürgerschaft, der die Herrschaft innehat, Uneinigkeit entsteht“ (545c). Der Hauptgrund dafür, dass eine Stadt in Bewegung und Aufruhr gerät, liege in der Entzweiung der Wächter, die sich gegenseitig zu übervorteilen und zu unterjochen suchen (546a ff.).

„Wenn nicht entweder die Philosophen Könige werden in den Städten“, so resümiert der platonische Sokrates, „oder die, die man heute Könige und Machthaber nennt, echte und gründliche Philosophen werden, und wenn dies nicht in eines zusammenfällt: die Macht in der Stadt und die Philosophie, und all die vielen Naturen, die heute ausschließlich nach dem einen oder dem anderen streben, gewaltsam davon ausgeschlossen werden, so wird es, mein lieber Glaukon, mit dem Elend kein Ende haben, nicht für die Städte und auch nicht, meine ich, für das menschliche Geschlecht“ (473d). – Ein solcher Philosophenkönig stand seinerzeit nicht zur Verfügung. Aus diesem Grunde suchte Platon in seinen späten politikphilosophischen Dialogen (Politikos, Nomoi) nach einer zweitbesten Verfassung, die er in der Herrschaft des Gesetzes fand. Weil aber die Gesetze, die durch willkürliche Entscheidungen irgendwelcher Bürgerschaften zustande kommen, selbst problematisch bleiben, unternahm Platon in seinem letzten und umfänglichsten Werk eine eindringliche Untersuchung ebender „Gesetze“, ihres Wesens, ihrer Entstehung und Beschaffenheit, ihrer Wirkung und Notwendigkeit, um gute von schlechten Gesetzen unterscheiden zu können.

Platons Politeia wurde gelegentlich als Utopie und als Chimäre, als müßige Konstruktion des denkenden Kopfes kritisiert, die, wie die Erfahrung lehre, entweder keine Chance auf Verwirklichung habe oder aber, wo sie versucht würde, zwangsläufig zu „totalitären“ Verhältnissen führe. Mit dem zweiten Argument werden Erfahrungen des 20. Jahrhunderts in die Antike rückprojiziert. Das erste brachte bereits Immanuel Kant, außerhalb jeglichen Totalitarismus-Verdachtes stehend, in Rage, der – ähnlich wie später auch Hegel – solchen Feststellungen entgegenhielt, nichts könne „Schädlicheres und eines Philosophen Unwürdigeres gefunden werden, als die pöbelhafte Berufung auf vorgeblich widerstreitende Erfahrung, die doch gar nicht existieren würde, wenn jene Anstalten zu rechter Zeit nach den Ideen getroffen würden, und an deren statt nicht rohe Begriffe, eben darum, weil sie aus Erfahrung geschöpft worden, alle gute Absicht vereitelt hätten“ (Kritik der reinen Vernunft, A 316/B 372 f.). Legt man die Maßstäbe der heutigen Weltanschauung an, so ist nicht zu leugnen, dass Platons Grundidee – Erziehung der Bürger zu Tugendhaftigkeit oder Tüchtigkeit – „antiliberale“ Implikationen und Konsequenzen hat. Der Liberalismus entstand jedoch erst zweitausend Jahre später. Die Ideen der repräsentativen Demokratie und des bürgerlichen Rechtsstaates waren seinerzeit noch nicht entwickelt. Das große Ziel der klassischen griechischen Philosophie war die Krisenbewältigung, die Restitution der zerrütteten Polis und die Wiedergewinnung der zerfallenen Sittlichkeit. Dafür war Platon bereit, autoritäre Einrichtungen und die Aufhebung der Trennung des Öffentlichen und Privaten in Kauf zu nehmen. Auch die familiale Sphäre und das Privatleben der Bürger sollte von den Wächtern kontrolliert werden. Verlangt wurde die bedingungslose Aufopferung der Einzelnen für ihr Gemeinwesen. Jegliche Rückzugsrechte wurden verweigert. Erst der moderne Liberalismus hat die Konsequenzen aus dem Scheitern „erziehungsdiktatorischer“ Konzeptionen gezogen und die Befreiung der Individuen aus holistischen Strukturen gefordert. Es war Adam Smith, der erkannte, dass kein Mensch, weder ein Philosoph noch ein Staatsmann, verbindlich begründen kann, was für jeden Einzelnen das Beste ist. Deshalb sollte es jedem selbst überlassen bleiben, nach welcher Fasson er selig werden möchte. Die Folge war das von Platon konstatierte Überhandnehmen der Freiheit, die alles andere (Tugendhaftigkeit/Tüchtigkeit, Solidarität etc.) neben sich als gleichgültig erscheinen ließ. Da auch diese Entwicklung ungeahnte Risiken und ungewollte Nebenwirkungen mit sich führte, mehren sich heute wieder die Stimmen, die eine Rückbesinnung auf die Grundsätze der antiken Ethik verlangen und den modernen Freiheits- mit dem antiken Gemeinschaftsgedanken konfrontieren (Kommunitarismus, Neoaristotelismus). Der Erste, der in diesem Rahmen versuchte, die allzu rigiden Vorschläge Platons zu mildern und zu korrigieren, war sein Schüler Aristoteles.

→ Dieser Beitrag ist digital auffindbar unter: DOI https://doi.org/10.46499/1651.2036

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