Читать книгу Haus der Geheimnisse - Rita Hajak - Страница 5

Drei

Оглавление

Völlig verkrampft kauerte Katja auf ihrem Sitz und presste angstvoll die Lippen aufeinander. Nach dem Tod ihrer Eltern hatte sie eine gewisse Flugangst. Aber sie hatte eingesehen, dass es die schnellste Verbindung nach London war. Sie wollte stark sein und ihrer Angst die Stirn bieten. Zu ihrer Erleichterung verlief der Flug ruhig. Allmählich löste sich ihre Anspannung. Erst jetzt nahm sie die anderen Passagiere der voll besetzten Maschine wahr. Verstohlen blickte sie zu ihrem Sitznachbarn, der gemütlich zurückgelehnt in einem Buch las.

Sie schloss die Augen und döste vor sich hin. In der vergangenen Nacht hatte sie vor Aufregung kaum geschlafen. Sie musste an Markus denken. Er liebte sie. Aber liebte sie ihn auch? Darüber hatte sie sich bisher keine Gedanken gemacht, sah in ihm nicht mehr als einen engen Freund. Sie kannte ihn seit zehn Jahren, seit sie mit ihren Eltern in das Haus neben ihm gezogen war. Sie sind zusammen ins Kino oder in die Disco gegangen. Auch bei den Schulaufgaben war er ihr oft behilflich gewesen. Mit der Zeit hatte sich eine wunderbare Freundschaft entwickelt. Als sie vor drei Jahren von ihrem Freund verlassen wurde, war er es, der sie getröstet hatte. Aber musste sie ihn deshalb lieben? Allerdings fiel ihr der Abschied heute Morgen auch nicht gerade leicht. Markus hatte es sich nicht nehmen lassen, sie zum Flughafen zu begleiten. Sie seufzte und musterte den Mann an ihrer Seite.

Er schien ihren Blick gespürt zu haben. »Kann ich Ihnen helfen?« Seine Stimme klang warmherzig.

Katja schämte sich, als ihr bewusst wurde, dass sie ihn eine ganze Weile angestarrt haben musste. Eine leichte Röte flog über ihr Gesicht. »Entschuldigen Sie, ich war in Gedanken. Es ist alles in Ordnung.« Sie hatte keine Lust, sich mit ihm zu unterhalten. Dennoch wirkte dieser Mann beruhigend auf sie. Wie alt mochte er sein? Um die Dreißig, wie Markus, dachte sie flüchtig.

Der junge Mann lächelte belustigt. Er schien ihr kein Wort zu glauben. Sicher hätte er gerne mit ihr geplaudert. Aber worüber? Über ihre Trauer? Über Markus? Er war ein Fremder für sie.

Entschieden wandte sie ihr Gesicht zur Seite und schaute aus dem kleinen Fenster auf die dichte Wolkendecke. Sie wollte ihre Ruhe haben und schloss die Augen. Sie erwachte erst, als die bevorstehende Landung des Flugzeugs angekündigt wurde. Unmittelbar danach ebbte das Geräusch der Turbinen etwas ab, und sie spürte am Druck in ihren Ohren, dass die Maschine an Höhe verlor.

Katja atmete erleichtert auf, als das Flugzeug sicher gelandet war. Der junge Mann nickte ihr zum Abschied freundlich zu. Sie nickte lächelnd zurück.


Die weiterreisenden Passagiere fuhren mit der Express-Bahn in kurzer Zeit direkt in den Bahnhof von Paddington ein. Der Zug nach Cornwall stand abfahrbereit am Bahnsteig.

Katja hatte einen Fensterplatz gefunden und schaute nachdenklich hinaus. Links und rechts neben den Gleisen erhoben sich blühende Büsche und Hecken, die wenig Blick auf die Umgebung freigaben. Ein schöner, weiter Ausblick auf die Landschaft bot sich ihr bei der Überfahrt einer hohen, aus hellem Stein gemauerten Brücke. Unter ihr sah sie saftige, grüne Wiesen und bunte Blumen.

Sie fragte sich, was sie bei Tom Graham wohl erwarten würde. Über sein Privatleben wusste sie wenig. Er war Witwer und hatte einen Sohn in ihrem Alter. Mehr wollte er anscheinend nicht preisgeben. Während ihrer Studienzeit an der Hamburger Universität hatte sich zwischen ihnen beiden ein warmherziges Verhältnis entwickelt. Mr. Graham hielt dort als Gastprofessor viele Jahre Vorlesungen in Kunstgeschichte, einem ihrer Lieblingsfächer. Kurz vor seinem sechzigsten Geburtstag trat er in den Ruhestand und kehrte nach England zurück. Ob sie sich richtig entschieden hatte, dorthin zu reisen? In ein fremdes Land, wo sie außer ihm niemand kannte?

Sie verwarf ihre negativen Gedanken und beschloss, sich auf den bevorstehenden Besuch zu konzentrieren. Neugierig war sie schon. Es wäre ihr nur lieber gewesen, sie hätte mehr über die Familie gewusst.

Ein Bahnangestellter schob den Getränkewagen durch den Gang. Katja genehmigte sich eine Tasse Kaffee.

Nach einer langen Fahrt trudelte der Zug in das Provinzstädtchen in Cornwall ein. Hastig nahm sie ihre Koffer an sich, stieg aus und verließ das Gebäude. Draußen hatte sie direkten Blick auf das Meer. Es war neblig. Ein kühler Wind wehte ihr ins Gesicht.

Aus einiger Entfernung vernahm sie das Motorengeräusch eines Bootes, vermutlich ein Fischkutter. Es roch nach Fisch und Tang, was auf den nahe gelegenen Hafen schließen ließ. Eine Schar Möwen kreiste über dem Wasser, als erhofften sie, einige Leckerbissen zu ergattern. Katja blickte sich nach dem Wagen um, der sie nach Lands End bringen sollte. Sie sah einen älteren Mann in dunkler Bekleidung auf sie zueilen. Sie vermutete, dass er im gleichen Alter war wie der Professor.

Mit einer steifen Verbeugung stellte er sich als John Taylor vor. »Sie sind Miss Berghoff?«

Sie nickte freundlich und reichte ihm die Hand, die er ziemlich rasch wieder losließ. Etwas an ihm störte sie. War es der feindselige Blick? Vielleicht lag es auch an ihr. Seit dem Unglück war sie kaum mit Menschen zusammengekommen und reagierte wohl etwas überempfindlich. An der Sprache konnte es nicht liegen, die beherrschte sie perfekt. Während Mr. Taylor ihr Gepäck verstaute, ließ sie sich in die weichen Polster des Wagens sinken.


Es war bereits Mittag. Allmählich löste sich der Nebel auf. Sie fuhren durch einige Dörfer, die freundlich wirkten. Die Häuser aus dunklem Gestein waren aneinandergereiht, wie an einer Kette. In den Vorgärten blühten farbenfroh die letzten Sommerblumen.

Die Straße wurde schmaler.

»Wir sind gleich da«, sagte ihr Chauffeur, der während der Fahrt geschwiegen hatte. Jetzt öffnete er das Schiebedach des Wagens. Katja konnte das Meer riechen. Ein Schwarm Seevögel flog mit durchdringendem Geschrei über sie hinweg. Sie warf ihnen einen verträumten Blick hinterher.

Endlich waren sie in Lands End angekommen. Taylor bog auf ein großes mit Koniferen umrandetes Wiesengrundstück ein, auf dem viele Sträucher blühten und mehrere Obstbäume standen. Er lenkte den Wagen über einen Kiesweg vor den Hauseingang. Rosenstöcke säumten die Einfahrt. Die Sonne zeigte sich blass und hatte ihren höchsten Stand erreicht. Katja war beeindruckt. Ebenso von der zauberhaften Villa mit dem Türmchen und dem mit Schiefer gedeckten Dach. Durch die vielen, kleinen Winkel und Ecken des Hauses sah es aus wie ein verwunschenes Märchenschloss.

Sie war bereits ausgestiegen, als sich die Haustür öffnete und eine große, schlanke Frau heraustrat, die vermutlich den Zenit ihres Lebens schon überschritten hatte. Sie sah hübsch und gepflegt aus. Ihr schwarzes Haar war zu einer schicken Hochfrisur aufgesteckt.

Sie kam Katja entgegen und reichte ihr die Hand. »Schön, dass Sie da sind, Miss Berghoff«, sagte sie höflich. »Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Reise.« Ihrer Stimme war nicht zu entnehmen, ob sie sich über den Besuch freute.

»Vielen Dank«, erwiderte Katja, »auf jeden Fall war es eine lange Reise.«

Die Frau schenkte ihr ein kurzes Lächeln und stellte sich vor:

»Mein Name ist Mary Lindslay, ich kümmere mich um alle Angelegenheiten, die das Haus betreffen.« Mit einer einladenden Handbewegung bat sie den Gast herein.

Als Katja über die Türschwelle trat, lief ihr ein Schauer über den Rücken. Der breite Flur mit der riesigen Säule neben dem Eingang wirkte düster. Sie zögerte einen Moment. Ein hoher, golden umrahmter Spiegel an der Wand sowie der Garderobenschrank und die Truhe aus dunklem Holz, erinnerten sie an einen Gruselfilm. Lediglich der runde, hell gemusterte Teppich auf dem dunklen Marmor wirkte auflockernd.

Mrs. Lindslay riss sie aus ihren Gedanken. »Kommen Sie, ich zeige Ihnen Ihr Zimmer, damit Sie sich frisch machen können. Mr. Graham hat mit dem Lunch auf Sie gewartet.« Sie führte Katja über die breiten Marmorstufen in die erste Etage. Am Ende der Treppe teilte sich der Korridor. Die Hausdame ging nach links und öffnete die letzte Tür. »Dieser Raum dürfte Ihnen gefallen«, sagte sie und ließ Katja eintreten. Mrs. Lindslay schaute sich um, als wollte sie sich noch einmal vergewissern, dass auch alles in Ordnung war. »Verschnaufen Sie einen Moment. Wenn Sie bereit sind, drücken Sie auf die Klingel, ich begleite Sie dann in das Speisezimmer.« Während sie das sagte, deutete sie mit dem Finger auf einen runden Knopf, der seitlich am Tisch befestigt war. Danach nickte sie der jungen Frau zu und verließ den Raum.

Endlich hatte Katja Zeit, sich ausgiebig umzusehen. Die Einrichtung gefiel ihr gut. Der Raum war freundlich und hell. Durch die hübschen, goldenen Verzierungen wirkten die Möbelstücke edel. Die Bezüge der Sessel hatten den gleichen rosa Farbton, wie die Gardinen. Verlockend erschien ihr das Bett mit der kuscheligen Decke. Sie spürte eine leichte Müdigkeit aufkommen und gähnte. Am liebsten hätte sie sich hingelegt. Das wäre jedoch sehr unhöflich gewesen. Stattdessen wusch sie sich im angrenzenden Bad Gesicht und Hände, bürstete ihre goldbraunen Haare kräftig durch und band sie zu einem Pferdeschwanz.

Als sie zum Gehen bereit war, drückte sie auf den Klingelknopf. Mrs. Lindslay stand Sekunden später an ihrer Tür. »Ich hoffe, es ist alles in Ihrem Sinne?«, fragte sie und ging voraus.

»Danke, Mrs. Lindslay, es ist ein hübsches, gemütliches Zimmer.« Sie schaute flüchtig auf ihre Armbanduhr. Schon kurz nach zwei. Sie empfand es als nett, dass der Professor mit dem Essen auf sie gewartet hatte.

Als Katja eintrat, erhob er sich und kam ihr mit ausgestreckten Armen entgegen. Die Hausdame zog sich diskret zurück.

Mr. Graham begrüßte Katja herzlich wie eine Tochter und drückte sie liebevoll an sich. »Beinahe hatte ich befürchtet, Sie würden absagen.« Prüfend schaute er sie an. »Sie sind schmal geworden. Ich werde darauf achten müssen, dass Sie hier ordentlich essen«, meinte er scherzhaft. »Auf jeden Fall freue ich mich, dass Sie hier sind.«

»Vielen Dank, für die Einladung, auch ich freue mich sehr, Sie wiederzusehen.« Nervös zupfte sie an ihrem Blusenkragen.

»Ich bitte Sie, Katja, es ist mir eine Ehre.«

Ihr wurde es warm ums Herz. Sie musterte ihn unauffällig. Sein volles Haar war in den letzten Monaten fast weiß geworden. Er sah für sein Alter immer noch gut aus. Groß und schlank mit wachen blauen Augen.

»Ich musste mich überwinden, von zu Hause wegzugehen«, sagte sie ehrlich.

»Dann freue ich mich umso mehr, dass Sie diese Reise gewagt haben«, entgegnete er charmant. »Bitte nehmen Sie Platz, meine Liebe, wir können gleich mit dem Essen beginnen.«

Während sie sich setzten, ließ sie ihren Blick durch das Zimmer schweifen. Die schweren Samtvorhänge vor dem Fenster schimmerten in einem warmen, rostbraunen Ton. In der Mitte des Raumes stand auf einem rot gemusterten Teppich ein ovaler Esstisch aus edlem, dunklem Holz. Auf weißen Platzdeckchen stand Geschirr für zwei Personen. Die Stühle waren mit weinrotem Stoff bezogen. Auf der Anrichte befand sich ein silberner Kerzenleuchter mit drei weißen Kerzen. Das Zimmer strahlte Gemütlichkeit aus.

Ein Mädchen mit weißer Schürze und Häubchen stellte eine Platte mit Fleisch, verschiedenen Gemüsesorten, und kleinen Kartoffeln auf den Tisch.

Katja verspürte ein nagendes Hungergefühl, als der verführerische Duft des Truthahnbratens, wie sie gleich erkannte, in ihre Nase stieg.

»Das ist Sarah, sie hilft Mrs. Lindslay im Haushalt«, sagte der Professor und wandte sich an die Bedienstete. »Das ist Miss Berghoff. Sie wird eine Weile unser Gast sein.«

Das Mädchen knickste artig, riskierte einen scheuen Blick, und wünschte einen angenehmen Aufenthalt.

»Vielen Dank, Sarah«, erwiderte Katja freundlich.

Während des Essens führten sie eine lockere Unterhaltung. Sie sprachen über ihre Reise, das Wetter und über das lecker zubereitete Mahl. »Es hat ausgezeichnet geschmeckt«, lobte Katja. Professor Graham nickte erfreut. »Ich gebe ehrlich zu: Mrs. Lindslay ist eine vorzügliche Köchin.«

Nachdem sie die Mahlzeit beendet hatten, bat der Professor sie in das Kaminzimmer. »Lassen Sie uns noch ein Gläschen trinken und auf Ihre Ankunft anstoßen.«

»Gerne«, entgegnete sie.


Obwohl Mr. Graham den Raum als Kaminzimmer bezeichnet hatte, tat sich eher eine riesige Bibliothek vor Katja auf. Sie staunte. Die Wände waren bis zur Decke mit Regalen und Schränken zugestellt, in denen eine Menge Bücher untergebracht waren. An der mittleren Wand befand sich zwischen zwei Regalen ein aus Naturstein gemauerter Kamin. Das flackernde Feuer verbreitete eine angenehme Wärme. Über dem Sims hing das Porträt einer schönen Frau.

Eine Weile betrachtete Katja das in Öl gemalte, Gold gerahmte Bild und schaute anschließend den Professor fragend an.

Dieser nickte. »Ja, das ist Ann, meine verstorbene Gemahlin«, sagte er hastig und schlug seine Stirn sorgenvoll in Falten.

Katja spürte, dass er auf dieses Thema nicht eingehen wollte. Sie unterließ es deshalb, weitere Fragen zu stellen.

Unmittelbar danach lächelte er wieder. »Nun, was halten Sie von meiner Büchersammlung?«, fragte er stolz.

»Ich bin beeindruckt. Es sind viel mehr, als ich erwartet hatte.«

»Es wird eine Menge Arbeit auf Sie zukommen. Vielleicht sollten Sie es sich noch einmal überlegen«, meinte der Professor lächelnd.

»Ganz und gar nicht. Es wird mir eine Freude sein und mich ablenken«, gab Katja zu verstehen.

Tom Graham ging zum Barschrank und schenkte Whisky ein.

»Für mich bitte nur einen kleinen Schluck. Ich bin Alkohol nicht gewohnt.«

Der Mann lächelte verstehend und reichte Katja das Glas. Sie setzten sich vor den Kamin in die bequemen Ledersessel.

»Das nenne ich konsequent«. Er prostete ihr zu. »Stört es Sie, wenn ich mir eine Pfeife anzünde?«

»Aber nein! Mein Vater hatte auch hin und wieder eine Pfeife geraucht. In den letzten Jahren allerdings nicht mehr. Meine Mutter mochte diesen Geruch nicht. Ich fand ihn jedoch immer sehr angenehm.«

»Na wunderbar.« Erfreut ließ das Feuerzeug schnappen. Er blies den Rauch genüsslich in die Luft und schaute Katja nachdenklich an.

»Jetzt möchte ich aber wissen, wie es Ihnen wirklich geht?« Seine Stimme klang mitfühlend. »Sie versuchen geschickt ihre Trauer zu verbergen, aber mich können Sie nicht täuschen. Ich kann mir denken, dass Sie noch immer darunter leiden.« Er trank einen Schluck Whisky.

»Sie haben mich durchschaut.« Katja blickte auf ihre Hände, mit denen sie das Glas umklammerte. »Ich komme einfach nicht darüber hinweg. Der Gedanke, meine Eltern nie mehr in den Arm nehmen zu können, ist unerträglich. Ich hoffe sehr, dass mich der Aufenthalt bei Ihnen ablenken wird.« Katjas Lippen zuckten verdächtig. In ihren rehbraunen Augen standen Tränen.

»Das wird er sicher«, stimmte er ihr rasch zu. »Sie brauchen Menschen um sich herum, damit Sie auf andere Gedanken kommen.« Mr. Graham tätschelte väterlich ihre Hand.

»Ich habe mich zu sehr zurückgezogen. Das hat es nicht leichter gemacht«, entgegnete Katja und tupfte sich beschämt die Tränen aus den Augen.

»Sie haben es besonders schwer, weil es keine Verwandten gibt, die sich um Sie kümmern. Auch Ihre Großeltern leben nicht mehr. Sie sind jung Katja, Sie schaffen das schon. Die Zeit heilt Wunden.« Er füllte nochmals einen kleinen Schluck Whisky in sein Glas.

»Auch Sie haben den Verlust Ihrer lieben Frau erleiden müssen«, sagte Katja vorsichtig.

Der Professor lächelte flüchtig. »Man wird solche Schicksalsschläge nie vollständig überwinden. Wenn der Schmerz jedoch nachgelassen hat, kann man besser damit umgehen.« Er sprach mehr zu sich selbst. »Das Leben kann manchmal grausam sein, aber die Welt bleibt deshalb nicht stehen. Sie dreht sich immer weiter.« Sein Gesicht verschloss sich, als er diese Worte sagte.

Leider ist es so«, pflichtete Katja ihm nachdenklich bei. Sie wunderte sich, wie zurückhaltend er von seiner Frau sprach. Zu gerne hätte sie gewusst, woran sie gestorben war. Aber sie traute sich nicht, danach zu fragen.

Er lächelte wieder. »Wie geht es dem jungen Mann, der Ihnen so selbstlos zur Seite gestanden hat? Ist er Ihnen auch weiterhin behilflich?«, fragte Mr. Graham. »Wie hieß er doch gleich?«

»Markus! Er ist ein Freund und kümmert sich auch jetzt um das Haus und das Grab meiner Eltern«, antwortete Katja. Dass sich ihre Wangen gerötet hatten, war dem Professor sicherlich aufgefallen. Welche Schlüsse würde er daraus ziehen? Ihr konnte es egal sein.

»Wenn Sie einen Rat oder Hilfe brauchen, ich bin jederzeit für Sie da«, sagte er nach kurzem Schweigen. »Eine Bitte habe ich noch: Nennen Sie mich beim Vornamen.«

»Gerne und vielen Dank, dass ich hier sein darf«, entgegnete Katja.

Tom lächelte verschmitzt. »Ich gestehe, dass meine Gründe

teils egoistisch sind. Es ist wunderbar, einen Gast wie Sie im Hause zu haben, mit dem man gelegentlich fachsimpeln kann. Sie sind eine Bereicherung in unserer bescheidenen Hütte, wie es so schön heißt«, meinte Tom ernst.

Darüber musste Katja lachen.

»Es ist schön, Sie lachen zu hören. Meine Frau war auch sehr humorvoll gewesen. Früher, als der Junge noch klein war. Das Haus war voller Leben.« Sein Gesicht verschloss sich erneut.

Katja konnte sich denken, dass auch er seine Trauer noch nicht überwunden hatte und unterließ es, darauf zu antworten.

Geschickt versuchte er, das Gespräch in andere Bahnen zu lenken, indem er sie nach ihren Zukunftsplänen befragte.

»Wie Sie bereits wissen, werde ich einige Monate in einer Bibliothek in Hamburg arbeiten und im nächsten Frühjahr die Referendar-Stelle annehmen.«

»Dann haben Sie die Zusage von der Realschule in Hamburg erhalten?«

»Ja, schon im Mai.«

»Darauf sollten wir trinken«, schlug Tom Graham vor.

»Herzlichen Glückwunsch!« Sie prosteten sich zu.

Tom begann, über die Arbeitsbedingungen und Honorierung zu sprechen. »Und bitte«, schloss er, »tun Sie nur das, was Sie wirklich wollen. In erster Linie sind Sie hier, um sich zu erholen und ein wenig Abwechslung zu finden. Nehmen Sie sich Zeit, Sie müssen nicht alles schaffen.«

»Ich werde mich bei dieser angenehmen Tätigkeit sicherlich nicht überarbeiten. Außerdem bin ich froh, eine Aufgabe zu haben«, erwiderte Katja.

»Dann bin ich beruhigt. Sie können getrost etwas für mich übrig lassen.« Er drückte auf einen Klingelknopf.

Kurz darauf trat Mrs. Lindslay ein. »Sie wünschen, Sir?«

Katja wunderte sich über ihre leicht erhobene Stimme.

Den Blick, den Tom der Hausdame zuwarf, entging ihr ebenfalls nicht. Er drehte sein Gesicht sofort wieder Katja zu. »Wenn Sie etwas brauchen, wenden Sie sich vertrauensvoll an Mrs. Lindslay«, meinte er freundlich. »Ach, beinahe hätte ich vergessen es zu erwähnen. Mrs. Lindslay hat einen Sohn, er ist sechzehn und lebt im Internat. Die Wochenenden verbringt er hier im Haus. Ein lieber Junge. Sie werden ihn bald kennenlernen.« Er stand auf. »Ich darf mich entschuldigen. Es warten einige dringende Telefonate auf mich. Schauen Sie sich noch ein wenig um. Erforschen Sie die Schönheit der Umgebung«, forderte er Katja auf.

»Das werde ich, Tom, vielen Dank.«

»Wir sehen uns beim Tee. Mein Sohn Jack wird sicher auch anwesend sein.« Er hob noch einmal grüßend die Hand und verließ das Zimmer.«

Vielleicht möchten Sie sich etwas hinlegen«, schlug Mrs. Lindslay vor. »Sie sind schon seit den frühen Morgenstunden auf den Beinen.«

Katja erhob sich. »Dagegen lässt sich nichts einwenden. Ein Stündchen Ruhe wird mir guttun. Danach inspiziere ich die Bücher in der Bibliothek etwas genauer.«

Die Hausdame brachte Katja zu ihrem Zimmer.

»Danke, Mrs. Lindslay, das nächste Mal finde ich mich alleine zurecht.«

»Bitte nennen Sie mich Mary«, bat die Hausdame.

»Gerne, dann sagen Sie Katja zu mir.«

Mary hob die Augenbrauen leicht in die Höhe und meinte: »Das steht mir nicht zu, Miss Berghoff. Sie sind Gast hier im Haus und ich eine Angestellte. Der Professor liebt solche Vertraulichkeiten nicht.« Sie verließ, mit einem kurzen Gruß, den Raum und schloss hinter sich die Tür.

Katja atmete tief durch. Wie spießig, dann bleibe ich auch bei der bisherigen Anrede, nahm sie sich vor. Sie trat an das kleine Fenster und schaute in den Garten. Er wirkte verwildert. Zwischen Rosen, Fuchsien und Gladiolen wucherte das Unkraut. Es schoss bereits über die ersten Herbstastern hinaus. Katja wandte sich ab und begann ihre Koffer auszupacken.

Nachdem sie ihre Kleidung ordentlich in den Schrank geräumt hatte, ließ sie sich auf das bequeme Bett fallen. Die Reise war doch anstrengend gewesen. Sie streckte sich aus und deckte sich mit dem einen Ende der Decke zu. Allmählich entspannten sich ihre Glieder. Gähnend gab sie sich ihrer Müdigkeit hin und schlief tatsächlich ein.


Katja schreckte aus dem Schlaf hoch. Sie glaubte, durch leises Gemurmel geweckt worden zu sein. Lauschend hob sie den Kopf, aber es war nichts zu hören. Wahrscheinlich hatte sie sich geirrt. Sie schielte auf ihre Armbanduhr. Eine Stunde war vergangen. Rasch stand sie auf, streifte sich einen Pulli über, kämmte sich und zog die Lippen nach.

Sie verließ ihr Zimmer. An der Tür gegenüber steckte ein Schlüssel im Schloss, der ihr zuvor nicht aufgefallen war. Es konnte gut möglich gewesen sein, dass sie von dort heraus die Stimmen gehört hatte. Sie ging den Korridor entlang zur Treppe.

Die Tür am anderen Ende des Ganges war breiter als die übrigen und lag in einer Nische. Die kleinen, schwach leuchtenden Lämpchen an der Wand tauchten den Flur in ein geheimnisvolles Licht.

In der Bibliothek warf sie einen Blick aus dem Fenster. Auch von hier aus konnte man in den Garten sehen. Die Rosenstöcke standen majestätisch und stolz, angestrahlt von der blassen Nachmittagssonne. Schmerzlich dachte sie an den eigenen Garten, den ihre Mutter hingebungsvoll gepflegt hatte.

Katja wandte sich ab, sonst hätte sie wieder angefangen zu weinen. Sie setzte sich vor das knisternde Kaminfeuer und betrachtete eine Weile das Porträt an der Wand. Die Frau trug ein hellblaues Kleid. Um ihre Schultern lag ein weißes Seidentuch, das am Ausschnitt von einer goldenen Brosche gehalten wurde, die wie ein Schmetterling aussah. Die Mitte des Schmuckstücks zierte ein purpurroter Stein. Ein Rubin vermutete sie. Er war von vielen, Steinchen umrandet. Sie blickte fasziniert auf die schöne Frau. Warum hatte der Professor so kurz angebunden reagiert, als er von ihr sprach? Gab es vielleicht einen geheimen Grund dafür? Katjas Neugier war geweckt.

Ein Geräusch schreckte sie aus ihren Gedanken auf. Sie erhob sich, ging zur Tür, öffnete sie und schaute hinaus. Mr. Taylor schlurfte über den Flur mit einer Kiste Brennholz unter dem Arm.

»Oh, Sie, schon eingelebt?«, fragte er gleichgültig und verschwand, ohne eine Antwort abzuwarten, hinter einer Tür, die vermutlich zum Keller führte.

Ein merkwürdiger Mensch. Warum benahm er sich so unhöflich? Katja schüttelte den Kopf. Sie verspürte Lust die Gegend zu erforschen, solange es noch hell war. Bevor sie das Haus verließ, suchte sie nach Mrs. Lindslay, um Bescheid zu sagen.

Diese saß in der Küche. Es sah so aus, als kontrollierte sie irgendwelche Bücher. Mary nahm ihre Brille ab und hob den Kopf.

»Viel Vergnügen«, wünschte sie.

Katja hatte die Tür bereits zugezogen.

Sie marschierte den schmalen Fußweg bergab, der neben dem Fahrweg entlang führte. Er war übersät mit Steinen. Sie musste aufpassen, dass sie nicht stolperte. An den Seiten wucherten dichte Büsche mit herrlichen Blüten, auf denen bunte Schmetterlinge hin und her flatterten.

Kurze Zeit später hatte sie die ersten Häuser des nahegelegenen Fischerdörfchens erreicht. Die Bewohner hasteten an ihr vorüber, ohne sie zu beachten. Sie wanderte weiter durch enge Gassen, bis sie über einen kleinen Pfad zum Meer gelangte. In der winzigen Bucht setzte sie sich in den Sand. Beeindruckt schaute sie dem Schauspiel der aufbrausenden Wellen zu, die unaufhaltsam gegen die Felsen schlugen. Einige Möwen drehten mit lautem Gekreisch ihre Runden und lenkten Katjas Blick hinauf zu den sanft dahinziehenden Wolken. Tief sog sie die Luft ein. Sie liebte das Meer, den salzigen Geschmack auf der Haut. An den Wochenenden war sie oft mit ihren Eltern an die Ostsee gefahren. Aber das Rad der Zeit lässt sich nicht zurückdrehen. Ihr wurde schmerzlich bewusst, wie endgültig der Tod war. Für sie ging das Leben weiter. Wenn das nur nicht so schwer wäre, ohne die Menschen, die man liebt. Sie seufzte.

Eine Weile träumte sie in den Himmel und begab sich dann, mit nachdenklicher Miene, auf den Weg zurück.

Wind war aufgekommen, die Luft kühlte rasch ab. Die Wolkendecke war dichter geworden. Im Nu war auch das letzte Stück blauer Himmel verschwunden. Sie würde rechtzeitig zum Tee zurück sein.

»Nun, wie gefällt es Ihnen hier?«, fragte Tom. »Mary hat mir von Ihrem Spaziergang erzählt«.

»Ich bin überwältigt von dem, was ich bisher sehen konnte«, schwärmte sie.

»Da stimme ich Ihnen vollends zu. Von Mai bis September ist es hier besonders reizvoll. Die vielen Sträucher und Wiesenblumen bieten ein buntes Erlebnis für die Sinne«, erklärte er. »Noch zwei Wochen und der Herbst wird die Oberhand gewonnen haben. Das geht hier rasch.«

Katja und Tom blickten zur Tür. Ein junger, blendend aussehender Mann mit dunkelbraunen, kurz geschnittenen Haaren betrat den Raum. Sofort war eine Spannung zu spüren, die ihr fast den Atem raubte. Er war groß gewachsen und hatte einen durchtrainierten Körper.

»Gut, dass du kommst«, sagte der Professor. »Darf ich dir

Katja vorstellen?«

»Ich bitte darum«, meinte dieser leichthin, »meine Ungeduld ist kaum zu bremsen.«

Tom lachte und schüttelte den Kopf. »Du bist unverbesserlich. Das ist Jack, mein Sohn. Er hat Architektur studiert und vor einigen Wochen sein Diplom erfolgreich absolviert. Er arbeitet mit einigen Kollegen gemeinsam in einem kleinen Büro. Demnächst wird er sein eigenes Architekturbüro eröffnen«, sagte Tom mit väterlichem Stolz.

»Nun hat Ihnen mein Vater fast alles über mich erzählt«,

sagte Jack und lachte. »Ich bin entzückt, Sie kennenzulernen.«

Leicht errötend erwiderte Katja seinen Händedruck und entgegnete: »Ich denke, es gibt sicherlich noch vieles mehr von Ihnen zu berichten.«

Sie wurde von ihm belustigt angeschaut und hörte, wie er sagte: »Da könnten Sie recht haben. Bei nächster Gelegenheit setzen wir unser Gespräch fort und versuchen es herauszufinden.«

»Jack!«, ermahnte ihn sein Vater lächelnd.

Katja schwieg, nickte nur leicht. Sie musterte ihn unauffällig.

Eine Ähnlichkeit mit seinem Vater, außer seiner Statur, konnte sie nicht erkennen. Er trug eher die feinen Züge seiner Mutter.

Nach einigen belanglosen Worten und einer Tasse Tee verabschiedete sich Jack mit der Entschuldigung, er hätte noch zu arbeiten. Bevor er das Zimmer verließ, drehte er sich noch einmal um und schaute Katja mit seinen braunen Augen durchdringend an. Ein Blick, der sie verirrte und zur Vorsicht mahnte. Wovor konnte sie nicht sagen, es war eher ein Gefühl.

Tom lächelte. »Lassen Sie sich bloß nicht von Jack einschüchtern. Er verunsichert sein Gegenüber gerne ein wenig. Sonst ist er ein netter Kerl.«

Katja erkannte, wie sehr Tom seinen Sohn liebte.

»So empfindlich bin ich auch wieder nicht«, bemerkte sie. »Ich weiß mich zu wehren, wenn es sein muss.«

»Davon bin ich überzeugt«, entgegnete er und lachte.

Sie plauderte noch eine Weile mit ihm, bis er auf die gemeinsame Arbeit zu sprechen kam. »Ich habe ein Konzept entwickelt, wie man die Katalogisierung am einfachsten durchführen kann. Aber es ist noch viel Zeit«, sagte er und trank den letzten Schluck Tee aus der Tasse. »Schauen Sie sich noch ein paar Tage in der Gegend um, danach werden wir uns auf die Bücher stürzen.«

»Lassen Sie uns morgen damit beginnen, Tom. Ich habe doch sonst nichts zu tun.« Sie schaute ihn flehend an.

»Wie Sie wollen. Mir soll es recht sein«, erwiderte er gut gelaunt.

Nach dem Abendessen bat Katja Tom, sich zurückziehen zu dürfen, da es für sie ein anstrengender Tag gewesen sei.

Er schaute sie besorgt an. »Entschuldigen Sie, das hatte ich gar nicht bedacht«, meinte er mit bedauernder Miene. »Ich hoffe, ich habe Ihnen am ersten Tag nicht zu viel zugemutet, mit all meinen Fragen und Ideen?«

Dass er sich um sie sorgte, tat ihr wohl. »Nein, nein, ich bin einfach nur müde«, entgegnete Katja und wünschte ihm eine gute Nacht.

Sie ging hinauf in ihr Zimmer, froh, endlich alleine zu sein. Solche lebhaften Tage war sie nicht mehr gewohnt. Aber sie musste sich eingestehen, dass sie heute von trüben Gedanken abgelenkt war.

Spontan entschied sie sich, noch ein Bad zu nehmen. Sie ließ heißes Wasser in die Wanne laufen und schüttete einige Tropfen von dem bereitstehenden Badezusatz hinein, der so herrlich nach Flieder duftete. Die wohltuende Wärme des Wassers entspannte ihren Körper auf wunderbare Weise. Sie fühlte sich herrlich leicht. Ihr Kopf war klar, wie, schon lange nicht mehr. Beinahe wäre sie eingeschlummert, als sie Schritte hörte. »Ist da jemand?«, rief sie erschrocken.

»Entschuldigen Sie, Miss Berghoff, Sie haben mein Klopfen nicht gehört. Ich lege Ihnen noch einen Bademantel auf das Bett. Ich hatte ihn vergessen. Handtücher liegen im Bad bereit«, antwortete Mrs. Lindslay.

Katja atmete erleichtert auf und bedankte sich. Die Hausdame wünschte eine angenehme Nachtruhe und ließ die Tür, nach Verlassen des Zimmers, geräuschvoll ins Schloss fallen.

Katja stieg aus der Wanne, rubbelte sich gründlich trocken und hüllte sich in den flauschigen Bademantel. Sie aß noch den Apfel, den sie sich morgens in die Tasche gesteckt hatte, putzte danach die Zähne und kuschelte sich hundemüde in das weiche Daunenbett. Wohlig streckte sie sich aus und löschte das Licht. Was ist das für ein seltsames Geräusch vor der Tür?, dachte sie, bevor sie einschlief.


Haus der Geheimnisse

Подняться наверх