Читать книгу Haus der Geheimnisse - Rita Hajak - Страница 4
Eins
ОглавлениеEs war Freitagmorgen, kurz vor sieben Uhr.
Katja schaltete das Radio ein, um die Nachrichten zu hören, bevor sie aufstand. Genüsslich streckte sie sich im Bett aus. Sie horchte auf. In der Nacht soll es im Norden Deutschlands heftig geschneit haben. Der Verkehr, in der Hamburger Innenstadt sei zum Erliegen gekommen. Es sollen sich bereits mehrere Auffahrunfälle ereignet haben.
Ungläubig schüttelte sie den Kopf und schlug die Bettdecke zurück. Sie schlüpfte in die Fellpantoffeln und trippelte zum Fenster. Zögernd zog sie den Rollladen hoch. Tatsächlich! Draußen war alles zugeschneit. Und das Mitte März. Vom nahenden Frühling war nichts mehr zu spüren. Stattdessen kehrte der Winter zurück. Sie konnte froh sein, nicht zur Uni fahren zu müssen. Alle Prüfungen hatte sie hinter sich gebracht. Plötzlich erstarrte sie. Was hatte der Sprecher da eben gesagt? Ein Flugzeugunglück auf dem Flughafen O'Hare in Chicago? Leichenblass zwang sie sich, Ruhe zu bewahren. Um welche Uhrzeit soll sich das Unglück ereignet haben?
Ihre Eltern waren vor einer Woche zu einem Kongress nach Chicago geflogen. Ihr Vater, Professor für Naturwissenschaft, sollte bei diesem Treffen einen Vortrag über neue wissenschaftliche Erkenntnisse halten. Ihre Mutter begleitete ihn, da sie als seine rechte Hand im gleichen Institut arbeitete. Sie befanden sich bereits mit einer Maschine der Lufthansa auf der Rückreise und würden gegen 9:10 Uhr in Hamburg eintreffen. Vor dem Abflug, um 16:15 Uhr, OZ Chicago, hatte Katja noch mit ihrer Mutter telefoniert. Es musste sich um ein anderes Flugzeug handeln.
Die Angst blieb. Sie konnte nicht verhindern, dass ihr Herz wie wild klopfte.
Katja zog ihren Hausanzug über und begab sich hinunter in die Küche. Hier war es angenehm warm. Die Heizung ließ sie über Nacht angeschaltet. Sie war so aufgeregt, dass sie auf das Frühstück verzichtete. »Ich werde Isabel im Institut anrufen«, sagte sie zu sich selbst. Isabel war die Sekretärin ihres Vaters und diejenige, die alles aus erster Hand erfuhr. Sie würde wissen, ob ihre Eltern in Sicherheit sind.
Genau in dem Augenblick, als sie zum Telefonhörer greifen wollte, klingelte es an der Haustür. Sie schaute kurz auf die Uhr, die bedrohlich laut tickte. Es war kurz nach halb acht. Katja wurde es übel. Wer kann das sein? Vorsichtig öffnete sie. Davor standen Isabel und Professor Landau, der Chef des Instituts. Katja verschlug es die Sprache. Sie spürte sofort, dass das nichts Gutes bedeutete.
Sie brachte kein Wort heraus, starrte die beiden nur verstört an.
»Dürfen wir hereinkommen?«, fragte Dr. Landau.
»Entschuldigen Sie, selbstverständlich.«
Katja ging voraus in die Küche. »Es ist also wahr?«, stellte sie fest und begann zu zittern.
»Sie haben es bereits in den Nachrichten gehört?« Isabel schaute Katja besorgt an.
Diese nickte. »Ist was mit meinen Eltern? Nun sagen Sie schon.« Katja bemerkte, trotz ihrer eigenen Unruhe, dass sich die beiden unbehaglich fühlten.
Zögernd berichtete Professor Landau von dem schrecklichen Unglück, das sich in Chicago abgespielt hatte: »Ein Hydraulikausfall soll den Piloten nach dem Start zur sofortigen Umkehr gezwungen haben. Die Landung missglückte. Das Flugzeug war auf der Landebahn des Flughafens zerschellt und dann in Flammen aufgegangen.« Er hielt kurz inne. »Unter den Passagieren und Besatzungsmitgliedern haben viele das Unglück nicht überlebt.«
Isabel fügte leise an: »Ihre Eltern sind auf dem Weg in die Klinik an den Folgen des Unfalls verstorben! Wir haben das sofort überprüfen lassen. Katja, wir bedauern den Tod Ihrer Eltern von ganzem Herzen.«
Es dauerte einige Sekunden, bis Katja begriff, was geschehen war. Ein Schwindelgefühl erfasste sie, und es wurde ihr schwarz vor Augen. Sie tastete nach einem Halt und wäre gestürzt, hätte Professor Landau sie nicht rechtzeitig ergriffen. Behutsam führte er sie zu einem Stuhl.
»Heißt das, meine Eltern sind … tot? ?«, fragte sie mit tonloser Stimme. Ihr Blick war leer.
Die Sekretärin und der Professor nickten stumm.
»Das kann nicht sein! Sie müssen sich irren!«, schrie Katja fassungslos. Mit den Fäusten schlug sie auf den Tisch. Ihre Schultern bebten. Weinend verbarg sie das Gesicht in ihren Händen. Sie schluchzte herzzerreißend und Isabel legte ihr mitfühlend die Hand auf die Schulter.
Katja konnte sich nicht beruhigen. »Ich kann es nicht glauben«, weinte sie und stand auf.
Isabel nahm sie in den Arm. »Es tut mir unendlich leid. Können wir jemanden verständigen?«
Energisch schüttelte Katja den Kopf. »Lassen Sie mich jetzt alleine.« Sie schniefte ins Taschentuch. Isabels mitleidige Blicke entgingen ihr nicht.
Auch Dr. Landau wusste nicht, was er sagen sollte und murmelte ein paar Worte des Bedauerns. »Es wäre nicht gut alleine zubleiben«, meinte er beunruhigt.
Es klingelte an der Haustür. Professor Landau ging durch den Flur und öffnete.
»Guten Morgen, ich wollte zu Katja Berghoff«, sagte Markus Melzer.
»Wer sind Sie?«, wollte Landau wissen.
»Lassen Sie ihn herein!«, rief Katja ungehalten. »Er ist ein Freund und Nachbar.« Sie flüchtete in seine Arme, als er ihr entgegenkam. »Oh Markus, ich kann es nicht ertragen, es tut so weh.«
»Was ist passiert?« Er war völlig ahnungslos. Als Markus erfuhr, was geschehen war, musste er sich zusammen nehmen, um nicht die Fassung zu verlieren.
Isabel und Dr. Landau verabschiedeten sich und versicherten, dass sie sich um die notwendigen Formalitäten kümmern werden.
Katja hatte nicht mehr zugehört. Ihre Gedanken überschlugen sich. »Was soll ich jetzt machen?«, jammerte sie hilflos. »Ich werde nie mehr glücklich sein. Ohne meine Eltern kann ich mir das nicht vorstellen. Sie waren alles, was ich hatte. Warum mussten ausgerechnet meine Eltern zu diesem Kongress fliegen? Bisher hatte sich der Chef persönlich darum gekümmert. Und nun dieses Unglück. Ich kann es nicht fassen. Sie waren doch noch so jung.«
»Ich werde dir helfen. Du bist nicht alleine«, sagte Markus. »Du hast mich. Ich kann dir nachfühlen, wie du leidest. Es ist unfassbar, dass das passieren musste. Das Leben kann so grausam sein.«
Für Katja war das kein Trost. Die Tränen flossen in Strömen über ihre Wangen.
Markus hielt sie schweigend im Arm und streichelte ihr tröstend über den Rücken.
Katja begriff, dass hier jedes weitere Wort überflüssig gewesen wäre. Allmählich beruhigte sie sich und bat ihn, zu gehen. »Ich möchte mich hinlegen.«
»Ich werde später wiederkommen«, versprach er und bat um einen Schlüssel. Gerne verließ er Katja nicht. Sie wirkte so apathisch.
»Danke! Und … Markus? Außer dir will ich niemand sehen.«
Nachdem der junge Mann gegangen war, weinte sie laut auf und rannte verzweifelt in ihr Schlafzimmer. In ihrem Bett rollte sie sich zusammen wie ein Igel und zog die Decke über den Kopf.
In den folgenden Tagen funktionierte Katja wie eine Marionette. Sie hielt sich mühsam aufrecht. Dass sie mit Markus zur Identifizierung ihrer Eltern nach Chicago fliegen musste, nahm sie wie durch einen Nebelschleier wahr. Der Hausarzt verordnete ihr ein beruhigendes Medikament, sonst hätte sie die Reise sicherlich nicht durchgestanden. Markus war Rechtsanwalt und konnte in ihrem Namen alles Nötige erledigen.
Nachdem ihre Eltern überführt und beerdigt waren, fiel die Starre von ihr ab. Sie brach zusammen. Nun brauchte sie nicht mehr tapfer zu sein, konnte sich endlich ihrem Schmerz hingeben. Gleichgültig nahm sie es hin, dass Markus den Hausarzt herbeirief. Gerne hätte dieser sie für einige Zeit in die Obhut von Verwandten geschickt. Doch Katja behauptete, es gäbe niemand. Der Arzt verabreichte ihr weiterhin ein leichtes Beruhigungsmittel, damit sie schlafen konnte. Das war ihr recht, denn sie wollte nur noch Ruhe haben. Markus war der einzige, den sie in ihrer Nähe ertragen konnte. Wie wäre sie ohne seine Hilfe fertig geworden? Katja war ihm dankbar.
Die Zeit, die nun folgte, war die schlimmste in ihrem bisherigen Leben. Es war ihr bewusst, dass sie Markus viel abverlangte. Er sorgte für sie, brachte ihr Essen, das seine Mutter für sie mit zubereitete. Neben seinem Beruf kümmerte er sich rührend um ihre Belange. Wenn es die Wetterlage zuließ, verbrachte Katja den ganzen Tag am Grab ihrer Eltern. Manchmal vergaß sie die Zeit, und Markus musste sie vom Friedhof nach Hause holen.
Sie war froh, ihre Anstellung als Referendarin in diesem Jahr nicht antreten zu müssen. Obwohl Markus meinte, eine Beschäftigung hätte sie von ihrem Schmerz abgelenkt. Aber konnte er wirklich ahnen, was in ihr vorging?
Allmählich begann sie, Schritt für Schritt, ihre alltäglichen Dinge wieder selbst zu verrichten.
Zwei
Für August war es viel zu nass. Tagelang hatte es geregnet. Heute brachen die Wolken auseinander. Ein leichter Dunst hing in der Luft. Katja stand eine Weile am Küchenfenster und blickte nachdenklich hinaus. Sie musste den Garten in Ordnung bringen. Überall wucherte das Unkraut. Ihre Mutter hatte sich viel Mühe mit der Pflege des Gartens gegeben. Katja war lustlos, musste sich zu allem zwingen. Wie soll das weitergehen, fragte sie sich?
Der Postbote kam auf das Haus zu und riss sie aus ihren Gedanken. Er hatte etwas in den Briefkasten geworfen. Sie winkte ihm kurz zu, als er zum Fenster schaute.
Katja stellte die Tasse Kaffee, die sie in der Hand hielt, auf den Tisch. Verwundert zog sie den seidenen, rosafarbenen Morgenmantel fester um ihre zierliche Taille und huschte hinaus an das Gartentor. Postsendungen waren in der letzten Zeit selten geworden.
Erstaunt schaute sie auf den Umschlag, der ihr beim Öffnen des Briefkastens vor die Füße gefallen war. Neugierig hob sie ihn auf. Es war ein Brief aus England, von Tom Graham, ihrem ehemaligen Studienprofessor in Kunstgeschichte. Seit der Beerdigung ihrer Eltern hatte sie von ihm nichts mehr gehört. Er war kurze Zeit danach in den Ruhestand getreten und in seine Heimat zurückgekehrt. Ihr Herz klopfte aufgeregt.
Katja brannte darauf, den Brief zu lesen. Sie musste sich beherrschen, ihn nicht gleich aufzureißen. Geschwind lief sie ins Haus zurück. In der Küche setzte sie sich auf den Stuhl. Mit unruhigen Händen und äußerst gespannt, aus welchem Grund der Professor ihr geschrieben hatte, öffnete sie das Kuvert. Sie faltete das weiße Blatt auseinander und begann zu lesen:
Liebe Katja,
Sie werden sicherlich überrascht sein, wenn Sie diesen Brief in den Händen halten. Aber ich habe Sie in so lieber Erinnerung und kann mir denken, dass die Trauer um Ihre Eltern noch sehr groß ist. Etwas Abwechslung würde Ihnen bestimmt guttun.
Ich lade Sie deshalb herzlich ein, für einige Zeit Gast in meinem Haus in Cornwall zu sein. Wenn Sie Lust dazu haben, können Sie mir bei der Katalogisierung meiner Bücher behilflich sein. Ich habe Ihr Interesse an guter Literatur stets wohlwollend beobachtet. Sie haben mir bei unserem Abschied erzählt, dass Sie Ihre vorübergehende Tätigkeit in einer Antiquariats-Bibliothek im November beginnen werden. Bis dahin wäre noch genügend Zeit. Ich würde mich sehr über Ihr Kommen freuen und erwarte bald Ihre Zusage. Ein Flugticket sende ich Ihnen dann umgehend zu.
Mit den besten Grüßen
Ihr Tom Graham
Katja schüttelte staunend den Kopf. Mit einer Einladung nach Cornwall hatte sie nicht gerechnet. Nachdem sie den Brief zum zweiten Mal gelesen hatte, ließ sie ihn sinken. Sie musste dem Professor zustimmen. Eine Veränderung würde ihr nicht schaden. Die Einsamkeit, in die sie geflüchtet war, begann sie zu erdrücken. Wie schön, dass er an sie gedacht hatte.
Mechanisch setzte sie die Tasse an den Mund und trank einen Schluck. Angewidert verzog sie das Gesicht. Der Kaffee war inzwischen kalt geworden; sie goss den Rest in die Spüle.
Eine Weile starrte sie auf das kleine Bild ihrer Eltern, das auf dem Küchentisch stand. Jetzt spürte sie ihn wieder, diesen Stich in ihrem Herzen. Es tat immer noch sehr weh. Wie gut, dass sie Ihrer Mutter am Telefon von ihrem bestandenen Diplom erzählt hatte. Katja wusste, dass ihre Eltern sehr stolz auf sie gewesen waren. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, die sie tapfer versuchte hinunterzuschlucken. Was sollte sie tun? Was hätten ihre Eltern zu dieser Einladung gesagt? Sie hatte sich immer auf ihren Rat verlassen – aber nun? Auch sie mochten den Professor gerne. Ihr Vater hatte einige Male naturwissenschaftliche Vorträge an der Uni gehalten. Dabei hatten sich die beiden Männer kennengelernt. Es hatte sich zwischen ihnen eine lockere Freundschaft entwickelt.
Nachdenklich warf sie einen Blick auf die Küchenuhr. Ich werde Markus anrufen, er wird sicher noch zu Hause sein.
Kaum hatte es im Nebenhaus geläutet, nahm er den Hörer ab. Sie wusste, dass in der Anzeige seines Telefons ihr Name stand.
»Guten Morgen, Katja«, meldete er sich überrascht, »du bist aber früh dran heute.«
»Markus, bitte komme einen Moment herüber, ich brauche deinen Rat.« Ohne eine Antwort abzuwarten, legte sie den Hörer auf. Es war nicht ihre Art, ihn wegen unwichtiger Dinge anzurufen. Markus musste wissen, dass es sich um etwas Ernstes handeln würde. Nur mit ihm konnte sie darüber reden. Sicherlich hatte sie ihn beim Frühstück gestört. Katja stellte sich vor, wie er sich das letzte Stück Brötchen in den Mund stopfte, bevor er aus dem Haus eilte. Wahrscheinlich würde er auch auf eine Jacke verzichten. Draußen war es seit Tagen mild, trotz der langen Regenperiode.
Es dauerte keine zwei Minuten, da klingelte es an ihrer Tür. Sie war aufgeregt, als sie öffnete. Dennoch bemerkte sie sofort, dass sie richtig vermutet hatte. Er stand hemdsärmelig vor ihr und schluckte eben den letzten Bissen hinunter, was ihr ein kleines Lächeln entlockte.
»Hallo, was ist los, du klangst so merkwürdig?« Markus schaute sie fragend an und streichelte ihr über das Haar. Solche Vertraulichkeiten waren Katja peinlich. Sie bat ihn herein und reichte ihm leicht errötend das Blatt Papier. Sie setzte sich auf den Stuhl und deutete mit einer Handbewegung an, er möge sich ebenfalls setzen.
Neugierig forschte sie in seinem Gesicht, konnte jedoch an seiner Miene nicht erkennen, was er dachte. Nachdem er den Brief gelesen hatte, schaute er sie nachdenklich an. »Würdest du denn gerne reisen?« Er reichte ihr den Brief zurück.
»Ich weiß es nicht. In England ist alles fremd für mich und so gut kenne ich den Professor nun auch wieder nicht«, gab sie zu bedenken. Mit einer hastigen Bewegung strich sie sich eine Haarsträhne hinter das Ohr.
»Ich halte es für eine wunderbare Idee«, meinte er vorsichtig und nahm behutsam ihre Hände in die seinen.
»Meinst du nicht, es täte dir gut, mal unter nette Leute zu kommen? Eine andere Umgebung kann Wunder wirken. Ich möchte dich endlich wieder lachen sehen.« Seine Worte klangen ernst.
Katja blickte ihn zweifelnd an und zog rasch ihre Hände zurück.
»Ich verlasse das Haus nur ungern.«
»Du kannst jederzeit zurückkommen. War Professor Graham nicht ein gern gesehener Gast in eurem Haus? Ich dachte, ihr seid euch sympathisch?«
»Das stimmt schon«, antwortete Katja zögernd, »aber ich war noch nie so weit weg von Daheim.« Nervös strich sie die mit Blümchen bedruckte Decke auf dem Küchentisch glatt.
»Du brauchst nur anzurufen, und ich hole dich wieder ab, wenn es dir dort nicht gefällt.« Es sollte nach einem Scherz klingen.
Katja ging nicht darauf ein. Sie lächelte unschlüssig. Langsam faltete sie den Brief zusammen und steckte ihn in den Umschlag zurück.
Markus sprang vom Stuhl auf und ging in der Küche auf und ab. Dann blieb er vor ihr stehen. »Katja, du musst wieder unter Menschen. Nichts von dem, was geschehen ist, kannst du rückgängig machen.«
»Willst du mich etwa loswerden?« Sie schaute ihn erschrocken an.
»Auf keinen Fall«, entrüstete er sich. »Wenn du nicht willst, dann bleibe hier. Ich bin immer für dich da. Es ist deine Entscheidung.« Mit den Fingern fuhr er durch seine blond gewellten Haare. Eine Geste, die Katja schon oft aufgefallen war. Besonders dann, wenn er sich unsicher fühlte.
Sie schwieg. In ihrem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander und sie konnte erkennen, wie Markus mit sich rang. Sie hatte den Eindruck, als wollte er ihr etwas sagen, ohne den Mut dazu zu finden.
Katja erhob sich ebenfalls. Sie stand direkt vor ihm. Plötzlich spürte sie seine Hände, wie sie ihr Gesicht umschlossen, und fühlte seine Lippen auf ihren Mund.
»Eines solltest du wissen, bevor du fortgehst.« Seine Stimme klang weich und zärtlich, als er ihr gestand: »Ich liebe dich!«
Sie blickte ihn verwirrt an, fühlte sich überrumpelt. Ihre
Stirn kräuselte sich in Falten. Sie trat einen Schritt zurück.
»Markus, ich mag dich wirklich, aber das kommt jetzt sehr überraschend. Ich konnte nicht ahnen, dass du solche Gefühle für mich empfindest. Lass mir bitte Zeit zum Nachdenken.«
»Ich gebe dir alle Zeit, die du brauchst«, antwortete er tapfer und steckte seine Hände in die Hosentaschen.
Katja spürte, dass er enttäuscht war, aber sie konnte es nicht ändern.
»Vielleicht hilft dir diese Trennung, über deine Gefühle klar zu werden«, meinte er.
Sie nickte. Eine Weile überlegte sie. Ihr Blick wanderte zum Fenster hinaus. Ihr Elternhaus stand am Ende einer Reihenhaussiedlung, mit weitem Blick über die angrenzenden Wiesen und Felder. Die letzten Tautropfen der Nacht glitzerten in den Sonnenstrahlen, denen es gelungen war, den Dunst zu durchdringen. In der Ferne sah sie einen Mähdrescher hin und her fahren. Das goldene Korn war reif. Die Ernte hatte begonnen. Früher hatte sie diesen Ausblick genossen. Jetzt schaute sie traurig darüber hinweg. Es musste sich etwas ändern. Ihr Leben konnte so nicht weitergehen. Das war ihr inzwischen klar geworden.
Entschlossen richtete sie sich auf. Ihre Schultern spannten sich, ein feines Lächeln umspielte ihre Lippen. Sie hatte sich entschieden.
»Ja«, sagte sie, »etwas Abstand wird mir guttun. Ich werde fliegen.« Markus würde sich damit zufriedengeben müssen. Es blieb ihm ohnehin nichts anderes übrig. Sie musste ihre Angelegenheiten wieder selbst in die Hand nehmen.
Er versprach, sich um das Haus und das Grab ihrer Eltern, während ihrer Abwesenheit, zu kümmern.
Sie umarmte ihn flüchtig und sagte: »Danke Markus, ich
wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann.«
Am nächsten Morgen schickte sie Professor Graham eine
kurze Nachricht mit ihrer Zusage und den Ankunftsdaten. Sie war überzeugt, dass sie sich richtig entschieden hatte. Der Professor rief sie daraufhin an. Es tat ihr wohl, seine vertraute Stimme zu hören. »Ich freue mich sehr, dass Sie kommen«, sagte er und versicherte ihr, dass ein Angestellter des Hauses sie mit dem Wagen am Bahnhof abholen würde. Das Ticket habe er bereits abgeschickt.
Die nächsten Tage verbrachte sie in einem Zustand von Trauer, Hoffnung und Angst. Für die Reise hatte Katja alles Nötige in Windeseile erledigt.
Markus schlüpfte in sein Jackett, nahm die Aktentasche unter den Arm und war er im Begriff, das Haus zu verlassen. Als er am Dielenspiegel vorbeikam, zögerte er und blickte bekümmert hinein. Ob es eine gute Idee war, Katja überredet zu haben, diese Reise anzutreten?
Seine Mutter, die hinter ihn getreten war, schaute ihn fragend an. »Du hast doch was?«, stellte, sie mit mütterlichem Instinkt fest.
Markus schaute auf die Uhr. »Nun denn, fünf Minuten habe ich noch«, sagte er und legte seine Aktentasche auf die Kommode.
»Ich weiß nicht mehr weiter. Katja lässt mich nicht in ihr Herz schauen. Sie verschließt sich sofort, wenn ich sie auf ihre Trauer anspreche.«
»Junge, sei nicht so ungeduldig. Lass ihr Zeit«, antwortete Frau Melzer. »Sei einfach nett zu ihr. Irgendwann wird sie einsehen, dass es Menschen gibt, die sie lieben. Du liebst sie doch, oder?«
»Ja«, stöhnte Markus, »ich liebe sie. Aber das Schlimme daran ist, ich habe ihr geraten, die Einladung ihres ehemaligen Professors anzunehmen. Sie hat zugesagt. In einigen Tagen fliegt sie nach England.« Auch jetzt fuhr er sich wieder mit den Fingern durch sein Haar.
»Du solltest den Dingen ihren Lauf lassen«, meinte Frau Melzer. Sie zündete sich eine Zigarette an und sog den Rauch tief in die Lungen. Danach blies sie ihn wieder langsam durch die Nase aus.
Markus schüttelte unmerklich den Kopf.
»Katja muss erst ihre Trauer bewältigen«, sprach sie weiter. »Sie ist offensichtlich noch nicht bereit für eine Bindung. Eine Bewährungsprobe kann nicht schaden. Warte dieses Jahr noch ab. In einigen Monaten kann sich viel ändern.« Sie tätschelte seine Wange.
»Meinst du?« Er schaute sie nachdenklich an.
»Ich meine das nicht nur, ich weiß das«, entgegnete sie.
Er nahm seine Mutter in die Arme und drückte ihr einen Kuss auf die Wangen. »Dann will ich meiner klugen Mama mal glauben. Jetzt muss ich aber los, sonst verpasse ich meinen Termin.« Er öffnete die Haustür und drehte sich noch einmal zu seiner Mutter herum. »Und du, Mama, solltest nicht so viel rauchen.«
»Ja, mein Junge«, hörte er sie noch sagen, bevor er die Tür hinter sich ins Schloss fallen ließ.
Markus überquerte die Straße und ging zu seinem Wagen. Er konnte die Blicke seiner Mutter im Nacken spüren. Vermutlich stand sie wie immer hinter der Gardine und schaute ihm nach. Er startete den Wagen und drehte seinen Kopf automatisch zum Haus. Da sah er sie am Fenster. Sie winkte. Er lächelte und hob grüßend die Hand.
Er liebte seine Mutter und sie ihn. Das zeigte sie ihm deutlich. Seit seinem zehnten Lebensjahr hatte sie ihn alleine großgezogen. Sein Vater war damals auf und davongegangen. Ihm war das Leben, das sie führten, zu langweilig geworden. Er war ein Abenteurer. Nie wieder hatte er etwas von sich hören lassen. Sie hatte lange Zeit hart arbeiten müssen, um ihnen einen gesicherten Lebensstandard bieten zu können. Markus hatte sehr darunter gelitten, plötzlich ohne Vater zu sein. Seine Mutter hatte sich ihm zuliebe keinen neuen Partner gesucht. Sie wollte jeden Konflikt vermeiden. In einer stillen Stunde hatte sie es ihm anvertraut. Markus hatte gehofft, sie würde doch noch einen neuen Lebensgefährten finden, aber sie wollte nicht. Er war Anfang dreißig. Seine Mutter hatte das Rentenalter erreicht. Was würde sein, wenn er irgendwann das Haus verließe? Würde seine Mutter zurechtkommen? Ihre Rente war klein. Er jedoch verdiente als Anwalt gut. Deshalb steckte er seiner Mutter jeden Monat einige Scheine zu. Sie hatte lange Jahre auf viele Dinge verzichten müssen. Jetzt sollte sie auch mal an sich denken und sich einige Wünsche erfüllen können.