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Zwei

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Sylvia, die nebenan im Haus wohnte, klingelte und klopfte an Anjas Haustür. Nichts rührte sich. Sie machte sich Sorgen. Vor Stunden hatte sie bei Anja angerufen, aber sie nahm nicht ab. Anja musste im Haus sein, sie hatte sie hineingehen sehen und ihr Auto stand vor der Garage. Sylvia steckte den Schlüssel ins Schloss, den sie seit einigen Jahren als Notschlüssel besaß. Vorsichtig öffnete sie die Haustür und rief Anjas Namen. Es kam keine Antwort. Die Küchentür stand einen Spaltbreit offen. »Anja!«, rief sie, bevor sie beunruhigt näher trat. Sie stieß einen Schrei aus, als sie Anjas leblosen Körper auf dem Küchenboden liegen sah. Auf dem Tisch sah sie die Flaschen stehen und ahnte, was geschehen war.

Sie fasste sich schnell, beugte sich zu ihr herab, und fühlte ihren Puls. Er schlug langsam. Die Atmung schien normal zu sein.

Bevor sie den Notarzt verständigte, holte Sylvia ein Kissen aus dem Wohnzimmer und legte es Anja unter die Beine. Sie kannte ihr Schicksal und hatte Mitleid mit ihr. Dass sie bis zur Bewusstlosigkeit Alkohol trank, hatte sie nicht geahnt.

Es dauerte keine zehn Minuten, bis der Notarzt eintraf. »Sie ist ohne Bewusstsein, wir müssen sie mitnehmen«, sagte er.

Die Krankenträger legten Anja auf die Trage und schoben sie in den Notarztwagen. Der Arzt versorgte sie mit Sauerstoff und legte eine Infusion an.

»Sie hat eine Alkoholvergiftung, sagte er zur Nachbarin, die hinterhergelaufen kam.

»Wo bringen Sie sie hin? «, fragte sie.

»Ins Rote Kreuz Krankenhaus.«

»Ich packe ein paar Sachen zusammen und komme nach«, versprach sie.

Mit Blaulicht fuhr der Notarztwagen davon.

Sylvia machte sich Vorwürfe, weil sie sich zu wenig um Anja gekümmert hatte. Es war nicht leicht an sie heranzukommen, denn sie lehnte jede Hilfe ab. Aber das war keine Entschuldigung. Sie wusste, dass Anja labil war und die Sicht für die Realität verloren hatte. In Zukunft wollte sie auf ihre Freundin achten und energischer vorgehen. Als Anja und ihr Mann vor mehr als zehn Jahren in das Haus eingezogen, entstand zwischen Anja und ihr eine wunderbare Freundschaft. Nach dem Tod der kleinen Melanie hatte sich Anja zurückgezogen. Sylvia hielt ein Auge auf sie, mehr auch nicht. Sie wollte nicht aufdringlich sein. Hin und wieder übernahm sie Einkäufe für sie, wenn sie sich unwohl fühlte. An manchen Tagen ließ sich die Freundin nicht blicken und öffnete keine Tür.

Sie seufzte. Ich kann sie verstehen, sie kommt über den Verlust ihres Kindes nicht hinweg, dachte sie. Sylvia ging zurück in Anjas Schlafzimmer und packte frische Wäsche in eine Tasche, die sie ihr am Nachmittag in die Klinik bringen wollte. »Hoffentlich geht alles gut«, sagte sie laut und verließ das Haus. Es war Zeit, ihre vierjährige Tochter vom Kindergarten abzuholen.


Anja blickte sich verwirrt um. Wo war sie? Diese Umgebung kannte sie nicht. Sie lag in einem Bett, umgeben von weißen, kahlen Wänden. Sie musste in einer Klinik sein. Das Bett neben ihr war unbenutzt und mit einer Folie überzogen. Was war passiert? Sie versuchte, sich zu erinnern. In ihrem Kopf war Leere. Sie schrie und rüttelte an ihrem Bettgestell. Eine Krankenschwester betrat den Raum. »Immer mit der Ruhe. Wie schön, Frau Simon, Sie sind zurück«, sagte sie.

»Zurück? Wo war ich denn?« Anja blickte die Schwester misstrauisch an.

»Sie waren bewusstlos. Ich sage dem Arzt Bescheid, er wird Ihnen alles erklären«, beruhigte sie die Schwester, die blitzschnell das Zimmer verließ.

Dr. Bender, der Oberarzt, jung und freundlich, kam fünf Minuten später. »Was machen Sie für Sachen. Sie haben Glück gehabt. Wenn Ihre Nachbarin Sie nicht gefunden hätte, wären Sie nicht mehr am Leben«, sagte er. »Sie haben eine Menge Alkohol getrunken. Wie fühlen Sie sich?«

Anja zögerte einen Moment. »Ich weiß nicht, anders als sonst. Sie hätte mich liegen lassen sollen.«

»Wie bitte?« Der Arzt drohte mit dem Zeigefinger. »Na, na«, sagte er. »Wir haben Ihnen eine Infusion angelegt, um ihre Leber zu entlasten. Zusätzlich haben wir Ihnen ein Medikament gespritzt, um ihr Verlangen auf Alkohol zu unterdrücken. Sie brauchen dringend eine Entziehungskur in einer speziellen Klinik, wenn Ihnen am Leben etwas liegt. Ihre Leber macht das nicht mehr lange mit. Das haben die Blutanalyse und der Ultraschall ergeben. Wie denken Sie darüber?«, fragte er.

Anja nickte nicht gerade überzeugt und registrierte seinen warnenden Blick. Was will er von mir, dieser Besserwisser? Die Sprüche kenne ich. In Wahrheit liegt ihm nicht das Geringste daran, was aus mir wird. Einschüchtern will er mich, mir Angst machen.

»Ich werde meine Therapeutin aufsuchen, die mich nach dem Tod meiner Tochter eine Weile betreut hat«, sagte sie.

»Ich kenne Ihre Vorgeschichte nicht, die zur Alkoholabhängigkeit führte. Wenn Sie leben wollen, müssen Sie handeln, schnellstens. Ihren Worten entnehme ich, dass die Trauer um Ihr Kind Sie in diese Situation gebracht hat. Das ist zwar ein Argument, aber kein Grund, das eigene Leben mit Füßen zu treten.«

Anja wollte ihn fragen, woher er das wusste. Stattdessen fragte sie: »Wie lange muss ich hierbleiben?«

»Ein paar Tage, bis Sie stabil sind. Sie können sich gerne hier in der Klinik mit einem Psychotherapeuten unterhalten, wenn Sie möchten.«

»Vielen Dank, ich werde mit Frau Dr. Gaus darüber sprechen.« Ihre Stimme klang entschlossen.

»Wie Sie wünschen. Ruhen Sie sich aus. Später werden wir noch ein paar Untersuchungen vornehmen«, sagte Dr. Bender.

Er ging hinaus und die Schwester kam zurück. »Wenn Sie einen Wunsch haben, klingeln Sie«, sagte sie freundlich. »Im zweiten Schrank von links steht eine Tasche mit Wäsche. Die hat Ihre Nachbarin, mit lieben Grüßen, abgegeben. Sie waren noch nicht aufgewacht.«

»Wie lange habe ich geschlafen?«

»Fast vierundzwanzig Stunden.«

»Ich habe Durst«, sagte Anja.

»Ich habe Ihnen zwei Flaschen Mineralwasser auf den Nachttisch gestellt. Sie können auch Tee trinken, wenn Ihnen das lieber ist.«

»Wasser, Tee, wollen Sie mich vergiften?«, brachte Anja bissig hervor.

Sie sah, dass die Krankenschwester sie anlächelte. »Keine Angst, wir vergiften Sie nicht, Frau Simon, es geht nicht nach dem was Sie wollen, sondern was das Beste für Sie ist. Und das wissen wir besser.« Ihr Lächeln war verschwunden. »In einer Stunde gibt es Abendbrot. Alkohol, den gibt es bei uns nicht.« Sie verließ das Zimmer.

Anja fühlte sich unverstanden. Sie äffte der Schwester nach, obwohl sie wusste, dass sie sich ungerecht und kindisch benahm. Das Abendessen rührte sie nicht an. Als es abgeräumt war, ärgerte sie sich. Es fiel ihr schwer einzuschlafen. Weit nach Mitternacht lag sie immer noch wach. Wirre Gedanken kreisten in ihren Kopf. Was blieben ihr für Möglichkeiten? Leben oder Sterben? Sie wusste: Für eines von beiden musste sie sich entscheiden.

Anja war am Ende ihrer körperlichen und seelischen Kraft. Sie fing zu zittern an. Einen Schluck Wein wäre jetzt hilfreich gewesen, sich besser zu fühlen. Dass sie in der Klinik lag, war ihre eigene Schuld. Sie hatte es zu weit getrieben. Lange hielt sie es hier nicht aus und auf weitere Untersuchungen legte sie keinen Wert.


Am nächsten Mittag kam Sylvia zu Besuch. »Ich bedauere, dass das passiert ist«, sagte sie und nahm Anja in den Arm.

Sie duldete es widerwillig. »Schon gut, Sylvia, es ist nicht deine Schuld. Ich komme klar.«

»Nein, du kommst eben nicht klar. Sonst wäre das nicht passiert. Lass dir endlich helfen, bevor es zu spät ist. Du bist noch zu jung. Ich habe mich erschreckt, als ich dich fand.«

Anja sah an ihrem Blick, dass sie sich ernsthafte Sorgen machte.

»Ich weiß nicht, ob ich noch eine Chance habe. Mein Körper ist fertig.«

»Es ist nie zu spät, nimm das Leben, wie es ist. Du kannst noch so viel trinken, es wird sich nicht ändern. Mensch, Anja wach endlich auf, noch ist Zeit.«

Anja nahm ihr diese Worte nicht übel. »Du hast Recht, Sylvia, sterben möchte ich nicht. Ich werde in Therapie gehen.«

»Das ist gut. Wenn du Hilfe brauchst, ich bin für dich da. Ich werde mich nicht wieder von dir wegschicken lassen. Ich bin deine Freundin.«

»Ich weiß, Sylvia, das war nicht richtig. Ich habe unsere Freundschaft mit Füßen getreten. Ich hätte deine Hilfe annehmen sollen.«

»Schön, dass du es einsiehst. Vergiss es nicht wieder«, antwortete Sylvia. »Jetzt muss ich los. Jasmin sitzt unten im Wagen. Bis bald.«

Anja hatte es gutgetan, mit der Freundin zu sprechen. Sie dachte über das Gespräch nach, überlegte hin und her. Sie nahm sich vor, Frau Dr. Gaus aufzusuchen. Das waren keine leeren Worte.

Am Nachmittag verließ sie auf eigenen Wunsch die Klinik, worüber die Ärzteschaft nicht erfreut war. Es war ihr egal. Zu ihnen hatte sie kein Vertrauen. Sie kannte niemanden und keiner kannte sie.

Von einem Taxi ließ sie sich nach Hause bringen. Sie wartete, bis der Wagen wegfuhr und marschierte zum nahegelegenen Supermarkt. Sie kaufte zwei Flaschen Rotwein, eine Flasche Cognac, ein Brot, Butter, Marmelade und etwas Käse.

Beschwingt und voller Vorfreude betrat sie ihr Haus. Anja ging in die Küche, stellte eine Flasche auf den Tisch und räumte den restlichen Alkohol in die hinterste Schrankecke. Sie entkorkte die Rotweinflasche und leckte sich gierig über die Lippen. Ihre Hände waren feucht, vor Aufregung. Einen winzigen Moment zögerte sie, bevor sie ein Glas füllte und austrank. Ihr Leben war in diesem Moment erträglich. Die Nacht überstand sie tief schlafend.^


Sonnenstrahlen stahlen sich durch die Gardine und kitzelten sie in ihrem Gesicht. Davon wachte sie auf. Sie hatte abends zuvor vergessen, den Rollladen herunterzulassen. Sie sprang aus dem Bett und ging ins Bad.

Nach einer schnellen Wäsche zog sie BH und Höschen an, griff wahllos nach einer schwarzen Hose und einer weißen Bluse. Üblicherweise bevorzugte sie sportliche Bekleidung und trug mit Vorliebe Jeans. Früher hatte sie gerne in Giorgios Boutique in Frankfurt eingekauft. Der junge, freundliche Italiener hatte ihr vor vielen Jahren eine Anstellung in einem exklusiven Modehaus vermittelt. Sie war lange nicht mehr in seinem Laden gewesen. Ob er noch existierte? Sie wusste es nicht. Für Klamotten interessierte sie sich nicht mehr.

Anja streifte ihre Jeansjacke über, zog die Stiefeletten an und strich sich gleichgültig die Haare zurück. Dem quälenden Verlangen nach einem beruhigenden Schluck versuchte sie zu widerstehen.

Auf dem Weg zu ihrem Wagen, der vor der Garage parkte, fiel ihr Blick gegenüber in die Bäume. Hatte sich da was bewegt? Hitze durchströmte ihren Körper und stieg ihr zu Kopf. Ihr Pulsschlag beschleunigte sich. Sie konnte nicht mehr klar denken, spürte die aufkommende Angst und das würgende Gefühl im Hals. Keuchend rannte sie ins Haus zurück. In der Küche griff sie mit zittrigen Händen nach der Rotweinflasche und genehmigte sich ein paar Schlucke. Mit der Flasche in der Hand betrat sie das Kinderzimmer und setzte sich auf das weiße Plüschsofa. Sie hatte vergessen, dass sie wegfahren wollte. In ihrer Hand hielt sie das Bild ihrer Tochter und spülte die aufsteigenden Tränen mit Wein hinunter. Kurz darauf schlief sie ein. Das Klingeln an der Haustür weckte sie auf. Schwankend lief sie zum Fenster und schaute durch die Gardine. Es war der Mann vom Paketdienst. Er hielt ein Päckchen in der Hand. Anja hatte nichts bestellt und verhielt sich ruhig. Erstaunt blickte sie an sich herab. Sie war zum Weggehen gekleidet. Sie dachte nach. Dann fiel es ihr ein, dass sie vorhatte, ihre Therapeutin aufzusuchen.

Auf dem Dielenschränkchen sah sie die Schale mit frischem Obst stehen. Das wird Sylvia gewesen sein, dachte sie und lächelte. Sie steckte sich einen Kaugummi in den Mund und ging zu ihrem Wagen. Langsam fuhr sie aus der Siedlung und bog in die Hauptstraße ein, die zur Innenstadt führte. Wie aus heiterem Himmel kam ein Kind auf die Fahrbahn gelaufen, das sie zuvor nicht wahrgenommen hatte. Aus den Augenwinkeln heraus erkannte sie das entsetzte Gesicht einer Frau, die ihre Arme hochriss und den Mund öffnete.

Anja, starr vor Schreck, die Augen weit geöffnet, handelte instinktiv. Alles geschah im Bruchteil einer Sekunde. Sie kam mit einer Vollbremsung knapp vor dem kleinen Mädchen zum Stehen. Es grenzte an ein Wunder, dass sie das in ihrem Zustand geschafft hatte. Ihr Herz schlug heftig gegen die Brust. Sie wollte schreien, aber es kam kein Laut über ihre Lippen. Anja war nicht fähig auszusteigen. Jeder ahnte sofort, in welchem Zustand sie sich befand. Sie fuhr das Seitenfenster herunter und rief mit aufgeregter Stimme: »Ist alles in Ordnung?«

Die Mutter – Anja vermutete, dass es die Mutter war – hatte das verstörte Kind auf den Gehweg gebracht. Wütend kam sie näher.

»Sind Sie blind oder besoffen? Warum rasen Sie wie eine Verrückte durch die Straße? Haben Sie das Schild nicht gesehen? Hier ist Tempo 30!«, schrie die Frau und drohte mit dem Finger.

»Es tut mir leid, ich bin nicht schneller gefahren«, brachte Anja zu ihrer Verteidigung hervor. Sie war sich nicht sicher, ob es stimmte.

»Das sagen sie alle hinterher«, schimpfte die Frau. »Seien Sie froh, dass Sie noch rechtzeitig anhalten konnten. Es wäre Ihnen teuer zu stehen gekommen.«

Passanten waren aufmerksam geworden und tuschelten. Anja war nahe daran, die Beherrschung zu verlieren. In ihrem Kopf dröhnte es. »Entschuldigen Sie bitte nochmals«, sagte sie.

Die Frau hörte nicht mehr hin. Sie hatte das Kind bei der Hand genommen und war weitergegangen.

Anja war fix und fertig. Was wäre gewesen, wenn sie das Kind überfahren hätte? Sie schlug die Hände vors Gesicht. Die Vorstellung daran löste einen Weinkrampf bei ihr aus. Die Fahrzeuge hinter ihr hupten, das brachte sie in die Wirklichkeit zurück. Sie konnte in ihrer Verfassung nicht weiterfahren und parkte den Wagen rechts am Straßenrand. Sie stellte eine Gefahr für andere dar, dessen war sie sich in diesem Moment bewusst. Hatte sie nur Pech im Leben? Wen konnte sie um Hilfe bitten? Ihre Mutter war vor vielen Jahren an Krebs gestorben. Das Drama mit der kleinen Melanie hatte sie nicht miterlebt. Bei ihr hätte sie Trost gefunden. Sie waren ein Herz und eine Seele. Sie hatte lange gebraucht, um ihren Tod zu überwinden. Ihr Vater hatte bald darauf geheiratet und war mit seiner zweiten Frau nach Australien ausgewandert. Zum Geburtstag und zu Weihnachten telefonierten sie miteinander. Zur Beerdigung seiner Enkelin war er das letzte Mal in Deutschland gewesen. Ihn wollte sie nicht mit ihren Problemen belasten. Und Sylvia? Die hatte ihr eigenes Leben, musste sich um ein Kind und einen Mann kümmern. Da waren ihre Sorgen fehl am Platz. Anja war nicht der Mensch, der andere gerne belästigte. Gregor fiel ihr ein. Ob sie es wagen sollte? Seine Nummer hatte sie aus dem Speicher nicht gelöscht. Sie nahm das Handy aus der Tasche und drückte die Kurzwahltaste.

»Dr. Simon«, meldete er sich sogleich.

Nach langer Zeit hörte Anja die Stimme ihres Mannes, die warm und freundlich klang. Sie zögerte und hielt die Luft an. Ihr Herz drohte aus dem Rhythmus zu geraten. Wie verhält er sich, wenn er von meinem Problem erfährt? Interessieren ihn meine Belange? Oder lebt er in einer intakten Beziehung und kann keine unangenehmen Nachrichten gebrauchen? Das alles ging ihr rasend schnell durch den Kopf.

»Anja bist du das, ich sehe es an deiner Nummer?«, hörte sie ihn sagen.

»Gregor, ich weiß nicht mehr weiter. Ich brauche deine Hilfe.« Sie hoffte, dass er sie nicht abwies.

»Was ist passiert? Anja beruhige dich, ich kann dich nicht verstehen.«

Sie musste schlucken, bevor sie die Worte deutlich herausbrachte. »Ich habe beinahe ein Kind überfahren. Ich stehe in der Königswarterstraße, in der Nähe des Parkplatzes. Kannst du bitte kommen?« Ihre Stimme klang verzweifelt.

»Bleib, wo du bist, ich bin sofort bei dir.« Gregor sagte es im gleichen beruhigenden Ton, wie er es früher getan hatte.

Anja hatte nicht damit gerechnet, dass er so hilfsbereit reagiert. Geduldig wartete sie auf ihn, obwohl ihre Hände anfingen, unruhig auf dem Armaturenbrett hin und her zu wandern. Sie fürchtete sich vor der Begegnung mit Gregor. Viele Fragen gingen ihr im Kopf herum. Konnte er ihr helfen? Wäre alles anders gekommen, wenn sie zusammengeblieben wären?

Ungeduldig öffnete sie das Handschuhfach und suchte nach einer kleinen Flasche; der Vorrat war aufgebraucht. Sie schüttelte den Kopf. »Ich will und kann so nicht weiterleben«, klagte sie laut.

Vor ihr hielt ein Fahrzeug. Sie sah einen gut aussehenden Mann auf sich zueilen. Ihren Mann. Er öffnete die Wagentür, setzte sich auf den Beifahrersitz und küsste sie zur Begrüßung auf die Wange. Ihr Herz klopfte heftig.

Er schien zu spüren, wie aufgeregt sie war. »Anja, alles wird gut. Erzähle mir, was passiert ist.«

»Gregor, ich bin verwirrt. Ich muss dir etwas gestehen.« Ihre Schultern bebten, sie musste sich erst beruhigen. Er wartete geduldig, bis sie weitersprach: »Ich … trinke! Und oftmals verliere ich den Überblick.« Sie beobachtete ihn aus den Augenwinkeln.

»Du trinkst immer noch? Ich dachte, du hättest es in der Therapie überstanden? Und was heißt das jetzt?«

»Es ist nicht wie damals, sondern viel schlimmer. Ich kann es aus eigener Kraft nicht mehr lassen. Vor zwei Tagen bin ich in die Klinik eingeliefert worden. Ich hatte zu viel getrunken und war bewusstlos. Sylvia hat mich entdeckt. Sie war misstrauisch geworden, weil ich die Tür nicht öffnete. Mit meiner Gesundheit steht es nicht zum Besten. Ich will nicht sterben, Gregor.« Anja musste sich beherrschen, um ihn nicht anzuschreien.

Er nahm ihre unruhigen Hände in die seinen. »Ich hatte keine Ahnung. Warum haben dich die Ärzte entlassen, in deinem Zustand?«

»Ich habe mich auf eigene Verantwortung entlassen.«

»Ach Anja. Wie kann man dir helfen, wenn du nicht befolgst, was die Ärzte dir sagen?«

»Vorwürfe helfen mir nicht weiter, Gregor.«

»Da muss ich dir Recht geben, entschuldige. Wo wolltest du hin?«

»Ich war auf dem Weg zu Frau Dr. Gaus, als das Mädchen über die Straße lief. Die Mutter des Kindes hat mich beschimpft, obwohl es nicht meine Schuld gewesen war. Es hat mich erschüttert, denn um ein Haar hätte ich das Kind getötet. Wäre die Polizei gekommen, säße ich jetzt im Gefängnis.« Sie weinte erneut. »Ich bin total durch den Wind.«

»Anja, ich bringe dich gerne zu deiner Therapeutin. Sprich mit ihr, sie wird wissen, was zu tun ist.«

»Das wäre lieb, wenn es dir keine Umstände macht.«

Er schüttelte lächelnd den Kopf. »Dann wäre ich nicht gekommen.«

»Lass uns mit deinem Wagen fahren«, bat sie, »ich fahre keinen Meter mehr.«

Gregor telefonierte mit seiner Assistentin und Anja hörte, wie er ihr mitteilte, dass er heute nicht mehr in die Kanzlei käme. Das beruhigte sie, da sie davon ausging, dass er bei ihr blieb.


Wege zurück ins Leben

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