Читать книгу Wege zurück ins Leben - Rita Hajak - Страница 4

Eins

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Jeden Morgen, wenn sie erwachte, galten ihre ersten Gedanken ihrem Baby. Ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen, der Kopf dröhnte und im Magen stach es, als hätte sie ein Messer im Leib. Niemand vermochte diesen Schmerz zu lindern. Es gab nur ein Mittel dagegen: Einen kräftigen Schluck.

Mechanisch erhob sie sich aus dem Bett, schlüpfte in ihre Jeans und zog das schwarze Shirt über. Seit Tagen trug sie dieselbe Kleidung. Es war ihr egal. Sie hatte aufgehört, solche Äußerlichkeiten für wichtig zu halten. Viel wichtiger war es, den Tag zu überstehen. So wie den heutigen Tag, vor dem es ihr graute. Sie musste zum Einkaufen in die Stadt fahren. Ihre Vorräte gingen zur Neige. Zuvor war ein Besuch bei der Bank unerlässlich. Sie hasste es, dort hinzugehen.

Mit müden Schritten schlurfte sie in die Küche und griff nach der Rotweinflasche, die griffbereit auf dem Tisch stand. Es war noch ein Rest darin, den sie in einem Zug austrank. Sie gähnte. Ihr fehlte der Elan, die Lust, auch nur das Geringste zu unternehmen.

Sie schleppte sich ins Bad, feuchtete einen Waschhandschuh an und fuhr sich damit über das Gesicht. Auf das Zähneputzen verzichtete sie. Ein paar Bürstenstriche übers Haar, Schuhe und Jacke an, fertig.

Anja schaffte es, den Wagen heil aus der Garage zu lenken, und fuhr in gemächlichem Tempo in die Stadt. Sie war erleichtert, dass sie eine Parklücke fand, die für ihre Fahrkünste groß genug war.

Beim Betreten der Bankfiliale befiel sie die Angst. Sie konnte nicht verhindern, dass sich ihre Kopfhaut zusammenzog und der Kloß in ihrem Hals zu wachsen schien. Mit zittrigen Fingern führte sie die Bankkarte in den Geldautomaten ein und tippte ihre Geheimzahl in die Tasten. Ein Wunder, dass sie sich daran erinnerte. Sie atmete hektisch, riss die Geldscheine und die EC-Karte an sich und stopfte sie in ihre Handtasche. Ein Teil des Geldes fiel zu Boden. Gehetzt wie ein wildes Tier, schaute sie um sich, bevor sie in die Hocke ging und das Geld einsammelte. Dem jungen Mann, der Anstalten machte, ihr zu Hilfe zu eilen, rief Anja entgegen: »Bleiben Sie weg von mir!« Mit dem letzten Geldschein in der Hand flüchtete sie aus der Bank.

Als sie unter freiem Himmel stand, begann sie hysterisch zu lachen. Vorübergehende Passanten schauten sie befremdet an. Anja nahm sich zusammen. Sie atmete tief durch, straffte ihren Körper, und ging über die belebte Straße der Frankfurter Innenstadt, zu ihrem Wagen. Sie fühlte sich beobachtet. Auf der anderen Straßenseite sah sie einen schwarzen Wagen mit verdunkelten Scheiben stehen. Sie fing zu zittern an, Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn. »Hilfe«, flüsterte sie vor sich hin und beschleunigte ihre Schritte. Warum war niemand da, der sie beschützte?

Anja erreichte schweißgebadet ihren Wagen, stieg ein und verriegelte die Tür. Hier fühlte sie sich sicherer. Sie beförderte ein Fläschchen aus ihrer Tasche und trank es leer. Das Zeug tat ihr wohl, wärmte den Bauch und bekämpfte die Angst.


Sie startete mehrmals ihren Golf, bis sie den Motor zum Laufen brachte. »Verdammte Kiste«, fluchte Anja und schlug ärgerlich auf das Armaturenbrett. Sie wischte sich über die Augen, um den vermeintlichen Schleier zu entfernen. Ohne Erfolg; ihr Blick blieb trübe. Dass sie nicht fahrtüchtig war, verdrängte sie.

Sie fuhr in den nördlichen Teil der Stadt zum Friedhof. Beunruhigt schaute sie in den Rückspiegel und vergewisserte sich, dass ihr niemand folgte. Auf dem Parkplatz stellte sie den Wagen ab und eilte an der baufälligen Steinmauer entlang, bis zur Eisentür. Sie schlüpfte hindurch und bog in einen Seitenweg ab, in dem viele Minigräber lagen. Vor einem liebevoll gestalteten Grab blieb sie stehen. Auf dem marmorierten Grabstein mit der seitlich ausgefrästen Rose stand: Geboren, um zu sterben, unsere geliebte Melanie.

Anja kämpfte mit den Tränen. Sie dachte an jenen Tag, an dem sich ihr Leben schlagartig veränderte. An manche Dinge erinnerte sie sich nicht mehr. Den Moment, als sie das tote Baby in seinem Bettchen liegen sah, konnte sie nicht vergessen. Nicht ein einziger Tag war seither vergangen, an dem sie nicht daran dachte. Melanie wäre inzwischen zehn Jahre alt. Die Sehnsucht nach ihrem Baby brannte wie Feuer in ihrem Herzen. Das Leben ohne ihre Tochter war ein einsames Leben. Sie verbrachte die Tage alleine im abgedunkelten Kinderzimmer. In dieser Umgebung fühlte sie sich ihrem Kind nahe. Wie konnte das Schicksal es zulassen, dass ein Mensch geboren wird und bald darauf stirbt? Die Erklärung des Arztes, Kindstod sei ein häufiges Drama im ersten Lebensjahr, tröstete sie nicht. Auf die Ratschläge von Freunden und Bekannten wollte sie nicht hören. »Das Leben muss weitergehen«, sagten sie. Oder: »Die Zeit heilt alle Wunden.« Was sie empfand und fühlte, konnten nur Menschen mit ähnlichem Schicksal verstehen. Dass sie ihre geliebte Arbeit als Modezeichnerin nicht mehr ausüben konnte, schmerzte sie. Zum Zeichnen brauchte sie eine ruhige Hand und die hatte sie nur, wenn sie betrunken war. Ohne die finanzielle Unterstützung ihres Mannes wäre es schlecht um sie bestellt. Durch ihre Trinkerei war sie süchtig geworden, was sie sich nicht eingestehen wollte. In den wenigen Augenblicken, in denen sie klar denken konnte, hasste sie sich für ihre Schwäche. Tränen liefen ihr über die Wangen. Die Erinnerung schmerzte wie am ersten Tag.


Sie hörte Schritte auf dem Kiesweg näher kommen und begann zu zittern. Es war Mittag. Der Himmel hatte sich zugezogen, Wind kam auf. Sie kauerte sich hinter das Gebüsch neben dem Grab ihrer Tochter und hielt die Luft an. Jetzt konnte sie die Leute sehen. Es waren zwei Männer. Sie trugen schwarze Kleidung und schauten sich suchend um. Ihre Gesichter konnte sie nicht erkennen. Anja war überzeugt, dass sie nach ihr suchten. Der eine schritt aus und kam dem Grab bedrohlich nahe. Flüchtig nahm sie einen modrigen Geruch auf, der ihr aus seiner Kleidung entgegenschlug. Schweißgebadet legte sie die Hand vor den Mund, um nicht laut aufzuschreien. Vor Angst machte sie sich in die Hose. Sie konnte ihre Blase nicht kontrollieren. »Oh, mein Gott«, stammelte sie, als die Gestalten nicht mehr zu sehen waren. Was sollte sie tun? Hier konnte sie nicht sitzen bleiben. Mutig, leicht schwankend, hastete sie zu ihrem Wagen und fuhr nach Hause. Dass sie noch einkaufen wollte, hatte sie vergessen. Als sie in die Einfahrt zu ihrem Bungalow einbog, sah sie eine schemenhafte Gestalt gegenüber an der alten Eiche lehnen. Sie spürte erneutes Unheil auf sich zukommen. Den Wagen stellte sie vor der Garage ab, eilte ins Haus und schob den Riegel vor. Hastig atmend und händeringend stand sie hinter der Wohnzimmergardine und blickte hinaus. Der vermeintliche Fremde war verschwunden. Ein nebelartiger Schleier war in den Zweigen des Baumes zurückgeblieben.

Anja fürchtete sich. Bin ich verrückt? Sollte ich nicht die Polizei anrufen?, fragte sie sich und das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Als sie nach dem Hörer greifen wollte, klingelte das Telefon. Erschrocken zog sie die Hand zurück. »Nein, nein, ich gehe nicht dran. Lasst mich in Ruhe.« Sie weinte hysterisch auf. Es folgte atemlose Stille. Anja rutschte mit dem Rücken am Türpfosten herunter und setzte sich auf den Boden. Für einen Moment rührte sie sich nicht. Ihr Körper war durchnässt und sie stank nach Urin.

Der Druck auf ihrem Herzen hatte nachgelassen. Was sie brauchte, war eine Dusche. Sie schlich ins Bad und verschloss die Tür, wie die im angrenzenden Schlafzimmer, das vom Bad und vom Flur aus zu betreten war. Sie nahm frische Wäsche aus dem Schrank und legte sie auf das Bett. Zitternd zog sie sich aus und huschte in die Duschkabine. Der wärmende Wasserstrahl tat ihr gut. Sie kauerte sich in die Ecke und ließ das Wasser über sich laufen. Für einen Moment entspannte sich ihr Körper.

War da nicht ein Geräusch? Verängstigt hob sie den Kopf. Sie stieg aus der Dusche, wickelte sich in ein Handtuch, und lauschte. Ihr Puls raste. Ihre Kehle zog sich zusammen, nahm ihr die Luft zum Atmen. Anja brauchte etwas zum Trinken, jetzt sofort. Sie traute sich nicht, das Bad zu verlassen. Verzweifelt presste sie die Hände zusammen und dachte angestrengt nach, soweit es in ihrem Zustand möglich war. Das Schränkchen unter dem Waschbecken fiel ihr ein. Sie warf kurzerhand alle Putzmittel heraus, bis sie die Flasche mit einem Rest Brennspiritus in der Hand hielt. Ohne zu zögern, schluckte sie den Inhalt hinunter. Es schmeckte widerlich. In ihrem Kopf begann es zu kreisen. Schwarze Punkte tanzten vor ihren Augen. Ihr Mageninhalt schob sich in die Speiseröhre und drückte nach oben. Gleich musste sie sich übergeben. Eine erlösende Ohnmacht bewahrte sie davor.


Anja öffnete die Augen. Es war still. Durch das Fenster kroch die Abenddämmerung. Sie fror. Wie lange mag sie nackt hier gelegen haben? Benommen stand sie auf und drückte auf den Lichtschalter. Die Uhr über dem Türstock zeigte kurz nach sieben Uhr. Sie tastete nach ihrer Handtasche und suchte die kleine Flasche, obwohl sie wusste, dass sie leer war. Ihre Magenwände krampften sich schmerzhaft zusammen und ihr war übel. War sie nicht verfolgt worden? Sie legte ein Ohr an die Badezimmertür; es war nichts zu hören. Misstrauisch blickte sie durch das Schlüsselloch. Draußen im Flur sah es unverändert aus. Hatte sie sich das eingebildet? Sie drückte mit der Faust gegen ihren Magen. Seit dem Frühstück hatte sie nichts mehr gegessen und einen Schluck hatte sie bitter nötig.

Das Licht flackerte, wie vor einem drohenden Kurzschluss. War doch jemand im Haus?

Sie atmete viel zu hastig. Um sich zu beruhigen, begann sie bis dreißig zu zählen. Es gab nur einen Weg: Sie musste sich der Gefahr stellen. Sie musste erkunden, wer er war und was er von ihr wollte. Mit flinken Händen kleidete sie sich an und drehte vorsichtig den Schlüssel herum. Die Tür quietschte beim Öffnen.

Sie eilte über den Flur in die Küche und griff zielstrebig in den Wandschrank, in dem sie den Weinbrand aufbewahrte. Viel war nicht mehr in der Flasche, aber es genügte, um ihr hitziges Gemüt zu beruhigen. Die Hände hörten auf zu zittern und ihre Angst wich einer wohltuenden Vergesslichkeit. Eine Weile starrte sie aus dem Fenster, bis sie müde war. Sie schaffte es, eine Scheibe Brot zu essen, sich auszuziehen und ins Bett zu legen. Es dauerte, bis sie einschlief.


Unruhig wälzte sie sich hin und her. Ihre Augenlider flatterten. Sie träumte jede Nacht den gleichen Traum. Das Baby lag in seiner Wiege und rührte sich nicht. »Sie ist tot … tot«, flüsterte sie im Schlaf. »Melanie«, schrie sie entsetzt. Davon wachte sie auf.

Schweißgebadet saß sie im Bett und weinte. Keiner war da, der sie beruhigen konnte. Von ihrem Mann hatte sie sich vor Jahren getrennt. »Ich kann das nicht mehr ertragen«, klagte sie laut und verspürte ein starkes Verlangen nach einem alkoholischen Getränk. Versuche dem zu widerstehen, dröhnte es in ihrem Kopf.

Anja wankte ins Bad und wusch ihr Gesicht mit kaltem Wasser. Ein Blick in den Spiegel ließ sie erschaudern. Bin ich das? Lange hatte sie sich nicht mehr angeschaut. Ihre Haut sah aschfahl aus. Falten zierten ihr einst schönes Gesicht und ihre goldbraunen Haare sahen stumpf aus. Sie wirkte mit ihren sechsundvierzig Jahren wie eine alte Frau. Was ist aus meinem Leben geworden, es ist keinen Pfifferling mehr wert, waren ihre Gedanken. Der Traum von einer glücklichen Zukunft war ausgeträumt. Ihr Lebenswille war gebrochen. Die Sehnsucht nach Ruhe und Vergessen wurde größer.

Sie entnahm dem Spiegelschrank ein Röhrchen mit Schlaftabletten und wog es in ihrer Hand. Die Worte einer Freundin fielen ihr ein. ›Es tut nicht weh, man schläft sanft ein, und alle Qual hat ein Ende.‹

Sie füllte Wasser in ihr Zahnputzglas und warf kurzerhand die Tabletten hinein. Anja hatte es nicht eilig. Sie ging in die Küche, holte eine Flasche Rotwein aus dem Schrank, entkorkte sie und goss das Glas randvoll. Regungslos saß sie auf dem Küchenstuhl und betrachtete nachdenklich die verlockende Flüssigkeit. Sie wagte nicht, das Glas anzufassen. Mit den Fingern fuhr sie sich durch die Haare und seufzte tief. »Ich sollte dem ein Ende bereiten«, sagte sie laut, sprang auf und lief ins Bad zurück. Wie hypnotisiert starrte sie das Glas mit dem milchig trüben Inhalt an und nahm es in die Hand. Sie war unentschlossen. Wollte sie ihr Leben beenden? ›Eine gute Wahl – trinke es aus‹, sagte eine innere Stimme. Sie zögerte. In diesem entscheidenden Moment war sie klar im Kopf wie lange nicht mehr.

»Bin ich noch normal?«, schrie sie ihrem Spiegelbild entgegen und warf das Glas an die gekachelte Wand. »Ich muss mit dem Trinken aufhören, es ruiniert mich.« Sie sackte zusammen. Eine geschlagene Stunde saß sie auf dem Badewannenrand und wehklagte über ihr Leben. Ihr Körper schmerzte. Ihre Seele weinte. Sie stöhnte, heulte, schrie: »Was habe ich verbrochen? Wofür werde ich bestraft?«

Allmählich beruhigte sie sich, wischte den Boden auf und warf die Scherben in der Küche in den Mülleimer. Das Glas Rotwein stand unberührt auf dem Tisch. Sie setzte sich auf den Stuhl. Ihr Körper verlangte danach, es auszutrinken. Sie versuchte, gegen dieses Gefühl anzukämpfen.

Der Morgen dämmerte. Sie hatte die ganze Zeit am Tisch gesessen und das Glas fixiert. Ihre Hände begannen zu zittern, schlagartig kam die Angst zurück. »Ich schaffe es nicht«, murmelte sie und schluckte den Wein in einem Zuge hinunter. Sie goss nach, bis die Flasche leer war. Enttäuscht suchte sie in den Schränken und brachte eine letzte Flasche Cognac zum Vorschein. Mit flinken Fingern öffnete sie die Verschraubung und gönnte sich Schluck für Schluck. Ihre Trinkerei geriet außer Kontrolle. Alles drehte sich im Kreis. Ihr letzter Gedanke, bevor sie vom Stuhl fiel, galt ihrer Tochter. Sie lag auf dem Boden und rührte sich nicht mehr.


Wege zurück ins Leben

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