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Interpretation

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Im Unterschied zu Platon musste Aristoteles (384-322 v. Chr.) nicht ganz von vorne anfangen, er konnte an die Vorgaben seines Vorgängers und Lehrers anknüpfen und auf den von ihm gelegten Fundamenten aufbauen. Er musste sich nicht erst durch die Flut konkurrierender Meinungen durcharbeiten, sondern konnte die einzelnen Wissensgebiete durch kritische Analyse der platonischen Dialoge systematisieren. Aristoteles wurde 384 v. Chr. in Stageira, einer kleinen Polis auf der Chalkidike, geboren. Er war ca. 43 Jahre jünger als Platon, kam 367 v. Chr., als Siebzehnjähriger, nach Athen und trat in Platons Akademie ein, der er zwanzig Jahre lang als Lernender und Lehrender angehörte. Nach Platons Tod (347) verließ er Athen und zog auf die Insel Lesbos, wo die Zusammenarbeit mit Theophrast, seinem bedeutendsten Schüler, begann. Dieser gründete später den Peripatos, die aristotelische Schule in Athen. Aristoteles kehrte 335/34 nach Athen zurück und verließ es erst wieder 323/22, nach Alexanders des Großen und kurz vor seinem eigenen Tod (322). Zwar war der größte Teil seines Werkes – einschließlich der praktischen Philosophie – lange Zeit verschollen, doch wurde es im späten Mittelalter über arabische Quellen (Avicenna und Averroës) erschlossen und in der Folge zur Basis des europäischen Politikdenkens, das sich mit seiner Hilfe aus den Fesseln des christlichen Glaubens emanzipierte. Vor allem die Ethik und die Politik erzielten eine gewaltige Wirkung, da sie dem menschlichen Leben eine neue Würde und den sozialen und politischen Institutionen – von der Familie über die Nachbarschaft und das Dorf bis hin zur Stadt und zum Reich – eine Eigenbedeutung und -berechtigung zuerkannten, die ihnen im Rahmen der christlichen Theologie bestritten worden war.

Die Politik des Aristoteles ist Teil der praktischen Philosophie und Fortsetzung der Ethik. Sie fragt nach den Bedingungen und Formen, Regeln und Normen des menschlichen Handelns, um herauszufinden, was für den Menschen das Gute ist (anthrópinon agathón). Gut für den Menschen ist ein glückliches Leben, weshalb sich die praktische Philosophie auf die Frage nach dem Weg zum Glück bzw. zur Glückseligkeit (eudaimonía) konzentriert. Im Unterschied zu Platon geht Aristoteles dabei nicht von der Idee des Guten aus, sondern von der empirischen Realität. Er will kein Ideal begründen, sondern untersuchen, welche Möglichkeiten sich unter den gegebenen geschichtlichen Bedingungen eröffnen. Zu diesem Zweck zerschlägt er den Begründungszusammenhang der Philosophie Platons und legt ihn in seine Einzelbestandteile auseinander, die er dann neu sortiert und komponiert. Während nach Platon allein den ewigen und unveränderlichen Ideen wahres Sein zukommt und die empirischen Erscheinungen als bloße – mehr oder weniger gelungene oder missratene – Abbilder derselben gelten, verwirft Aristoteles die Ideenlehre. Er ist zwar ebenfalls überzeugt davon, dass die Wissenschaft nicht bei der ungeordneten Vielfalt der einzelnen und unverbundenen Erfahrungstatsachen stehen bleiben kann, sondern das ihnen Gemeinsame und Allgemeine zu erkennen hat, doch sucht er dieses nicht hinter, sondern in den Einzeldingen. Er findet es in der ewigen „Form“, die als schaffendes Prinzip (Entelechie) den Primat über die Materie besitzt und ihr Gestalt, Bewegung und Veränderung vermittelt (vgl. Metaphysik I (A), 9; II (B), 3, 4; XIII (M), 4).

Hatte Platon in der Politeia eine auf philosophischer Einsicht basierte vollkommene Stadt konstruiert, die ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse und Interessen der Einzelnen die Idee des Guten und die Prinzipien der Gerechtigkeit realisiert, so geht Aristoteles aus vom Streben der Menschen nach Glückseligkeit, das nicht einem Höheren untergeordnet, sondern selbst der höchste Lebenszweck ist. Die von den Ideen verbürgte Sicherheit ist entfallen, der Mensch wird nicht mehr von der vorgegebenen Gesamtordnung der Polis behütet, er hat sie in Kooperation mit seinen Mitbürgern selbst hervorzubringen. Demzufolge erhalten die ethischen und dianoetischen, das heißt verstandesmäßigen Tugenden wieder einen anderen, höheren Stellenwert. Sie sind keine Charaktereigenschaft irgendwelcher „Wächter“, sondern müssen von den Bürgern entwickelt werden und zeichnen verantwortlich für das Gelingen der politischen Selbstverwaltung. Während die verstandesmäßigen Tugenden (Wissenschaft, Technik, Einsicht, Klugheit, Vernunft, Weisheit) zum größten Teil durch Belehrung entstehen und wachsen, resultieren die ethischen aus Gewöhnung und Sozialisation (Nikomachische Ethik II.1. 1103a14 ff.). Aristoteles beschränkt sich bei ihrer Analyse nicht auf die vier von Platon erörterten Kardinaltugenden, sondern nimmt das Gesamtspektrum aller möglichen Charaktereigenschaften in den Blick. Er gelangt deshalb zu einer präziseren Beschreibung und bestimmt die erforderlichen Tugenden jeweils als Mittelmaß zwischen zwei Extremen (II, 1104a20 ff.; III, 1115a5 ff.; IV, 1119b21 ff.). Tapferkeit und Besonnenheit werden als rechte Mitte (mesótes) zwischen Tollkühnheit und Feigheit, Zügellosigkeit und Stumpfheit bestimmt, die Freigebigkeit und der Stolz als Mitte zwischen Geiz und Verschwendung bzw. Eitelkeit und Kleinmut, die Sanftmut als „Mitte beim Zorn“ usw. Auch die Gerechtigkeit wird „mesotisiert“ und als Mitte zwischen Unrechttun und Unrechtleiden begriffen (V. 9. 1133b30 ff.). Da diese Bestimmung aber unzureichend bleibt, unternimmt Aristoteles eine gründliche und weit ausgreifende Analyse (V, 1129a3 ff.), die bis heute die ethischen Debatten und den Gerechtigkeitsdiskurs belebt.

Aristoteles begreift den Menschen als zôon lógon echón, als sprach- und vernunftbegabtes Lebewesen, sowie als zôon politikón, als ein politisches Lebewesen, das seinen Sinn und Zweck (télos) nicht in sich selbst, sondern nur in der Interaktion und Kooperation mit seinesgleichen finden kann (Politik I, 1253a2 f.; III, 1278b19 ff.). Ein sinnerfülltes Leben lässt sich demzufolge nicht durch Rückzug von den anderen führen, sondern nur im Zusammenwirken mit ihnen. Der freie Bürger soll seinen Lebenssinn nicht in der Arbeit (poíesis), der Herstellung von Gütern oder Werken, bzw. in der Akkumulation und Konsumtion von Reichtum und Besitz suchen und finden, sondern einerseits in der Kontemplation, der theoretischen Betrachtung der Welt, andererseits in der Praxis, im kollektiven Handeln, in der Gemeinschaft, der Kommunikation und Interaktion mit anderen, die sich – wie Aristoteles betont – von der Poiesis, dem Herstellen und Machen, dadurch unterscheidet, dass sie ihren Zweck in sich selbst trägt, während jene Ziele verfolgt, die außerhalb der Tätigkeit gelegen sind (Nikomachische Ethik VI, 1139a36 ff., 1140b6). Das politische Engagement, die Mitwirkung an der Selbstverwaltung der Polis und ihren Unterabteilungen, gilt folglich als Selbstzweck und als unverzichtbares Moment eines geglückten oder glücklichen Lebens (Politik VII, 1324a5 ff.).

Die Polis – als agierende und interagierende Bürgerschaft – realisiert bei Aristoteles jene Gesetzesherrschaft oder Nomokratie, die Platon in seinen späten Dialogen, im Politikos und in den Nomoi, begründet hatte. Der Akzent liegt nunmehr eindeutig auf der Ordnung, auf den Ämtern und Institutionen, die dem richtigen und guten Leben dienen sollen. Im Zentrum der Politik steht die Politeía, die Verfassung und die Ämterordnung. Als Bürger gilt jeder, der an der regierenden, beratenden oder richterlichen Gewalt teilhat (Politik III, 1275b18 ff.). Ausgeschlossen bleiben Frauen und Sklaven. Hatte Platon noch die „ökonomische“ Freiheit, den Warentausch und das Privateigentum, aus der guten Polis und der Idee der Gerechtigkeit verbannt, da sie die Gefahr, ja die Notwendigkeit des Betruges in sich birgt, so wirft Aristoteles diesen Begründungszusammenhang über Bord, um zu zeigen, dass es neben der universalen Gerechtigkeit noch partikulare Formen derselben gibt: die distributive (austeilende), die kommutative (ordnende) und die ausgleichende oder wiedervergeltende, kurz: die Tausch-Gerechtigkeit (Nikomachische Ethik V. 4. 1130a15 ff.; Politik I, 1256b40 ff.). In diesem Rahmen entwickelt Aristoteles den Gedanken der Billigkeit (epieíkeia), der auch in heutigen Diskussionen fortwirkt. Zugleich gelangt er zur Idee der Gleichheit, die aber nicht auf die numerische, sondern auf die qualitative Gleichheit der Menschen zielt, die von ihrer jeweiligen Würde und Leistung abhängt. Das Wesen der Gerechtigkeit besteht demnach in der Gleichbehandlung, der Fürsorge und im Sich-Kümmern um die anderen Menschen.

Platons Lehre, wonach das höchste Ziel einer vernünftig eingerichteten Polis die größtmögliche Einheit und deshalb die Weiber- und Kindergemeinschaft nötig sei, wird einer scharfen Kritik unterzogen (Politik II, 1261a10 ff.). Aristoteles insistiert auf der Trennung des Öffentlichen und Privaten. Die Polis dürfe nicht als große Familie bzw. als Haushalt (oîkos) missverstanden werden. Ihr Wesen sei nicht Einheit, sondern Vielheit, sie müsse die Unterschiede zwischen den einzelnen Familien respektieren und dürfe ihre Freiheit nicht beschneiden (II, 1261a16 ff.). Das Endziel der Verfassung sei die Glückseligkeit der Bürger, die in der vollkommenen Verwirklichung und Anwendung der Tugend (areté) besteht (VII, 1332a5 ff.). Die Tugend aber sei bedingt durch die Natur (phýsis), die Gewöhnung (éthos) und die Vernunft (lógos). Zwar sind einzelne zur Tüchtigkeit erforderliche Charaktereigenschaften durch die Erbanlagen festgelegt, doch müssen die meisten erst durch Sozialisation und Lernprozesse aktiv erworben werden. Ihrer Entfaltung hat die Erziehung in der Polis zu dienen (VII, 1332b12 ff.).

Obgleich die Prinzipien seiner Ethik den Gedanken der Demokratie nahe legen, war Aristoteles ein Gegner und Verächter derselben. Ähnlich wie zuvor Platon (Politikos, 291 c ff., 301 a ff., 303 a, b), unterscheidet auch er sechs Regierungsformen, die sich aus der Verdoppelung der traditionellen Trias ergeben. Neben die numerische setzt er eine normative Unterscheidung, indem er Monarchie, Aristokratie und Demokratie nach ihrer Qualität befragt und in sich differenziert (siehe den obigen Auszug). Das Qualitätsmerkmal resultiert aus der Art, wie die Regentschaft jeweils ausgeübt wird. Ist das Tun der Regenten am Gemeinwohl orientiert, so ist die Regierung „gut“. Orientiert sie sich aber nur am eigenen Nutzen der Regenten selbst, so ist sie „schlecht“. Entsprechend ergibt sich folgendes Schema:

gute Formen schlechte Formen
Monarchie Tyrannis
Aristokratie Oligarchie
Politie Demokratie

Diese Ordnungen müssen nicht, wie Platon meinte, in einem endlosen Kreislauf ineinander über- oder auseinander hervorgehen. Vielmehr gelangt Aristoteles bei der Analyse der Umwälzungen (metabolé) der Verfassungen (politeía) zu einer Kritik an Platons Verfallstheorie (Politik V,12,1312b11 ff.). Eine Regierungsform verwandelt sich nicht zwangsläufig in die ihr nächstliegende. Sie kann durch alle möglichen abgelöst werden. Die Transformation der Aristokratie in die Oligarchie erfolge ferner nicht dadurch, dass die Regenten geld- und wuchersüchtig werden, sondern weil die Reichen es nicht für richtig halten, dass die Besitzlosen die gleichen politischen Rechte haben (Politik V,1316b1 ff.). Die Monarchie gilt als eine gute oder richtige Verfassungsform, sofern der Alleinregent sich an die geltenden Gesetze bindet und das Wohlergehen der Allgemeinheit im Auge hat. Es sei aber besser, wenn die Entscheidungen der Regierung von einer Mehrzahl guter Männer getroffen werden als von einem Einzelnen, vorausgesetzt, dass diese Männer nicht gegen das Gesetz verstoßen (Politik III,15,1286a25 ff.). Das konstitutive Prinzip der Aristokratie erblickt Aristoteles in der Tugend, das der Oligarchie im Reichtum. Die Demokratie/Politie hingegen basiere auf der Freiheit (Politik IV,8,1294a10 f.). Da Aristoteles den ärmeren Schichten unterstellt, sie würden blindlings ihren Volksführern folgen, die ihrerseits nur ihre eigenen Interessen verfolgen und die Wohlhabenden übervorteilen und unterdrücken (Politik V,9,1310a2 ff.), sucht er nach einer Ordnung, in der die Interessen Aller gleichermaßen zur Geltung kommen, in der also ein Ausgleich möglich wird. Präferiert wird die Politie, in der die wenigen Reichen insgesamt so viel Gewicht haben wie die vielen Armen (Zensusstimmrecht) und alle Bürger sich im Sinne eines Rotationsprinzips in der Rolle der Regenten und Regierten abwechseln (I,12,1259b4 ff.; VI,2,1317b1). Weil alle „reinen“ Formen die Gefahr des Abgleitens in ihr negatives Gegenüber in sich bergen, empfiehlt Aristoteles den Völkern, sie mögen die einzelnen Prinzipien durch einander relativieren und Mischverfassungen – er nennt sie ebenfalls Politie – institutionalisieren.

Dieser Vorschlag wurde in der Folgezeit beherzigt. Zwar wurden die demokratischen Einrichtungen in Athen beibehalten, doch wurden sie zusehends ihrer Substanz beraubt. Die politische Macht geriet in die Hände der alten Eliten, die Masse der Armen verzichtete gegen Ende des 4. Jahrhunderts nach und nach auf ihr Bürgerrecht. Sie zog sich freiwillig aus der Politik zurück und übertrug die städtische Macht den wenigen Reichen. Die Demokratie verwandelte sich in die Oligarchie der Honoratioren. Der antike Euergetismus, die Armenfürsorge der Wohlhabenden, ersetzte die politische Partizipation. Die Rolle des Monarchen in der praktizierten Mischverfassung übernahm der einstige Zögling des Aristoteles, der Makedonier Alexander der Große, der die Ära der autonomen Poleis 338 v. Chr. beendete, indem er sie unterwarf und seinem Weltreich eingliederte. Die Idee der Mischverfassung blieb jedoch lebendig. Sie wurde von den Peripatetikern hochgehalten und gelangte von ihnen zu den Anhängern und Verteidigern der römischen Republik (Polybios, Cicero). Auch in der Moderne wurde dem aristotelischen Ratschlag entsprochen. In den repräsentativen Demokratien westlichen Typs wurden Verfassungen institutionalisiert, in denen sich die drei Regierungsformen gegenseitig relativieren und balancieren: alle Bürger („Demokratie“) wählen einige ins Parlament („Aristokratie“), die wiederum einen zum Kanzler oder Präsidenten berufen, der alleine die Richtlinien der Politik bestimmt („Monarchie“). In Präsidialsystemen erfolgt auch noch die Wahl des „Monarchen“ durch das souveräne Volk. Es handelt sich folglich um Mischverfassungen, die im Sinne des Aristoteles die drei gegensätzlichen Prinzipien miteinander verschränken und konstitutionell begrenzen. Allerdings handelt es sich hierbei nicht mehr um Poleis, sondern um Staaten, die mithilfe von Bürokratien und stehenden Heeren das Monopol der legitimen physischen Gewaltsamkeit ausüben.

→ Dieser Beitrag ist digital auffindbar unter: DOI https://doi.org/10.46499/1651.2037

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