Читать книгу Beschuldigt - Rita Renate Schönig - Страница 8
Freitag – 06. September 2019 / 09:50 Uhr
ОглавлениеSeit Frank Lehmann wusste, dass er nicht mehr allzu lange zu leben hatte, stellten sich immer häufiger Erinnerungen an seine Heimatstadt ein und er beschloss: Bevor ich endgültig den Löffel abgebe, will ich noch mal durch die schöne Altstadt und am Main entlang gehen, mir die hübschen Fachwerkhäuser ansehen – vor allem aber meine Schule.
Jetzt, als er vor dem Gebäude stand, musste er mit Bedauern feststellen, dass die Schule offenbar sein eigenes Schicksal teilte. Es war fast schon zum Lachen, wäre es nicht so traurig. Beide waren sie nur noch eine leere Hülle – ausgemustert. Gedankenverloren ging er zur Mauer, von der aus man einen wunderschönen Blick auf den Main hatte, und strich mit einer Hand über den rauen Sandstein.
Gerade legte die Fähre an, eine für Seligenstadt nicht wegzudenkende und schon fast historische Institution. Fröhlich schwatzende Menschen, mit und ohne Fahrräder, sowie einige Autos, verließen die schwimmende Querung zwischen dem Freistaat Bayern und Hessen. Manche steuerten direkt auf das nur wenige Schritte entfernte Eiscafé zu. Andere strömten durch die Kleine Maingasse in Richtung Innenstadt und die Fahrradfahrer traten kräftig in die Pedale, um die kurze Steigung der Großen Maingasse zu meistern, während die Autos an ihnen vorbei rollten.
Die nächsten Stunden verbrachte Frank damit, alle Ecken der Stadt aufzusuchen, die ihm vertraut waren. In „Kloa Frankreich“ – einem idyllischen Bezirk in der Altstadt und von den Einheimischen noch immer so genannt, weil Abt Leonhard Colchon im 17. Jahrhundert, nach dem 30-jährigen Krieg, einige Franzosen dort angesiedelt hatte – setzte er sich auf die Bank unter der alten Linde und spielte auf seinem Akkordeon. Früher hatte er auch gesungen. Er hatte eine schöne Stimme. Jetzt aber blieb ihm nach nur wenigen Worten die Luft aus.
Dieser verdammte Krebs. Er machte ihn gleichermaßen wütend und traurig. Vor allem, weil es für eine Therapie zu spät wäre, wie der Arzt erklärte und fast schon vorwurfsvoll nachsetzte, dass er, wäre er früher gekommen, man vielleicht noch etwas hätte tun können.
Frank musste sich eingestehen, dass ihm das Atmen in letzter Zeit immer schwerer gefallen war. Besonders, wenn er die Treppen des Museums der >Neuen Schatzkammer Haus Papst Benedikt XVI< hochrannte. Der folgende fast regelmäßige Hustenanfall kostete ihn noch mehr an Kraft. Trotzdem traf ihn die Diagnose „Lungenkrebs im fortgeschrittenen Stadium“ heftig. Dabei hatte er nur in den Siebzigern geraucht, auch mal einen Joint – wie viele aus seiner Generation – es aber aufgegeben, als seine Ex-Frau schwanger geworden war.
Einige der alteingesessenen Bewohner von Seligenstadt, diejenigen, die ihn noch als Lehrer in Erinnerung hatten, würden bestimmt sagen, dass das Schicksal ihn eingeholt hatte und er nun seine gerechte Strafe erhalten würde. Wobei er sich nichts hatte zuschulden kommen lassen.
Lea, eine dreizehnjährige Schülerin hatte ihn der sexuellen Belästigung bezichtigt. Dass es genau umgekehrt war, wussten nur Lea und er. Wegen ihrer schlechten Noten speziell in Geschichte bat sie um ein persönliches Gespräch. Selbstverständlich kam er der Bitte nach, schließlich war er doch auch Vertrauenslehrer.
Kaum alleine im Klassenraum, kam sie dicht an ihn heran und knöpfte ihre Bluse auf. Als plötzlich eine andere Schülerin zur Tür hereinkam, schrie Lea und schlug wie eine Wilde auf ihn ein und das Schicksal nahm seinen Lauf. Dass er nichts getan hatte, für das er sich schämen oder gar verantworten müsste, interessierte damals niemanden. Im Nachhinein war ihm jedoch klar: Er hätte es besser wissen müssen. Lea Albrecht hatte es nicht so mit der Moral. Des Öfteren wurde sie mit älteren Schülern im Heizungskeller erwischt, woraufhin ihre Eltern einbestellt worden waren, sich aber nicht nennenswert darüber aufregten. Zum Glück für Frank Lehmann und aufgrund nicht eindeutiger Beweise kam es zu keiner Anklage. Die Angelegenheit wurde intern geregelt und die kurzfristige Suspendierung zurückgenommen. Dennoch stachen die Blicke, denen er in der Stadt ausgesetzt war, wie Nadeln in seinen Rücken.
Letztendlich war es aber das einsetzende Misstrauen seiner Frau Marion und deren Auszug mit ihrer zweijährigen Tochter Nele aus dem gerade neu erbauten Haus, das ihn veranlasste, aus seiner Heimatstadt wegzugehen. Nicht einmal die Tür hatte er abgeschlossen, als er am Abend des 6. August 1990 in die Regionalbahn stieg. Warum auch? Er hatte nicht vor, jemals wiederzukommen. Und trotzdem war er jetzt wieder hier.
Sehr zur Enttäuschung seiner jungen Zuhörer hörte er auf zu spielen. Zuerst noch scheu, dann mutiger, hatten sich vier oder fünf Kinder neben ihn auf die Bank und auf das niedrige Mäuerchen gesetzt, welches das kleine Areal zum Teil eingrenzte.
Er schnallte sich sein Musikinstrument auf den Rücken und lief durch enge Altstadtgässchen zum Marktplatz. Anstatt der hier früher parkenden Autos hatten die ringsum ansässigen Gasthäuser den Platz mit ihrer jeweiligen Bestuhlung eingenommen. Der Geruch nach Schnitzel, Pommes und anderen schmackhaften Speisen lag in der Luft. Frank verspürte Hunger.
Er hatte sein gesamtes Bargeld, das er in einem Safe seiner Hausbank aufbewahrte, mitgenommen und zusätzlich sein Girokonto geplündert. Wenn er sparsam wirtschaftete, sollte es bis Ende des Jahres reichen – falls er überhaupt so lange leben würde. Sein Sparbuch, sowie die Wertpapiere und Anleihen hatte er zur Hälfte Franziska überlassen – sozusagen als Zeichen der Abbitte für sein Verschwinden – und dies in seinem kurzen Abschiedsbrief, in dem er ihr ebenfalls von seiner unheilbaren Erkrankung berichtete, bekundet. Den anderen Teil sollte seine Tochter Lea erhalten, sobald er selbst nicht mehr unter den Lebenden weilte. So hatte er es festgelegt und seinen Anwalt entsprechend instruiert.
Sein Blick blieb an der Gaststätte hängen, in die er schon früher gerne eingekehrt war. Am Essen jedenfalls würde er keinesfalls sparen. Schließlich konnte jede Mahlzeit seine Letzte sein – sozusagen seine Henkersmahlzeit.
Am Rande der Außenbestuhlung war ein Tisch frei. Darauf steuerte er zu und platzierte sein Akkordeon neben sich auf den Stuhl. Auf der Speisekarte standen noch immer deftige Gerichte, nur die Wirtsleute hatten einen jugoslawischen Namen. Ach nein – Jugoslawien gab es ja auch nicht mehr. Er bestellte ein Schnitzel mit Pommes, einen großen Salat und ein Radler.
Während er auf sein Essen wartete, fiel ihm auf, dass sich viele Touristen in der Stadt tummelten, eindeutig zu erkennen an den stets in die Umgebung gerichteten Handys. Zudem folgten die Augen einer Gruppe Leute dem ausgestreckten Arm – vermutlich einer Stadtführerin – die zum Erker des „Einhardhaus“ zeigte. Über dessen Fenster schaute der geschnitzte Kopf des legendären Eginhard herab, der Berater und Freund Kaiser Karls aus dem Geschlecht der Merowinger.Wegen seiner imposanten Erscheinung und der eigenen 7-Fuß-Größe, dem heutigen Maß von 1,92 Meter wurde er auch Karl der Große genannt.
Frank Lehmann erinnerte sich an die Geschichtsstunden, in denen er den Zweitklässlern die Fabel erzählte, wie Seligenstadt angeblich seine Namensgebung erhielt und sie gebannt an seinen Lippen hingen. Besonders gefallen hatte den Kindern, dass Emma, die Tochter Kaiser Karls mit Eginhard durchgebrannt war und der mächtige Kaiser nach den beiden suchte. Gefunden und letztlich verraten hätte sie der Duft von Emmas einzigartigen Pfannkuchen. Der Kaiser soll ausgerufen haben:
Selig sei die Statt genannt, in der ich meine Tochter Emma wiederfand.
Zum ersten Mal, seit Wochen, breitete sich ein Schmunzeln in Frank Lehmanns Gesicht aus. Die Bedienung, die ihm den Radler auf den Tisch stellte, folgerte, dass ihr das Lächeln galt, und erwiderte es mit einem: „Zum Wohl, der Herr.“
Frank nahm dies zum Anlass und fragte, ob sie wüsste, seit wann das Schulgebäude am Main schon leer stand und weshalb. Sie verneinte. Zeigte dann aber zum Einhardhaus. „Am besten, Sie erkundigen sich im Büro der Touristeninformation. Die Damen dort können Ihnen bestimmt weiterhelfen.“
Nach der schmackhaften Mahlzeit ging er, wie ihm geraten worden war, zu besagter Tourist-Info, wie ein Schild an der Eingangstür auf die korrekte Bezeichnung hinwies. Die Auskunft, die er bekam, stimmte ihn aber keineswegs freudiger. Um die altehrwürdige Hans-Memling-Schule hatte ein unschöner Kampf begonnen und das Gebäude war in den letzten Jahren zwischen zwei Fronten geraten. Ein Teil der Bevölkerung wollte eine private Lehranstalt daraus machen; der andere die Räumlichkeiten der Allgemeinheit für soziale Zwecke zugutekommen lassen. Beides kostete aber Geld, das keinem der Interessenten zur Verfügung stand.
Ein Abstimmungsaufruf der „Freunde der HMS“ – so nannten sich die Befürworter der gemeinnützigen Nutzbarmachung – an die Einwohner der Stadt, entschied letztlich zu deren Ansinnen. Dennoch dämmerte das Gebäude weiter in seinem komatösen Zustand dahin. Erfreulicherweise trotzte die Substanz des Hauses einem frühzeitigen Verfall; wenn man bedachte, dass der Hauptteil der Schule schon 1843 erbaut worden war und danach stetig erweitert wurde.
Tief in Gedanken versunken fand Frank sich erneut auf dem ehemaligen Schulgelände wieder. Er setzte sich auf die Stufen des mittigen Haupteingangs, nahm sein Bandoneon vom Rücken und schlug einige leise Akkorde an.
Die Gruppe der älteren Personen bemerkte er erst, als einer von ihnen seinen Gehstock anhob und in seine Richtung zeigte. Sollte der untersetzte und glatzköpfige Mann ihn erkannt haben? Und wenn schon, dachte Frank Lehmann, senkte den Kopf und konzentrierte sich wieder auf sein Musikinstrument. Sekunden später hatte er die Leute vergessen.
Freitag / 15:50 Uhr
„Wenn isch eusch des doch saach. Des is der Lehmann, der Lehrer von der Schul do, der üwer Nacht verschwunne is. Isch hoab den genau erkannt“, beharrte Schorsch und schwang seinen Gehstock beim Laufen hin und her. „Der hot aach genau so e Quietschkommod‘ gespielt – weil, der war doch Musiklehrer – domols in der Schul.“
„Überleg doch mal“, entgegnete Herbert. „Das könnt‘ dreißig Jahr oder sogar länger her sein. Wie willst du den jetzt noch erkenne? Außerdem siehst du sowieso net mehr sehr …“
„Mit der neuen Brille sieht der Schorsch wieder sehr gut“, verteidigte Brigitte ihren Freund.
„Ja genau“, stimmte der zu. „Ihr habt aach noch goar nix gesacht … wie die eusch gefällt. Die Britschitt hot die fer mich ausgesucht. Die war ganz schee deuer. Hier, guckt e mol.“ Bei dem Versuch, die Sehhilfe von seiner Nase zu nehmen, stieß er gegen Herberts Oberarm und die Brille fiel ihm aus der Hand auf die roten Sandsteinplatten vor der Kirche.
„Schorsch!“ Brigittes Aufschrei übertönte fast den Schlag der Kirchenglocke, die gerade 16 Uhr schlug. „Du bist aber auch manchmal ungeschickt“, schimpfte sie und gab Schorsch die Brille zurück, nachdem sie festgestellt hatte, dass sie heil war.
Gundel konnte sich ein Grinsen nicht verbeißen. Seit sie ihre kurze Eifersüchtelei auf die aus Chile zurückgekehrte Britschitt, wie Schorsch Brigitte Diaz geborene Zimmermann nannte, überwunden hatte, kamen die drei gut miteinander zurecht.
Bis vor wenigen Monaten war Sepp noch mit von der Partie. Wenn auch nicht mehr so flott zu Fuß, brachte er durch seine abenteuerlichen Marotten und Einfälle immer wieder Leben in die Truppe. Gundel erinnerte sich noch gut an einige Episoden.
Weil die Festnetzstation auf den Boden gefallen und zerbrochen war, hatte Sepp versucht, das Gehäuse mit Sekundenkleber zu verbinden. Daraufhin mussten die Sanitäter seine Finger, die an der Station klebten, mit einem Spezialmittel lösen. Dann die Sache mit dem vermeintlich toten Kaninchen seines Enkelsohns Leon, dass durch einen identisch aussehenden Hasen ersetzt werden sollte. Stunden später stellte sich heraus, dass das Karnickel nur eine Schnapsleiche war, wegen der ausgelaufenen Flasche Korn, die Sepp im Hasenstall vor seiner Tochter Elfi versteckt hatte. Dass es sich bei dem alkoholisierten Langohr um eine Häsin handelte, die mit dem neu hinzugekommenen Rammler gleich mal eine Familie gegründet hatte, darüber war nur Leon begeistert – dessen Eltern weniger.
Sepps Einfall im letzten Jahr setzte allem aber die Krone auf. Er fotografierte, was ihm vor die Linse kam, und die Aufnahmen landeten letztlich im weltweiten Netz, freilich mithilfe der Körner-Jungs aus der Nachbarschaft. Doch damit ging er eindeutig zu weit. Zumal Gundel bei einem seiner Schnappschüsse die Hauptrolle spielte und dazu in einer keinesfalls vorzeigbaren Situation. Auch wenn die Aufzeichnung von Felix und David Körner wieder aus dem Internet herausgenommen wurden, war das Verhältnis zwischen ihr und Sepp etwas angekratzt – bis vor einigen Wochen.
Er stürzte auf der Treppe im Hauseingang und konnte das Bett nur noch selten verlassen. Seit dieser Zeit saß Gundel oft bei ihm.
Wenn isch mol werklisch net mehr waas, was do owe bei mir vorgeht – sagte er und zeigte auf seinen Kopf, der mit einem weißen Verband umwickelt war – musst de mir verspreche, dass de mir e ganz besonders Plätzje backst, domit des schnell vorbei is.
Zuerst machte Gundel große Augen, nickte dann aber zögerlich. Oft hatte sie ihre Spezialplätzchen mit den geheimen Zutaten gebacken und sich diese zusammen mit Sepp und Schorsch bei einer Tasse Tee schmecken lassen. Und ja – einmal hatte sie sich in der Dosis vertan. Die Folge war, dass sie alle ausgelassen in Sepps Garten tanzten und sangen, hatten aber die Orgie, wie Herbert es genannt hatte, ohne Schaden überlebt. Die Cannabispflanzen nicht. Er entsorgte sie noch am gleichen Tag. Jedoch war der Nachschub durch Gundels Freundin aus den Niederlanden gesichert, jetzt sogar in mundgerechter Form. Und die hohen Stromkosten, die das Aufziehen der Pflanzen erforderlich machten, fielen ebenfalls weg.
Es war schon besser so – besonders für Sepp, sprach Gundel sich selbst Mut zu und wischte die Tränen, die über ihre Wangen kullerten, hurtig weg. Innerhalb von vierzehn Tagen schloss er für immer seine Augen. Elfi hatte gesagt: Mit einem Lächeln im Gesicht. Ob das stimmte ...? Auf jeden Fall half es und Gundel war heilfroh, dass sie ihr Versprechen nicht einlösen musste.
„Warum ist der Lehrer verschwunden?“, wollte Brigitte wissen und holte sie damit in die Gegenwart zurück.
„Ach, des war e ganz komisch Geschicht“, erwiderte Schorsch. „Do war so a Mädsche, die hot ihrn Lehrer …“
„Ihr kommt doch noch mit zum Kaffee?“, wurde er von Elfi unterbrochen. Sie, ihr Mann und Leon – Sepps Lieblingsenkel – sowie dessen Eltern hatten die Gruppe mittlerweile eingeholt.
„Ich habe einen Schokoladenkuchen gebacken“, sagte Bettina. „Den hat Sepp immer so gerne gemocht.“
Spontan fuhr Schorsch genüsslich mit der Zunge über seine Lippen. Gleichzeitig blickte er zum Himmel hoch. „Mer esse e Stick fer disch mit Sepp und denke debei an disch.“
Herbert drehte seinen Kopf zur Seite und wischte eine kleine Träne aus den Augenwinkeln. Nicht nur wegen des emotionalen Moments glänzten jetzt auch Schweißperlen auf seiner Stirn. Von einem nur mit wenigen Wölkchen besiedelten, fast strahlendblauen Himmel schien die Herbstsonne und überschritt nochmals die 18 Grad-Marke. Er schwitzte gewaltig in seinem schwarzen Anzug und war froh, das Jackett bald ausziehen zu können – wenn er denn durfte. Ein Seitenblick zu Helene, die sich ebenfalls mit einem Taschentuch über die Stirn wischte, erfüllte ihn mit Hoffnung. Offenbar war ihr in dem dunkelblauen Kleid mit den weißen Pünktchen, das ihr wunderbar stand, wohl auch zu warm.
Beim Klang der Kirchenglocke schreckte Frank zusammen. Reflexartig zuckte seine Hand nach rechts, wo er sein Akkordeon abgestellt hatte, und atmete erleichtert auf. Das Instrument lag neben ihm. Er musste wohl auf der >Bambelbank<, wie eine angebrachte Plakette die erhöhte Sitzgelegenheit bezeichnete, eingeschlafen sein. Vor einigen Stunden hatte er sich der auf den ersten Blick unbequem aussehenden Bank nahe dem Spielplatz genähert. Schnell stellte er aber fest, dass es sich gut darauf sitzen ließ, obwohl oder gerade, weil die Füße den Boden nicht erreichten und deshalb baumelten. Die anhaltenden Schläge der Kirchenglocke verkündeten, es war 6 Uhr abends und er brauchte eine Unterkunft für die Nacht – und dringend eine Dusche.
Noch immer schien die Sonne aus einem fast wolkenlosen Himmel mit schätzungsweise um 20 Grad Temperatur. Aber laut Wetterbericht würde es schon bald abkühlen und für die nächsten Tage war Regen angesagt. Frank besann sich des Schildes im Fenster eines Fachwerkhauses in der Altstadt, das Ferienzimmer anbot. Sollte er da sein Glück versuchen, oder doch lieber die unpersönliche Umgebung eines Hotels bevorzugen? Mit Sicherheit würde man dort weniger Fragen bezüglich seines Aufenthaltes stellen – wenn überhaupt. Aber was machte es schon? Er brauchte ja nicht zu antworten. Dennoch entschied er sich für die Ferienwohnung; schließlich wollte er den Rest seines Lebens in dieser Stadt verbringen. Da wäre eine kleine Wohnung besser als ein 12-Quadratmeter-Hotelzimmer.
Als er den Platz vor der Schule überquerte, fiel ihm ein Mädchen mit einem roten Kapuzenshirt auf, das sich am >Mainbau<, dem 1905 südöstlich zum Main hin angebauten Trakt, herumtrieb und kurz darauf verschwunden war. Neugierig ging er in die Richtung. Doch von der Jugendlichen fehlte jede Spur. Auch in dem Höfchen neben dem Gebäude, dessen Eisentür mit einem Vorhängeschloss gesichert war, konnte er niemanden entdecken.
Schon zu seiner Zeit an der Schule hatte die Absperrung den Zweck, dass sich kein Kind, während der Pausen dort aufhalten sollte und somit der Aufsicht des Lehrpersonals entging. Dennoch war es, vor allem für die älteren Jahrgänge eine Verlockung gewesen, auf der Brüstung balancierend das Gittertürchen zu umgehen, um in den Hofbereich dahinter zu klettern. Mittlerweile hatte man, wie Frank feststellte, auf der Mauer ein nach innen gebogenes Eisengeländer angebracht, das den Zugang aber nicht wirklich unmöglich machte.
Jetzt hörte er leise gemurmelte Wortfetzen, die aus dem Gebäude zu ihm drangen. War die Schule doch nicht so verlassen, wie es ihm erzählt worden war? Wurden einzelne Räume vielleicht noch immer genutzt? Vermutlich. Was sonst sollten die Teenies außerhalb der normalen Schulstunden dort zu suchen haben? Frank drehte am Türknauf. Ohne ein Geräusch zu verursachen, ließ sich die Tür öffnen. Einen Moment stand er still und lauschte. Nichts! Sein Akkordeon legte er in die Ecke neben dem Eingang und sah durch das Treppenhaus nach oben. Dann setzte er seinen Fuß auf die erste Stufe. Noch immer der gleiche PVC-Belag wie damals. Langsam ging er weiter. Dabei glitten seine Hände auf dem hölzernen Handlauf entlang, der über dem schmiedeeisernen Geländer angebracht war. Die Erinnerungen flammten auf wie heiße Feuerzungen. Er meinte das helle Lachen und das Geschrei der Kinder zu hören und vernahm sogar die schrägen Töne von Flöten sowie eines Bogens, der die Darmsaiten des Geigenkorpus malträtierte. Dann das Aufschlagen des Stocks auf dem Lehrertisch, der eine Unterbrechung und einen Neustart forderte.
Ohne Übergang mischten sich Schüsse, krachendes Getöse und Zischen zwischen die musischen Klänge. Es hörte sich wie eines dieser merkwürdigen Ballerspiele an, die Jugendliche oftmals bevorzugen, um sich in eine Parallelwelt zu flüchten. Ja, natürlich – die Teenies! Er selbst betreute als ehrenamtlicher Mitarbeiter an drei Tagen in der Woche Kinder und Heranwachsende im Jugendtreff in Altötting. Hatte, korrigierte er sich. Über sein Verschwinden waren die Kids bestimmt nicht amused. Innerhalb der Jahre hatte sich ein Vertrauen zwischen ihnen aufgebaut. Mit ihm besprachen sie, was sie ihren Eltern verschwiegen. Das war jetzt vorbei.
Für einen kurzen Moment legte sich der Schatten des schlechten Gewissens über Frank. Ebenfalls, wenn er an Sebastian und Maximilian dachte, seine besten und einzigen Freunde. Sie kannten sich seit seiner Ankunft in Altötting. Sebastian hatte ihm den Job im Museum, der neuen >Schatzkammer Haus Papst Benedikt XVI< verschafft und ihn seinem Kumpel Maximilian vorgestellt, mit dem zusammen er bei Hochzeiten und ähnlichen Veranstaltungen im Duo auftrat. Nachdem Frank andeutete, dass er Akkordeon, Geige und so manch anderes Musikinstrument leidlich spielen könne, war aus der Zweiergruppe ein Trio geworden.
Wie werden die beiden reagieren, wenn sie den Brief am Montagmorgen finden, den er unter Sebastians Bürotür geschoben hatte? Wären sie sauer auf ihn? Geschockt? Oder würden sie versuchen, ihn zu finden?
Franziska hatte er ebenfalls in nur wenigen Zeilen gebeten, nicht nach ihm zu suchen. Ob sie sich daran halten würde? Er hoffte es zumindest. Er wollte kein Mitleid, von keinem der drei. Deshalb hatte er sich still und heimlich vom Acker gemacht. Nur eins erhoffte er sich, bevor er den Löffel abgeben musste: Er wünschte sich, mit seiner geschiedenen Frau Marion zu reden und seine Tochter Nele sehen zu dürfen. Für sie beide war neben seinen Aktien ein Teil des Geldes gedacht, das in der Tasche im Kofferraum seines Wagens lag und das er persönlich überreichen wollte. Keine Wiedergutmachung. Er war nicht so naiv zu glauben, dass eine gewisse Summe genügte, die Jahre seiner Abwesenheit wettmachen zu können. Er wollte nur … ja was eigentlich, fragte er sich jetzt, vor einem Fenster im ersten Stock stehend und auf die Große Maingasse hinausschauend.
Eine weitere Detonation aus dem Obergeschoss katapultierte ihn im wahrsten Sinne des Wortes in die Wirklichkeit zurück und er setzte seinen Weg fort.
„Hallo!“, rief er in den Raum, in dem das Mädchen mit der roten Kapuzenjacke und ein Junge auf einer Art Couch oder über was auch immer die orangefarbige Decke ausgebreitet war, lümmelten. Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, hackten sie angespannt auf die Tastatur ihrer Laptops ein. Ansonsten stand hier nur noch ein Tisch, auf dem Pizzakartons mit Essensresten lagen sowie etliche Bier- und Coladosen. Vier Stühle wahllos verteilt vervollständigten das Inventar.
Er ging einige Schritte in das ehemalige Klassenzimmer, das er als Musiksaal in Erinnerung hatte. Jetzt hoben sich die Köpfe und er hatte die Aufmerksamkeit der Jugendlichen. In der gleichen Sekunde sprangen sie in die Senkrechte.
„Was suchst en du hier?“
Trotz der schroffen Anschnauze bemerkte Frank einen Funken von Unsicherheit, die sich in den Augen des Mädchens widerspiegelte. Interessanter aber war, dass beide ihre Laptops noch immer fest umklammert hielten.
Er hob seine Hände. „Ich wollte nicht stören. Mir wurde erzählt, die Schule stünde seit Jahren leer. Deshalb wunderte ich mich …“
„Tut sie auch“, wurde er von dem Jungen unterbrochen. „Is aber noch lang kein Grund, hier einfach so hereinzuspazieren. Außer, du bist Lehrer.“
Für den Spruch erhielt er von dem Mädchen ein High Five und ein breites Grinsen.
„Also, was willst du hier und wie bist du überhaupt hier reingekommen?“, wandte der Junge sich erneut an ihn. Dabei versuchte er durch eine gerade Körperhaltung, durchgedrücktem Brustkorb, sowie einer festen Stimme einen bedrohlichen Eindruck zu vermitteln.
Frank kannte das. Und, dass manchmal wenige Worte mehr brachten. Weshalb er nun einsilbig antwortete: „Offene Tür, Stimmen und Geräusche. Wollte mal sehen, was hier so abgeht.“
„Sieh zu, dass du Land gewinnst“, spuckte ihm das Mädchen ins Gesicht, das, wie er jetzt feststellte, dem Jungen zum Verwechseln ähnlich sah; rotblonde, wellige Haare und blaue Augen. Kurz flackerte eine Erinnerung auf. „Wenn Till und Marco dich hier finden, wirst du es bereuen“, fuhr sie fort.
Frank meinte, Furcht in ihrem Blick zu erkennen.
„Ok, ok. Bin schon wieder weg.“ Er drehte sich zur Tür. „Wusstet ihr, dass dieser Raum früher der Musiksaal gewesen ist?“
„Äußerst spannend“, antwortete der Junge.
„Spielt ihr ein Instrument?“, fragte Frank weiter, ohne auf die patzige Antwort einzugehen.
„Sehen wir so aus?“ Der Teenager lachte überdreht und zeigte auf seinen Laptop, den er mittlerweile auf das Chill-Möbel gelegt hatte. „Macht mehr Fun.“
„Ist auf jeden Fall lauter“, gab Frank zurück.
„Du bist hier zur Schule gegangen, stimmt’s?“ Das Mädchen kniff die Augen zusammen.
„Gut kombiniert und fast richtig. Ich war tatsächlich Lehrer an dieser Schule, für Musik, Geschichte und Sport. Mein Name ist Frank Lehmann.“ Gewohnheitsgemäß griff er in die Innentasche seiner Jacke, holte eine Visitenkarte hervor.
Sie warf einen kurzen Blick darauf. „Aha. Also auch eliminiert.“ Es klang eher wie eine Feststellung, anstatt einer Frage.
Frank nickte. „Könnte man so sagen. Und ihr? Seid ihr hier zur Schule gegangen?“
Beide schüttelten unisono die Köpfe. „Unsere Eltern“, antwortete der Junge. Diesmal bekam er dafür einen Ellenbogen-Stupser.
„Halt die Klappe.“ Mit fünf Fingern der linken Hand durchkämmte das Mädchen ihre rotblonde Mähne. Eine Angewohnheit, die sie mit vielen ihrer weiblichen Altersgruppe gemeinsam hatte und für Frank immer eine Geste, die mit Unsicherheit einherging. Ebenso wie die jetzt zusätzlich gekreuzten Füße.
„Was ist?“, schnauzte sie ihn an. „Willst du hier Wurzeln schlagen?“
„Eine Frage noch, dann bin ich weg. Wie heißen eure Eltern? Vielleicht kenne ich sie von früher.“
„Sind wir das Auskunftsbüro oder was?“, trat der Junge jetzt in die dieselbe Kerbe, vermutlich, um nicht hinter seiner Schwester zurückzustehen.
Frank versuchte es mit einer List. „Seid ihr nicht neugierig, was eure Eltern in ihrer Schulzeit so getrieben haben?“
„Genug gelabert. Verschwinde!“ Der Junge machte einen Schritt auf ihn zu, wurde aber am Ärmel festgehalten. „Wär doch total cool. Ich meine, wenn mal wieder Stress angesagt ist.“
„Tja. Wär schon abgefahren. Aber was ist, wenn Till und Marco plötzlich hier auftauchen?“, antwortete der Junge.
„Habt wohl mächtigen Schiss vor den beiden, oder?“
„Wir haben vor niemandem Schiss“, entgegnete das Mädchen. „Die haben uns überhaupt nichts zu sagen. Also, leg los. Was weißt du über unsere Eltern?“
„Ich müsste zuerst einmal ihre Namen kennen, bevor ich euch etwas erzählen kann.“
„Jan und Lea Keiler. Also früher hieß unsere Mutter Albrecht. Wir sind Pauline und Julian, eineiige Zwillinge. Aber als ehemaliger Guru wirst du das ja schon erkannt haben.“ Sie kicherte. „Was is jetzt? Sagen dir die Namen was?“
In Franks Kopf lief alles durcheinander. Urplötzlich war die Vergangenheit wieder präsent. Er geriet ins Schwanken, musste sich am Türrahmen festhalten und atmete tief durch. Lea Albrecht! Das Mädchen, das sein Leben zerstört hatte! Ja, die würde er nie vergessen! Jan Keiler war ihm ebenfalls ein Begriff. Er war zwei Klassen über Lea. Heller Kopf, aber cholerisch und stets für eine Schlägerei zu haben. Angeblich waren Lea und er ein Paar, dennoch wurde sie immer wieder mit anderen Jungen im Heizungskeller erwischt. Den hatte Lea geheiratet? „Nein, tut mir leid. Ich kenne eure Eltern nicht.“
„Erzähl das deinem Seelenklempner.“ Julian packte ihn am Arm und Pauline schob ihm einen Stuhl unter den Hintern. Gerade noch rechtzeitig, bevor seine Beine endgültig den Dienst versagten. Indessen drehte sich das Karussell in seinem Kopf immer schneller. Beim Zischen der Coladose, die neben ihm geöffnet wurde, zuckte er zusammen. Aber nach dem ersten Schluck des mäßig kühlen Getränks stabilisierte sich seine Geistestätigkeit auf Normalmaß und er fragte sich: Was wussten die Zwillinge von der damaligen Anschuldigung ihrer Mutter ihm gegenüber? Und wenn, hatte sie ihnen auch erzählt, dass alles erstunken und erlogen gewesen war? Wichtiger noch: Hatte sie seinen Namen überhaupt genannt?
In ihren Gesichtern versuchte er, eine Antwort zu finden. Stattdessen lachte Julian halbherzig: „Unsere Erzeuger müssen es ja heftig getrieben haben, wenn es dich dermaßen aus den Latschen haut.“
Pauline hatte sich, ebenfalls eine Dose Cola in der Hand, rücklings auf einen Stuhl direkt vor Frank gesetzt. Lässig ließ sie ihre Arme über die Stuhllehne hängen und sah ihn erwartungsvoll an – mit diesem Lächeln, das ihn sofort wieder zurückversetzte.
Das Klassenzimmer und Lea, die sich lasziv auf ihn zubewegte – die Knöpfe ihrer Bluse öffnend und mit anzüglichem Gesichtsausdruck. Er meinte, erneut zu spüren wie ihre Hände über seine Brust strichen und er, starr vor Schreck, sich nicht rühren konnte, bis eine andere Schülerin in den Raum stürmte und Lea wie eine Wilde losschrie.
„Los erzähl“, forderte Pauline ihn erneut auf.
„Ja,“ stimmte Julian ein. „Wir wollen alles wissen.“
„Was wollt ihr wissen?“ Till stand plötzlich in der Tür.
„Wer ist der Kerl und was macht er hier?“, kam es von Marco. Er trug eine Plastiktüte in der Hand, aus der unverkennbar der Geruch nach Döner strömte. Unbemerkt von den Zwillingen hatten sie den Raum betreten. Ihre Mienen verrieten: Sie waren von der Anwesenheit des Fremden nicht angetan.
„Er war früher Lehrer, hier in der Schule“, ergriff Julian das Wort. „Er kennt Geschichten von unseren Ellis.“
Till schaute streng in die Runde. „Das ist nicht euer Ernst, oder? Was weiß er sonst noch? Habt ihr schon eine Führung durch den Bau gemacht?“
„Hältst du uns für assi?“, brüllte Pauline ihn an. „Spiel dich mal nicht so auf. Bist nicht der Boss.“
„Ich mach mich dann mal vom Acker.“ Frank erhob sich.
„Du gehst nirgendwohin.“ Till blieb breitbeinig vor der offenen Tür stehen.
„Willst du mich daran hindern?“ Mitleidig schaute er auf den etwa zehn Zentimeter kleineren, aber stämmigen Jungen herab.
„Du schnallst es nicht, oder? Wir sind vier und du bist allein. Ein ehemaliger Lehrer müsste doch rechnen können.“ Marco hatte sich mittlerweile schräg hinter ihm postiert.
Frank drehte sich um und taxierte jeden Einzelnen der Jugendlichen. Von Pauline und Julian schien kein Angriff auf seine Person auszugehen. „Lasst mich einfach gehen. Glaubt mir, ihr würdet es sonst bereuen.“
„Hu. Große Worte von einem alten Mann“, entgegnete Till grinsend, ballte seine Hand und wollte zuschlagen. Doch Frank wich zur Seite und die Faust, die ihn treffen sollte, landete mit voller Wucht in Marcos Gesicht. Der taumelte rückwärts und stützte sich mit einem Arm an der gegenüberliegenden Wand ab. Mit der anderen Hand betastete er seine blutende Nase. In der gleichen Sekunde ergriff Frank Tills Kapuzenkragen, drängte ihn quer durch den Raum und auf die improvisierte Couch. Dass der mit dem Kopf an die Wand schlug, hatte er nicht beabsichtigt.
„Sorry!“ Er dreht sich auf dem Absatz um und verschwand durch die Tür. „Danke für die Cola“, rief er den Zwillingen zu und rannte die Treppen hinab.
„Das wird der Kerl mir büßen“, presste Till mit fast geschlossenen Lippen hervor. Dabei hielt er sich seinen Hinterkopf, auf dem sich spürbar eine Beule bildete.
„Warte!“, rief Julian. Die Zwillinge kamen durch das Treppenhaus gedüst. „Die beiden werden es dir heimzahlen wollen.“
Frank nickte. Er schnallte sich das Akkordeon auf den Rücken. „Danke, für die Info.“
„Du kennst unsere Eltern, stimmt’s?“, fragte Pauline nach.
„Na ja, was heißt kennen? Sind ja doch schon einige Jahre her“, versuchte er um eine Antwort herumzukommen.
„Unsere Mutter ist eigentlich ganz cool aber unser Vater rastet manchmal total aus. Ist ein richtiger Kontrollfreak.“ Julian sah auf seine Armbanduhr. „Wir müssen dann auch, sonst gibt’s wieder Stress.“
Frank atmete hörbar auf. Der Kelch war an ihm vorbeigegangen!
„Wir treffen uns morgen um 14 Uhr an der >Noth Gottes<. Ist da vorne, die kleine Kapelle.“ Pauline zeigte in die Richtung des Friedhofs.
„Komm jetzt“, drängelte Julian und packte seine Schwester am Arm.
Nachdenklich schaute Frank ihnen hinterher. Erneut schlug die Kirchturmuhr, diesmal waren es neun Schläge. Bis morgen hatte er Zeit, sich zu überlegen, was er den beiden sagen wollte.
Freitag / 16:55 Uhr
Zunächst drehten sich die Gespräche um die Beisetzung allgemein und die Vielzahl der Menschen, die Sepp auf seinem letzten Weg begleitet hatten. Diejenigen, die jetzt um den verlängerten Esstisch im offenen Wohnbereich saßen, waren die engsten Nachbarn, in Jahrzehnten zu Freunden geworden, sich gegenseitig unterstützend und immer füreinander da. Aber auch neu Hinzugekommene wie die Kriminalkommissare Nicole Wegener und ihr Lebensgefährte Andreas (Andy) Dillinger. Sie hatten Sepp vor fast genau sechs Jahren kennengelernt, bei dem ersten Mordfall in dieser idyllischen Kleinstadt. Ebenso seine Nachbarn Georg Lenz, allseits als Schorsch bekannt und Gundula Krämer, die von der gegenüberliegenden Straßenseite alles und jeden im Blick hatte.
Damals ging Nicole davon aus, die Intervention in ihre Mordermittlung würde eine einmalige Angelegenheit bleiben; ein gewaltiger Irrtum, wie sie einige Monate später feststellen musste. Seitdem hatte sie es immer wieder mit der selbst ernannten Senioren-SoKo zu tun, dessen Führung Helene Wagner, ihre ehemalige Vermieterin – im Laufe der Jahre zur mütterlichen Freundin geworden – und ihr Lebenspartner Herbert Walter übernommen hatten.
Auch wenn sich Nicole Wegener öfters über die Einmischung ärgerte, musste sie doch zugeben, dass die Hinweise der Hobbykriminalisten sie und ihr Team immer vorangebracht hatten. Als Oigeplackte, wie Herbert sie bezeichnete, tendierten ihre Chancen zum Nullpunkt, ging, es darum an alte Geschichten zu geraten und Geheimnisse auszugraben. Also hatte sie letztes Jahr mit den Hobbyermittlern einen Kompromiss geschlossen: Aushorchen und Auskünfte einholen gestattet – selber aktiv werden ausgeschlossen! Nur stellte die seit Anfang 2019 zur Ersten Kriminalhauptkommissarin ernannte Chefin der Abteilung K11 der Offenbacher Kriminalpolizei fest, dass ihre Anweisungen lediglich von den Kollegen und Kolleginnen im Präsidium befolgt wurden.
In augenfällig angeregter Unterhaltung saßen Gundel, Schorsch und Brigitte am anderen Ende der Kaffeetafel. Sie gaben ein skurriles Bild ab. Immer wieder sprang die 1,45 Meter kleine und kugelige Gundel auf, wenn sie Brigitte ansprechen wollte, weil Schorsch zwischen ihnen thronte. Folglich machte sie den Eindruck eines Kindes, das auf seinem Hüpfball auf und nieder hopste.
Die Kommissarin konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.
Die nächsten vier Sitzplätze waren frei, weil Helene derzeit am Kuchenbüffet stand und sich mit Bettina Roth unterhielt und ihr Ehemann Ferdinand zusammen mit Herbert für alkoholischen Nachschub sorgte. Der Einzige, der sich sofort aus dem Staub gemacht hatte kaum, dass die Gäste das Haus betraten, war Leon, Sepps Stiefenkel. Nicole schätzte, dass er am meisten unter dem Verlust litt. Er hatte seinen Grandpa, wie er Sepp in letzter Zeit betitelte, sehr gemocht und ihn oft in den Ferien besucht. Das lag nicht zuletzt daran, dass Sepp, trotz seines fortgeschrittenen Alters, für alles empfänglich war, was Leon interessierte und dementsprechend zu sämtlichen Schandtaten bereit.
Nicole erinnerte sich an die Sache mit der Drohne, die die beiden über die Nachbargrundstücke hatten fliegen lassen und dabei Gundula Krämer beobachten. Die meinte, es handele sich um einen Angriff von Außerirdischen und hatte, außer sich vor Furcht, sie sollte entführt werden, die Polizei informiert. Zum Glück glaubte der Leiter der hiesigen Polizeidienststelle nicht an eine extraterrestrische Bedrohung und verfasste keinen Bericht. Im Gegenzug legte er ihr nahe, in Zukunft von Videos, in denen Ufos und Aliens vorkommen, Abstand zu nehmen.
„Nicole, darf ich dir noch ein Stück Schokoladenkuchen auflegen?“, wurde die Kriminalbeamtin von Bettina Roth aus ihren Gedanken geholt.
„Wie? Eh ..., nein danke. Dein Kuchen schmeckt ausgezeichnet und ich liebe alles, was mit Schokolade zu tun hat. Aber es wäre schon das zweite Stück und die anderen wollen ...“
„Der Sepp mochte ihn auch sehr, deshalb habe ich den gebacken – quasi als Hommage. Jeder von uns hat einen von Sepps Lieblingskuchen gebacken. Helene ihre berühmte Käsetorte und Elfi einen Streuselkuchen.“
„Und was hat Frau Krämer beigesteuert?“ Nicole schaute bedenklich auf das Kuchenbüffet auf dem Tisch nebenan.
„Nichts“, antwortete Bettina und flüsterte ihr ins Ohr. „Wir wollten keinesfalls, dass deine Kollegen vom Drogendezernat hier einfallen.“
„Oh. Da bin ich beruhigt. Wenn das so ist, esse ich gerne noch ein Stück.“ Die Kommissarin lächelte. „Aber bitte, kann ich ein Glas Wasser haben? Noch einen Kaffee und ich tanze heute Nacht.“
„Dann vielleicht einen chilenischen Roten?“, fragte Gerald, Elfis Ehemann und hielt eine Flasche Rotwein in der Hand. „Ein Geschenk von Brigitte. Wäre besser als eine Trauerkarte, meinte sie.“
„Nur zu“, wurde Nicole von Andy ermuntert. „Du hast dieses Wochenende keinen Dienst, ich schon. Deshalb bei mir nur Wasser.“
„Ach stimmt, du hast ja Bereitschaftsdienst. Du Ärmster.“ Sie verzog bedauernd das Gesicht.
Eine Schussverletzung bei einem Einsatz im Frankfurter Rotlichtmilieu im Jahr 2000 nötigte Kriminalhauptkommissar Andreas Dillinger zum Innendienst. Spontan entschied er, sich vorerst komplett aus der Schusslinie und damit quasi in den Untergrund zurückzuziehen. Nachdem er einige Zeit im Archiv des Offenbacher Polizeipräsidiums zugebracht hatte, die scherzhaft Katakomben genannt wurden, entdeckte er sein Interesse für die Cold Cases. Er absolvierte eine Ausbildung zur psychologischen Betreuung traumatisierter Opfer, um die er sich ehrenamtlich kümmerte, ebenso um Angehörige von Mordopfern. Einige Jahre war er damit auch sehr zufrieden. Aber seit er mit Nicole zusammengezogen war und folglich wieder hautnah an den Ermittlungen teilnahm, spürte er dieses gewisse Kribbeln, das ihn in seiner Zeit bei der Sitte stets begleitet hatte und er wusste, der Zeitraum seiner Passivität war vorbei. Zumal auch sein Bein, das ihn gehindert hatte, in den aktiven Polizeidienst zurückzukehren, wieder voll einsatzfähig war. Jedenfalls so weit, dass er einen Flüchtigen kurzzeitig würde verfolgen können. Seit Juli war er nun im lebendigen Betrieb zurück, aber eben beim Kriminaldauerdienst. Das bedeutete: Schichtdienst und er war für dieses Wochenende eingeteilt.
„Oh, ist der köstlich“, meinte Nicole und trank einen großen Schluck Wein. „Ob Brigitte Diaz uns davon welchen verkaufen würde?“
„Warum nicht? Frag sie.“
„Auf Sepp!“ Am anderen Ende des Tisches erhob Schorsch sein Schnapsglas und sich selbst. Die beiden Damen an seiner Seite ebenso.
„Ja, stoßen wir auf Sepp an.“ Erneut sprang Gundel auf, um mit Brigitte anstoßen zu können. Dabei schwappte ein Teil des Inhalts über Schorschs dunklen Anzug und die weiße Tischdecke.
„Huch!“ Erschrocken blickte sie auf das Malheur. „Das ... das tut mir jetzt aber wirklich leid. Ich ...“
„Schoad, dass de Sepp des jetzt nemmer sieht. Der hätt sich bestimmt gefreut un a Foto ... Ach, isch hoab ja selbst moi Handy debei. Bleib grad mol so, Gundelche. Ich mach schnell e Bildsche.“
„Das lässt du mal schön bleiben.“ Gundel hieb Schorsch auf die Finger. „Wasch dir besser mal die Flecken aus deiner Hose.“ Sie deutete auf die zunehmend größer werdende Stelle auf seinem Beinkleid. „Sonst glaubt noch jemand an etwas weit Unerfreulicheres. Und wie kommst du eigentlich dazu mich Gundelche zu nennen?“
Schorschs Gesicht lief rot an. Statt einer Antwort griff er hektisch nach der Papierserviette neben seinem Kuchenteller und versuchte, die Spuren zu beseitigen. Natürlich machte er es nur noch schlimmer. Nun hatte er nicht nur eine nasse Stelle an der Hose, wo niemand sie gerne erblickte, sondern zusätzlich weiße längliche Krümel.
„Ich denke, wir verabschieden uns jetzt“, verkündete Brigitte. An ihrem lauten Schnaufen hörte jeder, dass sie gerade ziemlich genervt war. „Danke für die Einladung“, sagte sie und zog Schorsch hinter sich her. Kurz darauf waren beide durch die Tür verschwunden.
„Ich glaub es geht schon wieder los“, summte Herbert den Ohrwurm von Roland Kaiser in Helenes Ohr. Sie verdrehte nur die Augen.
Freitag / 21:35 Uhr
Frank Lehmann hatte die Ferienwohnung bekommen. Das etwa 40 qm Apartment mit einer kleinen Küchenzeile war modern eingerichtet und erfüllte seine Bedürfnisse mehr als erwartet. Ebenfalls freudig überrascht war auch das ältere Ehepaar, denn er zahlte die Miete für drei Monate im Voraus. Nun wollte Frank schnellstens seinen Wagen holen, den er auf dem Parkdeck am Kloster abgestellt hatte. Wenn er sich richtig erinnerte, betrug die Standzeit vierundzwanzig Stunden und das gerade mal für zwei Euro. Viel zu günstig fand er und noch weniger als die Parkgebühr von fünf Euro in der Tiefgarage in Altötting.
Zufrieden schlenderte er die Aschaffenburger Straße entlang. Ein Pfau hinter der Klostermauer schrie laut und schrill, woraufhin er zusammenzuckte. Schon zu der Zeit, als er hier lebte, gab es die Pfauen. Damals stolzierten sie im vorderen Gartenbereich umher und die kleineren Kinder wurden von ihren Eltern hochgehoben, damit sie durch die aus Sandstein gemauerten Halbrundbögen die Vögel mit ihrem prachtvoll aufgeschlagenen Federkleid sehen konnten.
Die Benediktinerabtei zu besuchen, das hatte Frank sich für den kommenden Tag vorgenommen. Morgen früh würde er erst einige Einkäufe machen, um seine Grundversorgung zu sichern. Die gut eingerichtete Küche in seiner Bleibe lud geradezu zum Kochen ein. Er kochte gerne, am liebsten zusammen mit Franziska. Der Gedanke an sie schmerzte. Hatte sie den Brief schon gefunden? Natürlich hatte sie. Er hatte ihn unübersehbar auf die Ablage in der Diele gelegt. Ob sie Sebastian und Maximilian angerufen hatte? Oder saß sie in ihrem Sessel und starrt vor sich hin – nicht begreifend. War es denn richtig, ihr das nach all den Jahren anzutun? Habe ich egoistisch gehandelt – schon wieder?
In Gedanken versunken erreichte er das Parkdeck. Gerade hatte er die Tür seines Wagens geöffnet, da bekam er einen Schlag in den Rücken. Ein Weiterer traf ihn in die rechte Kniekehle. Er klappte zusammen. In die helle Leuchtstoffröhre über ihm blinzelnd, versuchte er auszumachen, wer ihn angriff, sah aber nur undeutlich zwei Gestalten. Plötzlich hörte er lautes Rufen und die Angreifer flüchteten.
„Alles in Ordnung? Geht es Ihnen gut?“ Ein stämmig gebauter Mann mit Glatze beugte sich über ihn. „Brauchen Sie einen Krankenwagen?“
„Danke. Ich denke es geht schon.“ Frank rappelte sich langsam auf. Die ihm hilfreich ausgestreckte Hand nahm er dankend an.
„Ich wollte gerade los, als ich gesehen habe, dass die beiden Ihnen folgen. Ich dachte mir, bleibst mal noch einen Moment. War ja auch letztlich richtig. Die waren etwa fünfzehn Jahre alt und circa 1,70 groß. Haben Sie die nicht bemerkt oder kennen Sie die?“
Frank schüttelte heftig den Kopf, was sofort einen stechenden Schmerz zufolge hatte. Er torkelte. Wiederholt bewahrten ihn die hilfreichen Hände des Mannes vor einem Sturz.
„Vielleicht sollten Sie sich doch besser untersuchen lassen.“
„Nein danke.“ Mir kann eh keiner mehr helfen, setzte er gedanklich nach. „Ich brauche nur eine Tablette.“ Mit zittrigen Fingern griff er in die Innentasche seiner Jacke, holte eine Blisterpackung hervor und steckte sich ein Dragee in den Mund.
„Ich sehe, Sie kommen aus Altötting?“ Der Mann deutete auf das Autokennzeichen.
„Ja. Ich brauchte mal eine Veränderung.“
„Unser Seligenstadt ist normalerweise ein friedlicher Ort. Obwohl auch hier Verbrechen nicht unbekannt sind. Na ja, kann ja nur besser werden.“
„Wollen wir es hoffen.“
„Passen Sie auf sich auf. Heutzutage kann man nicht vorsichtig genug sein. Drogen und Alkohol greifen immer mehr um sich und sind ein starkes Motiv für die Kids.“
Frank sah den Mann perplex an. Er trug eine armeeartige Jacke, die exakte Bezeichnung lautete wohl Camouflage-Armeeparka, soweit er sich erinnerte.
„Nochmals danke für Ihre Hilfe“, rief er.
„Nicht dafür.“ Der Mann wandte sich um und ging zum Ausgang.
Als Frank vom Parkdeck fuhr, saß sein Retter jetzt mit Helm auf einer schwarzen Harley Davidson, hob zum Gruß den Arm und blubberte an ihm vorbei. Indessen er seinen Wagen durch die Aschaffenburger Straße lenkte, ließ er den Zwischenfall noch einmal revue passieren und kam zu dem Schluss: Es konnten nur Till und Marco gewesen sein, die ihn überfallen hatten. Den Angaben des Bikers nach stimmten Größe und Alter. Aber weshalb? Nur, weil ich mich gegen sie verteidigt habe? Bei solch einer heftigen Reaktion dürfte nicht nur eine Menge Frust dahinterstecken. Da war noch mehr, das hatte er nicht selten im Jugendzentrum erlebt. Morgen, wenn er Pauline und Julian träfe, würde er den beiden vorsichtig auf den Zahn fühlen.
Mittlerweile war er an einer Parkfläche unweit seiner Bleibe angekommen. Er holte seinen Rucksack aus dem Kofferraum und ging zu dem Haus, in dem er seine letzten Monate verbringen durfte. Die Fenster im Erdgeschoss waren erhellt und das weißblau flackernde Licht verriet, dass der Fernseher lief. Kaum, dass er die Zugangstür aufgeschlossen hatte, wurde er unüberhörbar von der Frage überfallen: Wo waren Sie gestern Abend zwischen 8 und 10 Uhr? Er war fast drauf und dran zu antworten, bis ihm bewusst wurde, dass es sich um eine Kriminalserie handelte, die er selbst gerne am Freitagabend ansah.
So leise wie möglich stieg er die Stufen in den ersten Stock hoch. Seinem Rucksack entnahm er nur das Notwendigste wie einen Schlafanzug, Zahnbürste und Zahnpasta, ein Handtuch und ein Stück Seife. Dann ging er ins Bad. Dem müden Gesicht im Spiegel schenkte er keine weitere Beachtung. Drei Minuten später lag er im Bett und war kurz darauf schon eingeschlafen.