Читать книгу Beschuldigt - Rita Renate Schönig - Страница 9

Samstag – 07. September 2019 / 09:40 Uhr

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Regen trommelte an die Fensterscheiben. Frank Lehmann stand auf und sah auf sein Handy, das er am Abend auf den Küchentresen gelegt hatte. Es war zwanzig vor zehn und er verspürte Hunger. Spontan beschloss er, in einem Café ein ausgiebiges Frühstück einzunehmen. Nach einer kurzen Dusche suchte er in seinem Rucksack einen dünnen Pullover. Dabei stießen seine Finger an Franziskas Foto. Für ein paar Momente verlor er sich in den blauen Augen und in dem Gesicht, das er so sehr liebte. Er stellte das Bild auf den Tisch neben dem Bett.

Unmittelbar nachdem er die Tür geöffnet hatte, huschte ein schwarzer Schatten um die Ecke. Gleichzeitig flog ein Zettel hoch, um sofort wieder auf die Fußmatte niederzusinken. Er bückte sich.

Guten Morgen Herr Lehmann.

Wir hoffen, Sie haben gut geschlafen und erwarten Sie in unserer Küche.

Annemarie und Walter Fuchs

Frank war verunsichert. Hatte das jetzt Gutes oder Schlechtes zu bedeuten, dass seine Vermieter mit ihm sprechen wollten? Zaghaft klopfte er und nach dem „Herein“ öffnete er die Tür. Der Duft von Kaffee und frischen Brötchen erfüllte den Raum. Blitzartig sauste ein großer schwarzer Kater an ihm vorbei und mit einem gekonnten Sprung auf den Schoss des Hausherrn.

„Da bist du ja.“ Herr Fuchs blickte von seiner Zeitung auf. „Wo hast du dich die ganze Nacht herumgetrieben?“

„Was? Wie? Ich war ...“

Frau Fuchs lachte. „Guten Morgen Herr Lehmann. Mein Mann meint unseren Kater Lenin. Sie haben also unsere Nachricht gefunden. Wir dachten, dass Sie gestern bestimmt keine Zeit mehr hatten, etwas einzukaufen. Deshalb möchten wir Sie zum Frühstück einladen.“ Sie deutete auf den leeren Platz am Tisch, auf dem ein unberührtes Gedeck stand.

„Das Frühstück berechnen wir Ihnen natürlich extra“, ergänzte Herr Fuchs mit ernster Miene.

„Walter! Ich bitte dich. Was soll Herr Lehmann nur von uns denken.“

Wieder an Frank gerichtet sagte sie: „An den trockenen Humor meines Mannes gewöhnen Sie sich schon noch. Jetzt greifen Sie mal tüchtig zu. Sie sehen aus, als ob sie es vertragen könnten.“

„Das ist sehr freundlich von Ihnen. Danke. Ich hatte wirklich noch keine Zeit.“

Derweil kraulte der Hausherr den Stubentiger hinter den Ohren, der seinen Kopf genüsslich hin und her bewegte. Jetzt erst bemerkte Frank, dass der ein schwarzes Halsband trug, an dem ein rubinroter Stein aufblitzte. Ungewöhnlich für einen Kater, dachte er.

Er hatte es nicht so mit Katzen und setzte sich vorsichtig auf den angebotenen Stuhl. Es folgten zwei Sekunden gegenseitiger Taxierung. Dann beschloss Lenin, dass er dem Fremden genug Respekt eingeflößt hatte, und schloss die Augen. Frank meinte ein Grinsen im Gesicht des Stubentigers zu erkennen.

Frau Fuchs goss Kaffee in die Tasse. „Sie trinken doch Kaffee – oder möchten Sie lieber Tee?“

„Nein, nein, bitte keine Umstände. Kaffee ist in Ordnung.“

Die Entscheidung, sich eine Wohnung zu mieten, anstatt eines Hotelzimmers, war wohl die Richtige. Er war für sich und hatte dennoch ein klein bisschen Familienanschluss. Vorausgesetzt er kam mit Lenin klar.

Nach dem reichhaltigen Frühstück schlenderte Frank zum Wochenmarkt, der, wie Frau Fuchs ihm erzählt hatte, immer Samstags und Mittwochs stattfand. Mittlerweile schielte die Sonne zwischen den Wolken hervor und es hatte aufgehört zu regnen, und auf dem Platz vor dem Rathaus war schon eine Menge los. Frank bummelte durch die Reihen der Stände und besah sich das Angebot. Als er sich ruckartig umdrehte, stieß er beinahe mit einer Frau zusammen. Er entschuldigte sich und ging weiter, blieb dann aber stehen und schaute ihr nach. Auch sie drehte sich um. Für einen kurzen Moment sahen sie sich an. Konnte es sein? Nein. Das wäre schon mehr als ein Zufall. Und dennoch ... die Augen ... der Gesichtsausdruck und die Bewegungen …?

Frank rief sich ihr Aussehen ins Gedächtnis und die längst verschwommenen Erinnerungen wurden immer deutlicher. Er reckte den Kopf, suchte den Platz ab und sah die Frau über die Straße rennen. Einen Moment dachte er darüber nach, ihr zu folgen, verwarf aber den Gedanken schnell wieder. Was hätte er sagen sollen? Weshalb sollte er überhaupt mit ihr sprechen? Sie hatte sein ganzes Leben, seine Ehe, seine Familie zerstört. Er ballte die Hände zu Fäusten, bis sie schmerzten. Die Zwillinge Pauline und Julian kamen ihm in den Sinn. Hatte er das Recht zu erzählen, was damals vorgefallen war? Nein, entschied er. Das sollte Lea selbst übernehmen, wenn sie es für richtig hielt.

„Für die kommende Woche bin ich gut versorgt“, murmelte er vor sich hin und stieg die Stufen zu seiner Bleibe hinauf. Kaum hatte er die Tür geöffnet, saß Lenin auf der Fußmatte, schaute interessiert, kam aber nicht in die Wohnung. Sekunden später war er verschwunden.

Frank legte den Schweinebraten, den er für heute Abend zubereiten wollte, Wurst und Käse in den Kühlschrank und bestückte eine Porzellanschale mit frischem Obst. Er öffnete das Fenster, das zum Hinterhof ging, um die Mittagssonne hereinzulassen, und setzte sich, mit zwei Fischbrötchen und einer Flasche Wasser auf die Couch vor dem Fernseher. Der Bildschirm war zwar wesentlich kleiner als der zu Hause, aber das war egal und Vergangenheit. Tot und begraben wie auch er bald. Gleichgültig zappte er durch die Programme. Irgendwann musste er eingeschlafen sein. Ein Klopfen an der Tür schreckte ihn auf.

„Entschuldigen Sie, Herr Lehmann“, sagte Herr Fuchs. „Ich wollte nur fragen, ob unser Kater bei Ihnen ist. Normalerweise liegt er um diese Zeit auf seinem Sessel im Wohnzimmer. Er hat so seine Gewohnheiten. Und jetzt finden wir ihn nicht.“

„Nein. Nicht, dass ich wüsste.“ Mit einer halben Drehung in den Raum schaute Frank sich um und stutzte. Lenin lag unter dem Tisch. Neben ihm zwei Hälften eines Brötchens und Zwiebelringe. Mit den Pfoten putzte er soeben genüsslich über sein Maul. „Doch, er ist hier. Lenin hat den Belag meines zweiten Fischbrötchens verspeist.“

„Oh, das tut mir leid. Lenin! Das hat ein Nachspiel. Kein Abendessen!“

Den Kater schien die Rüge seines Herrn nicht sonderlich zu interessieren. Er erhob sich elegant und flanierte durchs Zimmer, drehte schnurrend einige Runden um Franks Beine und schoss davon, bevor Herr Fuchs ihn zu fassen bekam.

„Brüderlich geteilt.“ Frank grinste. „Eins hatte ich schon gegessen.“

„Ich bezahle Ihnen natürlich das Fischbrötchen und die Schweinerei beseitige ich auch gleich.“

„Nicht nötig, Herr Fuchs. Das mache ich schon. Ich hatte heute Morgen ein leckeres Frühstück bei Ihnen, und dafür nahm Ihr Kater sein vorzeitiges Abendessen bei mir ein.“

„So etwas hat der Lenin noch nie gemacht. Er scheint Sie zu mögen.“ Ein nachdenklicher Blick traf Frank Lehmann. „Sie kommen mir irgendwie bekannt vor.“

Samstag / 13:25 Uhr

Das Gemurmel ihrer Eltern, insbesondere aber die Worte sexuelle Belästigung und Anzeige ließen die Zwillinge auf der Treppe anhalten. Gebannt lauschten sie der weiteren Unterhaltung und konnten kaum glauben, was sie hörten. Erst als ihr Vater laut äußerte er würde herausfinden, was der Kerl im Schilde führt und das Schleifen eines Stuhlbeins hörbar war, schlichen sie schnell und leise aus dem Haus.

„Ich werde dem gewaltig einheizen, wenn der meint, unsere Familie ...“

„Du hörst dich an wie unser Alter“, unterbrach Pauline ihren Bruder. „Lass uns doch erst mal hören, was er zu sagen hat. Kann doch sein, dass sein Auftauchen hier gar nichts mit Mama zu tun hat.“

„In welchem Universum lebst du?“, fauchte Julian. „Warum sonst sollte er hier sein, nach all den Jahren? Vielleicht ist er pleite und will uns erpressen.“

„He ...? Du tickst doch nicht ganz richtig. Wenn er wirklich Geld will, hat er bei uns schlechte Karten. Unsere Eltern kommen gerade mal so über die Runden.“

„Stimmt auch wieder“, nickte Julian und dachte an die Handys und iPads, die auf dem Dachboden der Schule in einem Karton lagen. Sollte er selbst für Abnehmer sorgen? Zwangsläufig bedeutete das aber Ärger mit Till.

Mittlerweile waren sie am Spielplatz gegenüber dem Kloster angekommen. Pauline zupfte ihren Bruder am Ärmel. „Komm, da vorn ist er.“


Nach einem Spaziergang durch den Klostergarten – Frank hatte sich auf eine der Bänke gesetzt und sich die Sonne ins Gesicht scheinen lassen – setzte er seinen Weg zum Treffpunkt mit den Zwillingen fort. Jetzt war er sich nicht mehr sicher, ob er ihnen die Geschichte erzählen sollte.

Die Tür zur Noth-Gottes-Kapelle stand offen und er trat ein. Sofort umgab ihn Kühle und umgehend setzten die Kopfschmerzen ein. Seit etwa zwei Wochen stellte er fest, dass Wärme ihm guttat, während Kälte stechende Schmerzen verursachte. Musste mit dem Scheiß Tumor zusammenhängen. Vielleicht hätte ich meine letzten Tage in Italien oder Spanien verbringen sollen.

Er verließ die Kapelle wieder und setzte sich rechts nebenan auf eine der Bänke und schluckte eine Tablette. Noch bis vor einigen Wochen vermied er Arzneimittel, wenn immer es möglich war. Jetzt konnte er ohne sie nicht mehr leben. Erneut erwischte er sich bei dem Gedanken an eventuelle Spätschäden. Typisch für dich, alter Knabe. Er schaute zur Marienfigur, die hinter einer Glasscheibe in die Steinwand der Friedhofsmauer eingelassen war. Hl. Jungfrau der Armen, war auf der Tafel zu lesen.

Er erinnerte sich, dass der gütige Ausdruck in dem Madonnengesicht ihn schon als Kind faszinierte und er oft davor gestanden hatte. Sollte er mal wieder in die Kirche gehen, oder zumindest anfangen zu beten? Viel Zeit bleibt mir nicht mehr, dachte er, als die Zwillinge durch das Friedhofstor kamen.

Julian stürmte direkt auf ihn zu. „Wir wissen alles“, schnaubte er und baute sich, wie am Tag zuvor, vor Frank auf.

„Was wisst ihr?“

„Na alles.“

„Und was wollt ihr dann noch von mir?“

„Dass du unsere Mutter in Ruhe lässt! Gib es zu: Du bist wegen ihr in Seligenstadt!“

„Wie kommt ihr darauf, dass ich wegen eurer Mutter ...?“

„Weil du Geld von uns erpressen willst?“, unterbrach Julian ihn mit grimmigem Gesichtsausdruck.

Frank Lehmann seufzte. Er kam nicht um das Gespräch herum. „Setzt euch. Es lässt sich besser reden.“ Er deutete auf die Bank gegenüber. „Eure Mutter hat euch also erzählt, was damals vorgefallen ist?“

„Ja, hat sie“, antwortete Julian.

„Also nicht direkt. Eher ... unserem Vater“, ergänzte Pauline.

„Aha. Demnach habt ihr gelauscht?“

„Is doch total scheißegal.“ Julian tigerte noch immer auf und ab, blieb dann aber vor Frank stehen und fragte: „Hat sie damals wirklich gelogen? Und wenn ja: Weshalb hast du die Fliege gemacht, anstatt ...?“

„Was? Es zum Prozess kommen lassen?“ Frank schüttelte den Kopf. „Es gab so schon genug Aufsehen. In einem Ort wie diesem spricht sich eine solche Anschuldigung wie ein Lauffeuer herum. Ihr könnt euch doch überhaupt nicht vorstellen, wie es ist, unschuldig an den Pranger gestellt zu werden, nur weil ... Egal, das ist Schnee von gestern und deshalb bin ich auch nicht hier.“

„Warum dann?“, bohrte Pauline weiter.

„Weil ...“ Nein, er würde den beiden den eigentlichen Grund seiner Rückkehr nicht verraten. „Weil ich einfach Sehnsucht nach meiner Heimatstadt hatte. Mein Besuch hier hat absolut nichts mit eurer Mutter zu tun. Das kann ich euch versprechen und das muss euch genügen.“

Die Zwillinge sahen sich an. Die Erleichterung stand ihnen ins Gesicht geschrieben.

„Trotzdem gehst du Papa am besten aus dem Weg“, sagte Pauline. „Wenn der sauer ist, willst du nicht in seiner Nähe sein, glaubs mir.“

Frank nickte. „Jetzt habe ich auch eine Frage: Wisst ihr zufällig, wo sich eure Freunde Marco und Till gestern Abend aufgehalten haben?“

„Hä? Nö, wissen wir nicht“, erwiderte Julian. „Warum?“

„Ach nur so. Hätte ja sein können, dass ihr zusammen etwas unternommen habt.“

Die Zwillinge verschwanden durch das Friedhofstor und Frank spazierte durch die Grabreihen. Dabei überlegte er, ob er sich hier nicht schon mal einen Platz reservieren solle. Er wollte aber eingeäschert und in einem dieser unbekannten Gräber bestattet werden. Nur hatte er auf dem alten Friedhofsgelände keine solche Möglichkeit entdecken können, weshalb er den Weg zum neuen Friedhof einschlug, der auf der anderen Seite des Parkdecks lag.


„Scheiße“, äußerte Pauline und machte ihren Bruder auf Till und Marco aufmerksam, die ihnen entgegenkamen. „Ich hab jetzt keinen Bock auf die. Wimmel sie ab.“

„Und wie?“

Drei Sekunden später standen die Zwillinge den beiden gegenüber.

„Ich hab einen Abnehmer für zwei Handys und ein Tablet. Ihr trefft euch mit dem heute achtzehn Uhr an der Fähre“, befahl Till.

„Wieso wir? Weshalb machst du das nicht selbst?“, protestierte Pauline.

„Weil ich es sage und weil wir anderes zu tun haben.“ Er gab Marco eine High-Five. Der grinste dämlich und fragte: „Ihr wisst nicht zufällig, wo dieser Arsch sich verkrochen hat?“

Die Geschwister wussten sofort, wen er meinte, und schüttelten die Köpfe.

„Lass den doch. Der hat doch eh kein Peil.“

„Was geht en bei dir ab?“ Marco richtete seinen glasigen Blick auf Julian. „Der Meister braucht einfach noch eins auf die Fresse“, setzte er nach und tänzelte zappelig auf der Stelle.

Bestimmt wieder auf Ecstasy, dachte Pauline.

Früher mochte sie Marco sehr. Sie hatten sich sogar ein paarmal geküsst. Aber seit dieser Till aufgetaucht war, hatte sich alles verändert. Seitdem lungerte er nur noch mit dem Loser herum, der sich sofort durch seine Gewalttätigkeit zum Leader aufgespielt hatte und stand fast ständig unter Drogen. Sie wollte nichts mehr mit Marco – mit Till schon überhaupt nichts – zu tun haben. Lieber würde sie mit ihrem Bruder im Jugendzentrum am Rande der Stadt abhängen. Dort gab es supercoole Leute. Vor allem mit den ehrenamtlichen Betreuern konnte man sich richtig gut unterhalten. Aber auch das war nicht mehr möglich.

Vor einigen Monaten, kurz nach dessen Neueröffnung, gab es einen Einbruch im Jugendtreff. Zwar wurde nur wenig Bargeld erbeutet, der Sachschaden war dagegen beträchtlich. Schon einen Tag später hatte Julian gestanden, beteiligt gewesen zu sein und hatte ihr das Lager im Dachgeschoss der Schule gezeigt – mit dem Versprechen: KEIN WORT zu Till und Marco!

Obwohl, wie die Polizei den Medien mitteilte, die Täter auf den Überwachungskameras nicht einwandfrei identifiziert werden konnten, wollten die Zwillinge kein Risiko eingehen.

„Also, nicht vergessen – 18 Uhr.“ Till wedelte mit erhobenem Zeigefinger und trottete lachend davon.

Pauline hasste diesen Penner. Eines Tages wirst du dafür bluten, schwor sie sich.

„Wie sollen wir das anstellen? Unser Alter flippt aus, wenn wir um 18 Uhr aus dem Haus wollen.“

Samstag – 07. September 2019 / 16:40 Uhr

Am frühen Nachmittag hatte er im Garten einen Baum gefällt, der ihn schon den ganzen Sommer über gestört hatte. Er war zu hoch gewachsen und hielt die Sonne von der Terrasse fern. Als er jetzt ins Wohnzimmer trat, stand seine Frau vor dem Kamin und zuckte bei seinem Anblick zusammen. Sie zerknüllte das Papier, auf das sie gestarrt hatte, und wollte es in die Flammen werfen. Aber er war schneller und riss es ihr aus der Hand. Er vermutete, dass es sich wieder um ein Schreiben von der Schule handelte, weil die Zwillinge sich erneut etwas hatten zuschulden kommen lassen und man es vor ihm verheimlichen wollte. Doch es war kein Brief, sondern eine Strafanzeige wegen sexueller Belästigung. Sein Adrenalinspiegel schnellte in die Höhe. Hatte sich sein Sohn strafbar gemacht? Oder war gar seine Tochter belästigt worden? Dann fiel sein Blick auf den Namen: Lea Albrecht. Sofort war die Sache wieder präsent. Schon damals hätte er nichts lieber getan, als dem Pauker die Fresse zu polieren. Aber Lea hielt ihn zurück und in der nächsten halben Stunde erfuhr er den Grund. Sie gestand ihm, nicht die Wahrheit gesagt zu haben, weil sie zu wütend gewesen wäre und sich auch zu sehr geschämt hätte. Als Lehmann Ende der Sommerferien verschwunden sei, verdrängte sie den Vorfall. Doch heute Morgen meinte sie, ihn gesehen zu haben, und fragte sich, ob er wegen ihr zurückgekommen sein könnte.

Darauf wusste Jan Keiler auch keine Antwort. Aber er würde herausfinden, was der Lehrer im Schilde führte und ihn zur Rede stellen. Das versprach er seiner Frau und – dass er nichts Dummes anstellen würde. Und jetzt war es doch passiert! Hätte Julian ihm bloß nicht gesagt, wo er den Mann finden könnte. Aber nein, seinem Sohn durfte er nicht die Schuld zuschieben. Er ganz alleine war verantwortlich.

Oft hatte er den Eindruck, dass seine Kinder in ihm lediglich denjenigen sahen, der das Geld ranschaffte. Er hatte keinen besonders engen Draht zu ihnen; was wohl auch daran lag, dass er die meiste Zeit beruflich außer Haus war. Dass Julian ihm von Frank Lehmann erzählte, kam deshalb völlig überraschend. Allerdings verließ er sich nicht auf die Aussage seines Sohnes, dass von dem ehemaligen Lehrer keine Gefahr ausginge, wie der ihm und Pauline versichert hatte.

Das wollte er mit eigenen Ohren hören!

Frank Lehmann stand an der Mauer des Schulhofs und schaute hinunter zum Main. Jan Keiler erkannte ihn sofort. Nach all den Jahren hatte er noch immer die gleiche Statur und das wellige, wenn auch jetzt ergraute, schulterlange Haar.

Der ehemalige Lehrer bemerkte seine Anwesenheit erst, nachdem er fast neben ihm stand. Ob er ihn wiedererkannt oder sich nur erschrocken hatte, konnte Jan nicht beurteilen und es war ihm auch egal. Als ein Mann der Tat packte er ihn am Kragen seiner Jacke und machte ihm unzweideutig klar, dass, falls er Lea schaden wolle, dies nicht zu seinem Wohle beitragen würde. Er schubste ihn gegen die Wand. Mit einem unverständlichen Ausdruck im Gesicht sackte Frank Lehmann zusammen und Blut trat aus einer Kopfwunde heraus.

Jan Keiler starrte auf den reglos vor ihm liegenden Mann und schaute zeitgleich hektisch über den Platz. Glücklicherweise war derzeit kein Mensch zu sehen – nicht einmal ein Tourist – was nicht weiter verwunderlich war. Mittlerweile hatte heftiger Regen eingesetzt.

Was mache ich jetzt? Ich wollte ihm doch nur klarmachen, dass er die Finger von Lea und unserer Familie lässt.

Er drehte sich einmal um die eigene Achse. Dabei bemerkte er, dass das eiserne Tor zum angrenzenden Höfchen neben dem Schulgebäude einen kleinen Spalt offenstand. In der Annahme, der Mann sei tot, zog er ihn hinein und einige Meter weiter hinter ein Gestrüpp, das sich dort im Laufe der Zeit ungehindert ausgebreitet hatte. Hier, so vermutete Jan Keiler, würde ihn so schnell niemand finden. Was später mit ihm geschehen sollte ...? Er musste mit Lea reden.


Frank Lehmann bemerkte, wie er über nassen Boden geschleift wurde. Sich dagegen zu Wehr zu setzen, kam ihm nicht in den Sinn. Zumal in seinem Kopf gerade ein gewaltiges Gewitter stattfand, zum Glück aber auch eine daraus resultierende Benommenheit. Nur ein Gedanke drehte sich nebulös im Kreis: Warum tat Keiler ihm das an? Sekunden später streichelten Blätter sanft über seine Wange. Nicht unangenehm, dachte er noch und fiel in einen Dämmerzustand, bis Schläge in sein Gesicht und Hiebe auf seinen Körper ihn in die kalte, nasse Welt zurückholten.

In gekrümmter Haltung, am Boden liegend, versuchte er die Tritte in Seite und Bauch abzuwehren. Dazwischen drangen boshaftes Lachen und hämische Bemerkungen an seine Ohren. Instinktiv wusste er: Solange er das kleinste Zucken von sich gab, würde die Misshandlung nicht aufhören. Also stellte er sich bewusstlos, wovon er ohnehin nicht weit entfernt war.

Plötzlich sauste fauchend ein schwarzer Schatten heran und sein Angreifer ließ mit den Worten: „Verdammtes Mistvieh“ von ihm ab und rannte davon. Frank wollte nur noch schlafen. Aber der kalte Boden und die tropfenden Blätter des Buschwerks, unter dem er lag, verhinderten ein weiteres Wegdriften in eine schmerzfreie Zone. Langsam und vorsichtig öffnete er die Augen. In seinem Kopf leistete ein Presslufthammer ganze Arbeit und ihm war schwindelig. Aber er war allein. Nur der anhaltend niederprasselnde Regen verursachte fortwährende Geräusche und hatte mittlerweile große Wasserlachen um ihn herum gebildet.

Auf allen vieren robbte er unter dem Strauchwerk hervor und zog sich an der Ummauerung hoch. Ungelenk holte er die Blisterpackung aus seiner Jackentasche. Doch kaum in seiner Hand, fiel sie in eine Pfütze. Den Versuch sich zu bücken gab er sofort wieder auf, als ein gewaltiges Stechen durch seinen Kopf zuckte und seinen gesamten Körper lahmlegte. Er bekam gerade noch die barocke Sandsteinfigur des >Heiligen Nepomuk< zu fassen und hielt sich daran fest.

Mit Blick auf den Main endet sein Leben – und zwar früher als angenommen.

Beschuldigt

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