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Montag, 17. Juni 2013 – 1. Tag der Ermittlungen

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Das Haus war niedergerissen, die Bäume gefällt und das Buschwerk im Gartengrundstück entfernt. Jetzt stieß die breite gezackte Schaufel des Baggers in die Erde, die seit Jahren weder von einem Spatenstich noch von einer Hand, die Unkraut rupfte, in ihrer Ruhe gestört worden war.

Lange Zeit hatten die Anwohner versucht, sich gegen diese Verschandelung ihrer Straße zu wehren. Dreistöckige Gebäude zwischen niedrigen Häusern von ihren Bewohnern mit Eifer und Aufopferung eigens gebaut – unvorstellbar. Aber selbst die Bürgerinitiative „Geliebte Altstadt“ kam nicht gegen die Bebauungspläne an. Der Erfolg tendierte schon deshalb zum Nullpunkt, weil es sich bei diesem Wohngebiet nicht direkt um den historischen Kern der Stadt handelte und etwa 100 Meter außerhalb der Stadtmauer lag.

„Was machst de, wenn weeche der Arbeite dein Hof absackt oder Risse an deinem Haus auftauche?“, schrie Georg Lenz, genannt Schorsch, seinem Nachbarn, Karl Neumann, ins Ohr. Dessen Haus grenzte direkt links an das Grundstück an.

Der Einwand war nicht von der Hand zu weisen, da keiner so genau wusste, welche Überraschungen im Erdreich lauerten.

Im Mittelalter schützte ein tiefer Wassergraben auf seiner Westseite die Stadt gegen feindliche Überfälle; der Stadtgraben, ein Fuß und Radfahrweg, wies namentlich noch heute darauf hin. Erst vor Kurzem hatte es bei einem dort zuvor errichteten Mehrfamilienhaus wegen ständigem Wasserzulauf zu wochenlanger Bauverzögerung geführt. Natürlich konnte von der Baubehörde ein direkter Zusammenhang nicht eindeutig festgestellt werden. Zudem flossen bis vor einigen Jahrzehnten mehrere Bäche – wenn auch nur unterirdisch – durch die Altstadt. Demnach konnte es durchaus möglich sein, dass der Boden an verschiedenen Stellen noch immer in Unruhe war.

„Also, ich würd’ die glatt verklage. Die müsse des bezahle.“ Mit die meinte Schorsch die Bauträgerfirma, die das Gelände aufgekauft hatte um einen modernen Wohnkomplex zwischen den Häusern, die fast alle vor dem Zweiten Weltkrieg erbaut worden waren, zu errichten.

Karl Neumann antwortete nicht. Sein Blick richtete sich starr auf die unbarmherzige Baggerschaufel. Ebenso wie Herbert Walter und die allzeit redselige Gundela Krämer, deren Haus gegenüber anrainte. Auch sie hielt ihren Mund. Wobei jeder der drei aus verschiedenen Gründen die Arbeiten argwöhnisch beobachtete.

Die Krämers Gundel bedauerte, dass der morgendliche Ausblick aus ihrem Küchenfenster nicht mehr so sein würde wie bisher. Keine wild blühenden Blumen auf einer ökologisch unberührten Wiese und keine Bäume mehr, in denen Vögel zwitscherten. Und wie die späteren Nachbarn sich anließen, stand sowieso auf einem ganz anderen Blatt.

Zwar hatte Gundela Krämer mit den Häuslers, um deren Grundstück es sich handelte, kaum Kontakt gehabt, trotz ihrer stetigen Bemühungen mit Wilhelmine ins Gespräch zu kommen. Der Grund – ganz einfach: Gundula war evangelisch und somit in Johannes Häuslers Augen eine ketzerische Abtrünnige. Mit so einer gab sich der gestrenge Katholik nicht ab, was folgerichtig ebenso für seine Familie galt, die der Patriarch streng kontrollierte.

Umso mehr Genugtuung bereitete es Gundel noch im Nachhinein, dass der Häusler offenbar keine Ahnung gehabt hatte was seine damals unmündige Tochter Edeltraud, vor einigen Jahrzehnten, in lauen Sommernächten im Garten getrieben hatte.

Georg Lenz schaute eher ängstlich auf die Ausgrabungen. Und ohne aufzublicken wusste er, dass Josef Richter, sein langjähriger Freund und Nachbar, mit gleicher bedenklicher Miene auf seinem Balkon stand. Beide, Sepp wie er, hofften sie auf Gottes Barmherzigkeit und darauf, dass sich das Bibelwort Asche zu Asche und Staub zu Staub, über die Jahre hinweg gesehen, verwirklicht hatte.

Noch gestern, bei einigen Gläschen Schnaps, hatten sie sich über die eventuell entstehenden Folgen unterhalten, kamen aber erneut zu dem Schluss, dass sie im Grunde genommen ja doch nichts damit zu tun hatten. Dennoch fühlten sie sich, auch nach einer halben Flasche Obstler, nicht besonders wohl in ihrer Haut.

Die Gedanken des Karl Neumann, der seine Nachbarn um mindestens eine bis eineinhalb Kopflänge überragte, hingen ebenfalls in der Vergangenheit fest. Er erinnerte sich an die Zeit mit Edeltraud. Wie er ihr als sie Kinder waren, bei den Hausaufgaben half und später – fast erwachsen – sie sich in lauen Sommernächten im Garten und unter dem Apfelbaum liebten.

Jäh verstummte der Lärm der Maschine und schlagartige Stille legte sich über das Areal. Der Chef der Bauträgerfirma auf der anderen Straßenseite, gerade noch vertieft im Gespräch mit dem Bauleiter, schaute erstaunt auf und drehte sich um.

„Was ist los? Warum geht es nicht weiter?“

Die Baggerschaufel taumelte über dem schon beachtlich tiefen Loch. Beide gingen sie die paar Schritte bis zum Absperrband, um zu sehen, was die Arbeiten unterbrach und – erschauderten. Auf dem sandigen Boden kullerte ein Schädel herum, bis er schließlich in einer kleinen Mulde liegen blieb.

Nach nur einer kurzen Schreckenssekunde blaffte der Chef der Bauträgerfirma: „Wenn das ein Scherz sein soll, dann ist er kräftig danebengegangen.“ Erneut blickte er in die Runde der Nachbarn und anderen Schaulustigen. Aber in deren Augen lag ebenfalls nur blankes Entsetzen.

„Verdammte Scheiße“, entfuhr es dem Bauleiter und zückte sein Handy, während er sich von dem grausigen Fund abwandte.

Verstohlen hob Schorsch Lenz seinen Blick zu Sepp Richter, der mit kreidebleichem Gesicht auf seinem Balkon stand.

Fünf Minuten später ertönte das Martinshorn des Notarztwagens, gefolgt von zwei Polizeifahrzeugen. Einer der Streifenwagen hielt direkt an der Stelle des Geschehens. Ein nachfolgendes Fahrzeug verstellte quer die Einfahrt zur Straße.

„E bissje spät für die Sanis, tät ich meine“, stellte jemand der Zuschauer fest und kicherte.

***

„Nicole! Nicooole!“ Helene Wagner pochte wild gegen die Tür und presste zusätzlich ihren Daumen auf die Klingel.

Zum x-ten Mal schwor sich die Kriminalhauptkommissarin diesen durchdringenden Ton zu ändern. Sie schlurfte zur Tür und öffnete.

„Um Gottes Willen, Helene, was ist denn passiert? Brennt das Haus?“

„Papperlapapp, da wäre schon längst die Feuerwehr hier. Stell dir vor, die haben eine Leiche gefunden.“

„Hä, was?“ Nicole sah ihrer Vermieterin hilflos nach, die schnurstracks an ihr vorbei in den Wohnraum rauschte.

„Eine Lei-hei-che und mausetot.“

„Sind sie meistens“, kommentierte Nicole gähnend und folgte Helene.

„Ist das nicht aufregend?“

Die Kriminalbeamtin zuckte mit den Schultern.

„Ja, ja. Du hast ja tagtäglich damit zu tun. Für dich ist so etwas das Natürlichste der Welt.“

„Natürlich ist das keineswegs und glücklicherweise habe ich nicht jeden Tag mit Toten zu tun“, widersprach Nicole. „Und außerdem…“

„Sabbel nicht“, wurde sie unterbrochen. „Wir müssen zum Tatort!“

„Ich bin im Urlaub. Schon vergessen? Außerdem bin ich gerade erst aufgestanden.“

„Na umso besser, dann bist du ja ausgeschlafen. Also, komm in die Puschen, Deern.“

Nicole ging zur Küchenzeile, ohne auf die Direktive ihrer Vermieterin einzugehen. „Willst du einen O-Saft oder ein Glas Milch?“

Helene rümpfte die Nase und schielte in Richtung der blubbernden Kaffeemaschine. „Wenn schon, dann Kaffee.“

„Glaubst du dein Blutdruck verträgt noch mehr Aufregung?“

Helenes Blick ließ Nicole augenblicklich verstummen. Sie goss Kaffee in zwei Becher, reichte einen an ihre Vermieterin und setzte sich an den Tresen, der ihre Küchenzeile vom Wohnraum trennte. „Also gut, dann erzähl halt mal.“

Nicole brauchte einen Moment bis sie begriff was Helene ihr, ihren Kaffeebecher in der Hand, hin und her laufend, mitteilte. Ein Leichenfund, in diesem verschlafenen Ort, den sie sich extra deshalb ausgesucht hatte, weil das kapitale Verbrechen hier noch nicht angekommen war? Einbruch, Diebstahl, ok. Nicole wusste sogar von drei Banküberfällen. Über einen schmunzelte damals der gesamte Kreis Offenbach. Der Täter - schon längere Zeit aktenkundig – wohnte monatelang über der Bank, die er später ausraubte. Aber eine Leiche, dazu vergraben in einem verwaisten Gartengrundstück? Das kam einem kulturellen Schock gleich.

„Es kann sich nur um Mord handeln“, stellte Helene mit ernster Miene fest. „Oder warum sonst verbuddelt jemand eine Leiche im eigenen Garten, hm?“ Mit zusammengepressten Lippen und vorgeschobenem Kinn schaute sie Nicole nach Zustimmung fordernd an. Als diese nicht antwortete, fuhr sie fort: „Das hätte ich dem Häusler dann doch wirklich nicht zugetraut, obwohl er schon ein seltsamer Mensch gewesen war.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich wohne jetzt schon mehr als fünfzig Jahre hier. Aber einen Mord hat es in der ganzen Zeit nicht gegeben. Glaub mir, ich wüsste davon. Mein Friedel, Gott sei seiner Seele gnädig, hätte doch als Oberwachtmeister das Verbrechen aufklären müssen. Prügeleien in den Kneipen ja, das kam öfters vor. Bei Festen wie Kirmes, wo die jungen Burschen schon mal einen übern Durst tranken war es sozusagen der krönende Abschluss jeder Feierlichkeiten. Aber vor meinem Friedel hatten die Jungspunte alle Respekt. Er war ja auch ein stattlicher Mann, mein Friedel.“ Helene lächelte versonnen, um umgehend wieder seufzend fortzufahren. „Aber Mord ...? Na ja, irgendwann ist halt immer das erste Mal. Auch wir hier bleiben nicht ewig vor kaltblütigen Verbrechen verschont.“

Abrupt blieb sie vor Nicole stehen. „Also, worauf warten wir noch?“

Schon wieder dieses WIR! Die Kriminalhauptkommissarin hatte sich demnach nicht verhört. „Wie kannst du sicher sein, dass die ehemaligen Eigentümer damit zu tun hatten? Soweit ich weiß ist das Grundstück bereits lange verwildert und das Haus unbewohnt. Jeder hätte dort heimlich eine Leiche vergraben können.“

Energisch schüttelte Helene erneut den Kopf. „Der Tote ist nur noch ein Gerippe, sagt die Gundel.“

Nicole zog die Stirn kraus. Aha, Gundula Krämer, die fossile Ausgabe des heutigen Internets – schnell, informativ und unempfindlich im Umgang von Bezugsquellen.

„Natürlich wollte die Gundel sofort zu dir. Die hat mir fast die Tür eingeschlagen? Dass du das nicht gehört hast? Ich konnte sie gerade noch davon abhalten. Ich wusste doch, dass du Urlaub hast.“

Das hat dich aber nicht abgehalten. Schnell verwarf Nicole den schnöden gedanklichen Vorwurf. Stattdessen sagte sie: „Danke.“

„Was ist jetzt? Können wir los?“

Nicole schnaufte und zeigte auf ihre Socken und die Pyjamahose. „Ich muss mich erst noch anziehen.“

„Ach! Also gut, aber mach hin.“

Widerstrebend setzte sich Helene sich auf die Couch, wippte nervös mit den Beinen und rieb ihre Hände aneinander. „Soll ich schon mal vorgehen und die Lage sondieren?“, rief sie.

„Untersteh dich!“ Nicole streckte den Kopf durch die offene Schlafzimmertür und drohte mit dem Zeigefinger.

Das Telefon klingelte. „Geh doch bitte mal ran.“

„Guten Morgen, hier bei Kriminalhauptkommissarin, Nicole Wegener“, hörte sie Helene in geschäftsmäßigen Ton sagen. „Ja, doch, sie ist zuhause – nein, nicht nötig, sie ist bereits unterrichtet – ja, danke – ja. Lassen Sie sich ruhig Zeit. Der Tote liegt dort schon einige Jahrzehnte, da kommt’s auf eine halbe Stunde auch nicht drauf an. – Ja, wir warten auf Sie. Keine Ursache. Bis gleich.“

Nicole kam aus ihrem Schlafzimmer. „Wer war dran?“

„Dein Kollege, dieser schnieke Lars Hansen.“ Helene rollte schwärmerisch mit den Augen. „Er lässt dir ausrichten, dass sie im Stau stehen und es noch ein bisschen dauert, bis sie hier eintreffen. Und auch, dass es ihm leid täte, dich in deinem wohlverdienten Urlaub stören zu müssen. Ich habe ihm gesagt, dass er sich Zeit lassen soll. Wir sind ja doch gleich vor Ort. Hab ich dir schon gesagt, das ihr gut zueinander passen würdet?“

„Mindestens hundert Mal. Und ich habe dir mindestens sooft erklärt, dass Lars ein Kollege ist und ich nun mal nichts mit einem Kollegen anfange.“ Nicht noch einmal, dachte Nicole. „Außerdem ist Lars kein Mann für eine feste Beziehung und schon gar nicht zum Heiraten. Und ... nicht mein Typ.“

„Heiliger Strohsack. Wer redet denn gleich von heiraten. Ich meine ja nur, du solltest dich auch mal amüsieren. Es ist nicht gesund, immer nur allein rumzuhängen – in deinem Alter.“

„Helene!“ Nicole drohte mit dem Zeigefinger. „Böses Mädchen.“ Sie trat vor den Spiegel in der Garderobe und steckte ihre langen dunkelblonden Haare mit einer großen Klammer am Hinterkopf zusammen.

„Spießerin“, gab Helene zurück.

„Kanntest du die Eigentümer eigentlich näher?“, fragte Nicole, um das heikle Thema zu beenden.

„Ja und nein. Die Häuslers waren eine unauffällige Familie, fast schon absonderlich. Der Johannes Häusler war Richter am hiesigen Gericht und sehr engagiert in der Kirche, Mitglied im Kirchenchor, Organist und Vorsitzender im Kirchenbeirat und in vielen Vereinen war er auch tätig.“

„Solche Leute sind mir immer suspekt“, warf Nicole dazwischen.

„Ja, mir auch. Außerdem“, fuhr Helene fort, „hat er das hiesige Waisenhaus finanziell unterstützt. Die Wilhelmine, seine Frau war im Verband christlicher Frauen, Vorbeterin bei Beerdigungen und auch sonst in der Kirche tätig und so weiter. Dann war da noch seine Schwester, die Maria. Über die wurde gemunkelt, sie hätte eine Liebschaft mit einem Ami gehabt, damals 1946 und, dass der Hannes damit so ganz und gar nicht einverstanden gewesen wäre. Muss aber auch nicht lange angedauert haben, die Romanze, meine ich. Na, ja, das kam damals öfters vor. Der Ami war quasi so über Nacht auch dann verschwunden.

Das letzte Wort sprach Helene fast in Zeitlupe aus und schlug sich sodann mit der Hand an die Stirn: „Heiliger Bimbam. Kann das der Ami sein? Sicher, das muss er sein! Der hat sich nicht einfach so aus dem Staub gemacht. Der modert seit annähernd sechzig Jahren auf Häuslers Grundstück dahin. Stell dir das mal vor!“

„Helene. Ich glaube du schaust zu viele Krimis. Nur, weil die Häuslers mit dem Freund von wie hieß sie? Anna ...?“

„Maria.“

„Also, nur weil der Häusler mit dem Verhältnis nicht einverstanden waren, wird er ihn nicht gleich umgebracht und in seinem Garten vergraben haben.“

Helene presste die Lippen aufeinander. „So abwegig finde ich das nicht. Die Leute zerrissen sich buchstäblich die Mäuler über junge Frauen, die sich mit Amerikanern einließen. Ich sag nur, für Johannes Häusler wäre es unvorstellbar gewesen, wenn man seine Schwester als Amiflittchen betitelt hätte. Sein guter Ruf ging dem über alles.“

„Und wie hat diese Maria auf das Verschwinden ihres angeblichen Geliebten reagiert?“

„Keine Ahnung. Einige Monate nachdem er weg war ist sie gestorben.“

„Doch nicht etwa an gebrochenem Herzen?“, fragte Nicole leicht spöttisch.

„Es hieß sie hätte die Schwindsucht gehabt. Kann aber auch sein, dass sie an einem ihrer Anfälle gestorben ist. Die Maria litt an einer Art Epilepsie. Das erzählte mir mein Friedel. Auch die Edeltraud, die Tochter der Häuslers, leidet an dieser Krankheit, jedenfalls war das so in ihrer Kindheit – vermutlich vererbt. Die Edeltraud kam übrigens zwei Monate nachdem die Maria gestorben war zur Welt. Das weiß ich auch vom meinem Friedel. Als ich hierher kam muss die Edeltraud so um die Zwanzig gewesen sein. Aber schon damals sah sie aus, wie eine verschreckte graue dürre Maus, hinten wie vorn nix und immer dunkel gekleidet, mit einem strengen Dutt. Ähnlich wie ein verhärmtes Kinderfräulein aus diesen englischen Filmen.“

Nicole schmunzelte. „Ich denke, du schaust nur Krimis?“

***

Es waren nur wenige Meter, die Nicole und Helene über den angrenzenden Parkplatz, auf dem ihr Auto stand und durch die Wolfstraße zurücklegen mussten, um an den Tatort zu gelangen. Die Straße war durch ein Flatterband und ein quer stehendes blinkendes Polizeiauto gesperrt. Die „Blauen“, die Kollegen von der Schutzpolizei achteten streng darauf, dass keiner dem Tatort zu nahe kam. Nicole zeigte ihren Ausweis und wurde sofort durchgelassen, Helene aber hinter der Absperrung zurückbleiben.

„Hallo, Frau Wegener. Das gingschnell.“ Josef Maier, Oberkommissar der Polizeistation Seligenstadt, ein etwa eins achtzig großer und stämmiger Mann mit grau meliertem lockigem Haar und einem beachtlichen Bauchumfang, reichte Nicole die Hand.

„Eigentlich habe ich Urlaub“, erklärte sie ihr blitzartiges Erscheinen und lächelte. „Aber so ist das, wenn man im gleichen Ort wohnt, wo zufällig gerade dann eine Leiche gefunden wird. Dumm gelaufen, würde ich sagen.“

„Oh, das tut mir leid, Frau Wegener.“ Maier schaute unschlüssig zum Tatort. „Wollen Sie trotzdem schon mal ...?“

„Ja, klar. Die Kollegen stehen noch im Stau, müssten aber gleich hier eintreffen.

Ich riskiere einen Blick, bevor die KTU eintrifft.“ Nicole folgte Maier an den Rand des Aushubs.

„Wenn mich meine Augen nicht täuschen, dann könnten das die Reststücke einer Pilotenmütze sein, und zwar aus dem Zweiten Weltkrieg und amerikanisch.“ Maier deutete auf eine stark zerfledderte Kopfbedeckung, die neben dem Schädel lag. „Und über dem Brustkorb des Toten hängt eine Hundemarke, sehen Sie.“ Jetzt zeigte er auf das Gerippe, das halb aus dem Erdreich herausragte.

Nicole kniff die Augen zusammen. Helenes Vermutung kam ihr in den Sinn. „Sie meinen es könnte sich bei dem Toten um einen amerikanischen Soldaten handeln?“

In diesem Augenblick fuhr ein schwarzer Mercedes S-Klasse vor.

„Oh, Dr. Lechner höchstpersönlich.“

Anstatt ihres Chefs, dem Ersten Kriminalhauptkommissar, Dr. Ludwig Lechner, stiegen ihre Kollegen Lars Hansen und Harald Weinert aus, zückten ihre Ausweise und kamen mit zackigen Schritten auf sie und Maier zu.

Ein schlanker, muskulös gebauter eins fünfundneunzig großer Mann mit dunklen gewellten schulterlangen Haaren, grinste Nicole an. „Gelungener Auftritt, was?“

Sie zog die Augenbrauen hoch. „Das ist doch der Schlitten vom Chef. Wie kommst du …?“

„Auf mich hört der Großmeister nicht. Vielleicht kannst du ihn zur Vernunft bringen“, wurde sie von Harald Weinert, kleiner als sein Kollege aber ebenso sportlich gebaut und mit dunkelblonden kurzen Locken, unterbrochen.

„Mach dich locker, Harry.“ Hansen schlug ihm auf die Schulter. „Der Alte durchleuchtet jahrhundertlang Einbalsamierte in Kairo. Vielleicht kommt er gar nicht mehr wieder – von wegen Fluch des Pharao.“

„Siehst du was ich meine?“ Harald Weinert schüttelte den Kopf.

Nicole drehte den ihrigen zur Seite und verbarg ein Grinsen. „Wir klären das später. Jetzt haben wir hier eine Leiche. Ach ja, das ist Oberkommissar Josef Maier, der Chef der hiesigen Polizeistation.“ Sie deutete auf den neben ihr stehenden Kollegen. „Er hat den Tatort für uns abgesperrt.“

Hansen und Weinert nickten Maier zu.

„Was ist das, was da am Hals des Entseelten baumelt?“, fragte Lars, auf den im Sonnenlicht blinkenden Gegenstand hinweisend.

„Schätze eine militärische Erkennungsmarke“, antwortete Maier. „Und daneben eine amerikanische Pilotenmütze.“

„Sie meinen eine Hundemarke, wie sie Soldaten tragen?“

„Ja“, bestätigte Oberkommissar Maier.

Weinert nickte anerkennend. „Alle Achtung, Kollege, gute Augen.“

„Kann jemand eine Leiter besorgen?“, fragte Lars Hansen jetzt in die Runde der Schaulustigen.

Die sahen sich gegenseitig an, bis Herbert Walter antwortete: „Ich hätt ne Leiter.“

„Holen Sie die bitte?“

Der nickte und ging gemächlich los, um nach gefühlten endlosen Minuten mit einer ausziehbaren Aluminiumleiter zurückzukommen.

Oberkommissar Maier und zwei Männer der inzwischen eingetroffenen KTU, schoben die Leiter über den Rand des Erdlochs und der Trupp stieg nach unten und nahmen sofort die Arbeit auf.

Nicole und ihre Kollegen schauten in einigem Abstand zu. „Ich glaube, Herr Maier hat recht.“ Hansen verrenkte sich beinahe den Kopf. „Es könnte sich tatsächlich um eine militärische Erkennungsmarke handeln.“ Er fischte Einweghandschuhe aus seiner Hosentasche und wollte sich der Leiche nähern.

„Lass das mal unsere Kollegen von der KTU machen“, hielt Nicole ihn zurück. „Sonst heißt es noch, wir hätten Spuren vernichtet.“

Hansen runzelte die Stirn. „Glaubst du ernsthaft, die finden hier noch Verwertbares? Andererseits, ich will’s nicht wirklich wissen, mit welchen Methoden die den Kalten Antworten entlocken. „He, Viktor.“

Ein circa ein Meter achtzig großer Mann mit markanten Gesichtszügen, einer blassen Hautfarbe und langem schwarzem Haar, das er im Nacken zusammengebunden hatte, kam auf die Kommissare zu. „He Lars, was gibt’s? Nicole, Harry.“

Hansen zeigte auf den Toten. „Kannst du uns die Kette mit der Marke geben? Wir rühren sie auch nicht an, großes Indianerehrenwort.“ Er hielt seinem Kollegen von der KTU einen Plastikbeutel unter die Nase.

Viktor Laskovic zog die Augenbrauen hoch, ging die paar Schritte zu der Leiche und entfernte vorsichtige die Kette, steckte sie in den selbigen und reichte ihn Lars. „Strangulierung, eindeutig“, fügte er an.

„Eh, was?“ Zu spät merkte Hansen, dass er veräppelt wurde.

„Die Feststellung der Todesart kann einige Tage dauern. Melde mich.“ Schmunzelnd wickelte Viktor den Schädel des Toten in eine Plastikfolie.

„Hier, der Name ist noch gut zu lesen.“ Hansen drehte sich zu Nicole und Weinert. „Henry Godman US Air Force. Ein amerikanischer Pilot, vorausgesetzt die Hundemarke gehört dem Träger, wovon ich jetzt einfach mal ausgehe. Nur, wie kommt ein amerikanischer Soldat hierher – six Feed under?“

„Das könnt ihr später im Büro recherchieren. Jetzt befragen wir die Nachbarn. Ihr geht in die Häuser ringsum und ich nehme mir die hier Anwesenden vor“, entschied Nicole. „Wir treffen uns heute Nachmittag um 15 Uhr in meinem Büro. Alles klar?“

Hansen und Weinert nickten.

Die Kriminalbeamtin kletterte die Leiter hinauf und lief schnurstracks zu Helene. Die wartete schon voller Spannung. Nicole nahm sie am Arm und führte sie einige Schritte weg vom Schauplatz. „Kannst du mir sagen, wer von denen, die dort herumstehen, zur direkten Nachbarschaft gehören. Aber bitte diskret, nicht mit dem Finger deuten.“

„Der große schlanke ist Karl Neumann. Er wohnt links neben dem Häusler Grundstück“, erklärte Helene eifrig. „Seine Ehefrau, die Gertrud, schaut grad aus dem Fenster, dort oben.“ Sie machte eine Kopfbewegung zum ersten Stock des Nachbarhauses, aus dem eine verhärmte Frau mit strähnigen, schulterlangen grauen Haaren guckte. „Gertrud leidet seit Jahren unter Depressionen und verlässt das Haus so gut wie nie.

Der kleine Untersetzte mit der sich mit dem Karl Neumann sich unterhält, das ist der Georg Lenz, genannt Schorsch. Ihm gehört das Haus gegenüber dem Neumann. Und die Gundel kennst du ja.“

„Wer nicht“, entfuhr es Nicole mit einem Seufzer.

„Neben dem Schorsch, der mit dem grauen Lockenkopf ist Herbert Walter, ein zurückhaltender Mann, ewiger Junggeselle. Der wohnt rechts neben dem Schorsch. Und dort oben auf dem Balkon, das ist der Sepp, äh, Josef Richter.“

Nicole blickte hoch zu dem alten Mann. Er machte auf sie einen angespannten Eindruck. „Danke, Helene. Dann werde ich mal die lieben Nachbarn befragen.“

„Ich kann dir dabei helfen. Ich kenne sie doch alle. Ich meine, die sind dann vielleicht zugänglicher.“

„Das ist Sache der Kriminalpolizei.“

„Ach, jetzt auf einmal. Gerade eben war ich noch gut als Auskunftei.“

„Helene, ich darf dich nicht offiziell in die Ermittlungen einbeziehen. Ich würde mich strafbar machen, bin aber natürlich für Hinweise jeder Art sehr dankbar. Wenn du aber noch etwas für mich tun willst“, versuchte Nicole ihre verstimmte Vermieterin wieder in Laune zu bringen, „dann koch etwas Leckeres. In einer Stunde bin ich zuhause.“

Die zog einen Schmollmund. Mit ihren 68 Jahren sah das sehr drollig aus und die Kriminalhauptkommissarin musste sich ein Lachen verbeißen. „Bitte!“

„Na gut. Aber du erzählst mir haarklein was hier abgelaufen ist“, flüsterte Helene. „Ich sag dir aber jetzt schon“, setzte sie nach. „Das wird hart für dich, so ohne mich. Die halten zusammen wie Pech und Schwefel.“

„Mein Name ist Nicole Wegener, Kriminalpolizei.“ Sie zeigte ihren Ausweis in die Runde. „Ich habe einige Fragen zur Familie Häusler, deren Grundstück das hier wohl war.“

Keiner der Umstehenden fühlte sich direkt angesprochen. Manche starrten auf ihre Füße, andere schauten sich um in der Hoffnung, dass die Ansage an einen imaginären Hintermann gerichtet war.

Nicole ging auf den Mann zu, den Helene als Georg Lenz benannt hatte.

„Fangen wir doch mit Ihnen an. Wie ist Ihr Name?“

„Eh … ich? Eh… Lenz, Schorsch, eh… Georg.“

„Herr Lenz. Wie lange leben Sie schon hier?“

„Na schon immer. Ich bin hier geborn, genau wie die annern aach.“ Lenz wandte seinen Kopf den Nachbarn zu.

„Dann kannten Sie alle die Häuslers recht gut?“ Nicole Blick erfasste jeden Einzelnen. „Dann erzählen Sie doch mal. Was waren das für Leute, die Häuslers.“

„Was solle mer do viel verzähle? Des warn anständische brave Leut. Der Hannes war Richter hier im Ort. Und in der Kirch hot er die Oijel gespielt.“

„Die was?“, fragte Nicole.

„Die Orgel in der Kirche, Frau Kommissarin“, sprang Herbert Walter als Übersetzer ein.

„Ach ja. Und Sie sind?“

„Walter, Herbert. Also Walter is mein Nachnahme.“ Zuerst wollte er der Kriminalbeamtin die Hand reichen, zog sie dann aber schnell wieder zurück.

Schorsch nickte und fuhr fort. „Die Mine, des war soi Fraa, die hot vorgebet, in der Kerch und bei Beerdischunge, also wenn einer gestorbe war“, fügte er wegen Nicoles Stirnrunzeln hinzu. „Stimmt doch Herbert?“

„Ja, ja.“

„Der Hannes hat auch viel gespendet, besonders an unser Waisenhaus“, fuhr Schorsch Lenz munter fort.

Na, das läuft doch besser als erhofft, dachte Nicole.

„Wisse Se, Frau Kommissarin, mir hatte früher hier e Nonnekloster. Und die Bühler Schwestern habe sich aach um Waisekinner gekümmert. Da war sogar e Schwarzes dabei.“

Sensationell! schoss es Nicole durch den Kopf. Ein sogenanntes schwarzes Schaf unter weißen Lämmern.

„Oh ja, daran kann ich mich noch gut erinnern“, mischte sich Gundula Krämer jetzt ein. „Unsere Ursula, also unsere Tochter, wollte damals partout nicht in den Kindergarten. Den leiteten die Nonnen nämlich auch. Unsere Ursula hatte Angst vor dem Mädchen. Meinen Namen wissen Sie ja, Frau Wegener. Ich wollte Sie schon gleich unterrichten, grad als man die Leiche gefunden hatte, aber die Helene hat mich nicht gelassen. Sie sagte sie hätten Urlaub.“ Gundula Krämer schaute leicht beleidigt, fuhr aber in gleichem Atemzug fort: „Wissen Sie, die Maria, die Schwester vom Häusler, soll ja mal eine Liebschaft mit einem amerikanischen Soldaten gehabt haben. Könnte es der sein?“ Die kleine, kaum 1,50 Meter große Person reckte ihren Kopf zu Nicole empor. „Also ich war ja damals noch nicht hier. Ich stamme ursprünglich aus dem Saarland. Vielleicht hat die Helene Ihnen das irgendwann mal erzählt. Meine Eltern und ich waren bei den Krämers einquartiert, so kurz nach dem Krieg und na ja wie soll ich sagen, als wir alt genug waren, da hat es halt geschnackelt, zwischen mir und meinem Josef.“ Nachdem von Nicole keine Reaktion kam, fuhr Gundula Krämer fort. „Also, was ich eigentlich sagen wollte, ich wohne seit sechzig Jahren hier in dieser Straße, da kriegt man so Manches mit.“

„Vor alle Dinge wenn mer immer soi Nas in alles noisteckt, was oam nix angehe tut.“ Georg Lenz stieß verärgert die Luft aus.

Hingegen Gundel nur die Augenbrauen hochzog und Nicole fragte: „Ist der Tote vielleicht der Amerikaner, mit dem die Maria eine Liebschaft gehabt hat?“

Die Kriminalbeamtin antwortete nicht, weshalb sie ungeniert weiter plapperte. „Wissen Sie, Frau Wegener der Hannes, also der Bruder von der Maria so gar nicht damit einverstanden gewesen. Und dann war der Ami so quasi über Nacht verschwunden. Also ich wette, dass …“

„Gundel, halt endlich doi Lästermaul“, schnaubte Georg Lenz.

Keineswegs beeindruckt zeigte sie mit einem ihrer kurzen dicken Arme in die Richtung, in der die Leute von der KTU sich tummelten. „Die Leiche dort spricht wohl für sich. War ja nicht das Einzige was die Häuslers zu verheimlichen versuchten.“ Sie wandte sich erneut an Nicole. „Die Tochter von den Häuslers, die Edeltraud, die war nicht ganz richtig im Kopf. Das durfte natürlich nicht an die Öffentlichkeit kommen. Wer weiß, was noch alles da drüben gefunden wird.“

„Gundel, es reicht.“ Karl Neumann packte Gundula jetzt unsanft am Arm.

„Lassen Sie das.“ Nicole machte einen Schritt auf ihn zu. Der ließ seine Nachbarin auf der Stelle los, sodass sie fast stolperte.

„Entschuldigung. Aber ich kann’s nicht leiden, wenn so über die Edeltraud geschwätzt wird.“

„Und Sie sind?“, fragte Nicole, obgleich Helene ihr den Mann längst hinter den Kulissen vorgestellt hatte.

Neumann räusperte sich und gab seinen Namen an.

„Lebt die Tochter der Häusler noch?“, fragte Nicole weiter.

„Edeltraud wohnt in Bad Nauheim. In einer Einrichtung für Betreutes Wohnen“, gab er Auskunft.

„Wie heißt die Einrichtung?“

„Sonnenhof. Edeltraud wohnt dort seit ihre Eltern bei dem Brand 1989 ums Leben kamen. Und bevor sie weiter spekulieren; Edeltraud hat einen amtlichen Vormund. Er regelt ihre finanziellen Dinge. Er war es auch, der das Grundstück verkaufte.“

„Die Häuslers kamen bei einem Brand ums Leben?“

„Ja, des war ganz furchtbar, damals“, mischte sich Gundel erneut in das Gespräch. „Ich hatte Angst, dass das Feuer auf unser Haus überspringt.“

Nicole ignorierte sie. Sie würde die Sache später nachprüfen lassen. „Wie heißt dieser Vormund und wo wohnt er?“, wandte sie sich erneut an Karl Neumann.

„Günter Vogel, wohnt in Dietzenbach, am Stadtbrunnen.“ Mit dieser Information drehte er sich um und ging, Georg Lenz und Herbert Walter machten es ihm nach. Nur Gundel blieb neben stehen. „Wenn Sie noch Fragen haben, Frau Wegener – Sie wissen ja wo ich wohne.“

„Ja Danke, Frau Krämer. Fürs erste war es das“, sagte Nicole und spazierte zu Lars Hansen, der sein Gespräch mit dem Bauträger gerade beendete.

„Na, wie steht’s? Etwas Interessantes herausgefunden?“

Ihr Kollege schüttelte den Kopf. „Natürlich hat die Firma das Grundstück zuvor nicht mit dem Detektor nach eventuellen Leichen abgesucht. Und natürlich interessiert ihn hauptsächlich“, Hansen deutete auf den Bauträger, „wann er weiterarbeiten kann. Ich sagte, dass es noch eine Weile dauern könnte. Und bei dir?“

„Erzähl ich euch heute Nachmittag. Wo steckt Harald?“

„Der befragt den alten Mann, der dort oben auf dem Balkon stand.“ Hansen zeigte zu dem Haus gegenüber. „Kollege Maier begleitet ihn. Ich probiere jetzt mal mein Glück bei den anderen Anwohnern weiter oben an der Straße. Obwohl Maier befürchtet, dass die wahrscheinlich alle auf der Arbeit sind.“

Nicole schielte zu dem Mercedes. „Was soll das mit dem Wagen vom Chef?“

„Der Lechner hat mich beauftragt seinen Wagen in der Werkstadt seines Vertrauens durchchecken zu lassen.“

„Er hat dich aber gewiss nicht beauftragt zuvor nach eventuellen Schwachstellen durch eine Probefahrt zu suchen, oder? Sieh zu, dass der Schlitten heute Nachmittag dort ist wo er hingehört.“

Hansen erwiderte nichts. Tippte sich salutierend mit zwei Fingern an die Stirn und floh mit weit ausholenden Schritten zum Haus neben Karl Neumanns Grundstück, wo er dauerhaft seinen Daumen auf die Klingel drückte.

***

Josef Richter schaute in den blauen Himmel über ihm. Trotz der wärmenden Sonnenstrahlen der Morgensonne zog ein kalter Schauer durch seinen Körper. Jetzt war eingetreten, was er in den letzten Jahrzehnten befürchtet und immer wieder verdrängt hatte. Seit bekannt wurde, dass das Grundstück verkauft war und ein neues Gebäude auf dem Anwesen der Häuslers errichtet werden sollte, wurde er täglich nervöser. Selbst sein eigens verordnetes Betthupferl, ein paar Gläschen Obstler, der ihm nachts wenigstens einige Stunden Schlaf ermöglichte, konnte an diesem Umstand nichts ändern. Jahrelang hatte er gebetet, diesen Tag nicht erleben zu müssen. Doch so einfach entkam man seiner Vergangenheit nicht und Gott ließ nicht mit sich pokern. Das wurde Sepp zur Stunde schmerzhaft bewusst.

„Vadder!“, rief Elfriede aus dem Wohnzimmer. „Vadder, die Polizei ist hier. Sie will mit dir rede.“

Sepp erschrak. So schnell hatte er nicht mit denen gerechnet. Ein uniformierter Polizeibeamter Josef Maier und ein weiterer Mann standen im Türrahmen.

„Herr Richter, wir hätten ein paar Fragen an Sie.“ Der Mann hinter dem Polizisten kam einige Schritte näher und hob ihm eine Karte entgegen. „Weinert, Kriminalpolizei.“

Sepp versuchte seine Furcht unter Kontrolle zu bekommen. „Eh was? Was hawe Sie gesacht?“

„Sie müsse schon e bissje lauter rede. Mein Vadder hört net gut.“ Elfriede nahm Ihren Vater am Arm. „Mein Gott, du bist ja ganz kalt und zitterst. Komm ins Zimmer.“ Sie schloss die Balkontür und bat die Beamten, am Wohnzimmertisch Platz zu nehmen. Die Decke vom Kanapee legte sie Sepp um die Schultern. Der schüttelte sie unwillig wieder ab. „Loss des!“

Harald holte tief Luft, um seiner Stimme die entsprechende Lautstärke zu geben. „Weinert ist mein Name. Herr Richter, ich bin von der Krimimalpolizei Offenbach. Oberkommissar Maier von der hiesigen Polizei kennen Sie vielleicht. Wir möchten Ihnen ein paar Fragen stellen.“

„Warum schreie sie so? Ich bin nett taub. Ich heer nur schlecht.“

Oberkommissar Maier verbiss sich ein Grinsen und Weinert startete einen neuen Versuch, eine Oktave niedriger. „Herr Richter, ich nehme an, sie haben mitbekommen, dass auf dem Grundstück ihrer Nachbarn eine Leiche gefunden wurde.“

Sepp brummte irgendetwas von „net blind“.

„Wie mir ihre Tochter sagte, kannten Sie die Häuslers gut. Deshalb können Sie uns …“

„So wie mer halt soi Nachbern kenne tut“, unterbrach Richter ihn barsch und warf Elfi einen missmutigen Blick zu.

„Sie wohnen fast ein ganzes Menschenalter in dieser Straße. Da kennt man seine Nachbarn mehr als nur gut. Besonders in so einem Ka …, eh einer Kleinstadt. Gab es vielleicht Streitigkeiten zwischen Ihnen und den Häuslers, oder weshalb …?“

„Bleedsinn. Wenn des jemand behauptet hot, dann lücht der.“

„Dann haben Sie sich also gut verstanden, mit den Häuslers?“

„Hm“, brummte Sepp. „Des jetzt aach widder net. Der Hannes hot nie viel gered.“

„Herr Richter.“ Harald bemerkte, wie er langsam die Geduld verlor. „Dort drüben“, er zeigte in die Richtung, in der das Haus der Häuslers gestanden hatte, „wurde vielleicht die Leiche eines amerikanischen Soldaten gefunden.“ Das wollte und durfte er eigentlich gar nicht sagen. Aber jetzt war es heraus. „Es wurde uns mitgeteilt, dass Maria Häusler, die Schwester von Herrn Johannes Häusler mit einem Amerikaner befreundet gewesen sein soll. Also, wenn Sie darüber etwas wissen, dann reden Sie.“

Sepp fixierte das Muster der gestickten Tischdecke. „Die Amis lungerte doch üwerall hier rum. Die warn hinner jedem Rockzippel her und die Maria ...“ Er erkannte, dass er einen Fehler gemacht hatte. „Ach.“ Er winkte ab. „Des is doch alles schon so lang her. Wen intressiert des heut noch? Außerdem bin ich en alte Mann und moi Gedächtnis is aach net mehr des beste. Jetzt hab ich Hunger. Elfi, is des Esse schon ferdisch?“

Maier und Weinert tauschten einen Blick. Beide waren sicher, dass Josef Richter viel mehr wusste, als er im Moment zugeben wollte. Darüber hinaus war bekannt, dass das Langzeitgedächtnis bei Leuten in seinem Alter erstaunlich gut funktionierte, während sie Dinge, die in naher Vergangenheit passierten häufig vergaßen. Aber heute würden sie hier nicht viel weiterkommen.

***

„Bratkartoffel! Helenchen, du bist ein Schatz.“

„Gut, dass du das einsiehst.“ Helene lächelte. „Und, was gibt es Neues?“

„Bitte, bitte, ich habe einen Bärenhunger. Außerdem kann ich mit vollem Magen besser denken.“

„Sag ich doch immer. Würdest du öfter etwas Ordentliches essen und nicht immer dieses furchtbare Zeug in dich hineinstopfen, dann könntest du deine Verbrecher noch schneller fangen.“ Helene stellte eine Schüssel mitten auf den Tisch und reichte Nicole einen Teller. „Matjes in Sahnesoße und Bratkartoffel in Schmalz gebacken. Lass es dir schmecken, min Deern!“

Nach dem herzhaften Mittagsmahl fühlte Nicole sich ein wenig schläfrig. Sie überlegte, ob sie sich ein Stündchen aufs Ohr legen sollte, schließlich hatte sie Urlaub.

„Jetzt erzähl schon. Handelt es sich bei dem Toten um den Amerikaner?“

„Das wissen wir noch nicht und eigentlich dürfte ichmit dir ncht darüber reden, aber …“

„Das Essen hat dir doch geschmeckt?“ Helene zeigte demonstrativ auf die leere Schüssel und Nicoles nahezu ausgeleckten Teller.

„Ist ja gut“, seufzte die Kriminalbeamtin. „Vielleicht kannst du mir wirklich helfen. Ich meine, was die Charaktere der Nachbarn betrifft und ihr Verhältnis zu den Häuslers“, fügte sie schnell hinzu, als sie Helenes aufgeregten Gesichtsausdruck sah.

„Eine Art Profiling, also?“

„Du schaust definitiv zu viele Krimis.“ Nicole grinste. „Nicht ganz. Der Begriff Profiling bezeichnet allgemein die Erstellung, Aktualisierung und Verwendung von Profilen, beispielsweise zum Zweck der Identifikation, Optimierung, Überwachung oder Vorhersage.“ Nicole bemerkte, wie sie besserwisserisch rüberkam, und sagte deshalb: „Na ja, so ungefähr. Ich hole schnell meinen Laptop. Dann kann ich alles was du mir erzählst, gleich eingeben.“

„Gut. Aber beeil dich!“, forderte Helene und wedelte mit den Händen.

„Wieso, hast du noch etwas vor? Oder was soll die Hektik?“

„Na du sagst doch immer, die ersten Stunden sind entscheidend bei der Klärung eines Falles.“

„Schon, aber nur wenn die Leiche frisch ist. Was man hier ja nicht gerade behaupten kann.“

„Stimmt auch wieder“, bestätigte Helene zu. „Trotzdem will ich später nochmal zum Tatort. Vielleicht schnappe ich etwas auf, was uns weiterhelfen kann. Bestimmt haben die Nachbarn dir nicht alles erzählt.“

Da war es wieder – dieses UNS. Nicole seufzte erneut und rannte die Treppen hinauf in ihre Wohnung. Als sie mit ihrem Laptop unter dem Arm in Helenes Küche zurückkehrte, rutschte diese wie auf glühenden Kohlen sitzend auf ihrem Stuhl herum.

„Ok, also dann“, sagte Nicole. „Beginnen wir mit Johannes Häusler. Erzähl mir alles, was dir über ihn und seine Familie einfällt.“

„Hannes war Richter am Amtsgericht, Vorsitzender im Kirchenbeirat, Organist und Mitglied des Kirchenchors. Aber das weißt du ja schon. Er galt als überaus spendenfreudig. Speziell das hiesige Waisenhaus hat er finanziell unterstützt, aber auch verschiedene Vereine in denen er im Vorstand saß.“

„Das deckt sich mit der Aussage von Herbert Walter“, unterbrach Nicole und tippte die Angaben fleißig in ihren Rechner.

„Ansonsten“, fuhr Helene fort, „war Hannes ein recht griesgrämiger Mensch. Freunde hatte der wohl nicht. Außer vielleicht den Sepp Richter, von gegenüber. Die zwei müssen früher mal ganz dick gewesen sein.“ Mit zusammengelegten Zeigefingern tippte sie sinnierend auf ihren Lippen. „Aber nachdem die Maria also Hannes‘ Schwester gestorben war, kühlte das gute Verhältnis stark ab, soweit ich das von meinen Friedel erfahren habe. Er glaubte, es könnte daran gelegen haben, dass der Sepp ein Auge auf die Maria geworfen hatte, bis sie dann mit diesem Ami zusammen war.“

„Aha“, bemerkte Nicole. „Was war mit Frau Häusler?“

„Die Wilhelmine? Die war Hausfrau und im christlichen Verband der katholischen Frauen und Vorbeterin bei Beerdigungen und anderen kirchlichen Anlässen. Hab ich dir aber auch schon erzählt. Sie lebte sehr zurückgezogen. Hab sie nur ab und an in der Stadt gesehen, beim Einkaufen und da huschte sie durch die Straßen, so, als ob sie nicht gesehen werden wollte.“

„Frau Krämer ließ verlauten, dass Edeltraud die Tochter der beiden nicht ganz richtig im Kopf sei. Und Karl Neumann sagte, dass sie seit dem Tod ihrer Eltern – die sollen bei einem Brand ums Leben gekommen sein – in einer betreuten Einrichtung lebt. Weißt du etwas darüber?“

„Mein Friedel erzählte, dass die Schwester vom Johannes epileptische Anfälle gehabt hätte und, dass die Edeltraud das wohl geerbt hätte. Die Häuslers hätten dann jedes Mal den Pfarrer gerufen, der die halbe Nacht an ihrem Bett saß und sie gesundbetete. Dass sie geistig nicht ganz auf der Höhe sei, bezweifelte mein Friedel. Er meinte, dass man sie mit den richtigen Medikamenten bestimmt gut hätte behandeln können. Aber solche Anfälle wurden auch Teufelskrankheit genannt.“ Helene zeichnete bei dem Ausdruck imaginäre Gänsefüßchen in die Luft. „Du kannst dir vorstellen, was das in einer erzkatholischen Familie wie die der Häuslers bedeutete. So etwas durfte rein gar nicht an die Öffentlichkeit. Der Hannes hätte auch schon frühzeitig auf die Vormundschaft von Edeltraud durch diesen Anwalt bestanden, sagte mein Friedel.“

„Mein Gott, ein Priester, als eine Art Teufelsaustreiber“, schlussfolgerte Nicole. „Wo bin ich hier nur hingeraten? Reinstes Mittelalter.“

„Keine Angst. Soweit ich weiß wurden hier die letzten Hexen im Mittelalter verbrannt“ Helene grinste.

„Na, da bin ich ja beruhigt.“

„Was hat man damals über die Brandursache herausbekommen?“, fragte Nicole wieder ernst.

„Es hieß, in der Wohnstube wäre wohl ein Holzscheit auf den Teppich gefallen, während der Hannes und die Mine ihren Mittagsschlaf hielten. Jede Hilfe kam zu spät.“

„Und die Tochter, die Edeltraud? Wo war die zur Zeit des Brandes?“

„Ja, das war seltsam. Die Edeltraud wäre im Garten unter dem Apfelbaum gesessen und in einem Buch gelesen.“

„Die las?“, wiederholte Nicole, mit gerunzelter Stirn, „während hinter ihr das Haus brennt?“

„Tja, jedenfalls fand man sie dort. Der Sepp nahm sie nach dem Brand mit zu sich nach Hause, bis sie den Platz in diesem Heim bekam, in dem sie heute noch lebt. Am besten du fragst ihn.“

Helene sah gebannt zu, wie schnell Nicole die Angaben in ihren Computer tippte. „Nicht schlecht, so ein Ding. Sollte ich mir vielleicht auch anschaffen.“

„Einen Laptop? Wozu?“

„Glaubst du ich bin zu alt dazu?“, fragte Helene leicht pikiert.

„Nein, so habe ich das nicht gemeint. Du und alt? Du bist die flotteste 68-jährige, die ich kenne. Außerdem, man ist nie zu alt um etwas Neues zu lernen.“

„Genau. So bleibe ich fit im Kopf. Könntest du mir beibringen, wie man damit umgeht?“

„Na ja.“ Nicole bedachte ihre wenige Freizeit, die bei ihrem aufreibenden Job blieb, sagte dennoch: „Klar. Aber um effektiv damit arbeiten zu können brauchst du unbedingt auch einen Internetzugang.“

„Einen was?“

„Eine Verbindung zum weltweiten Web. Das ist so etwas, wie ein großes Lexikon; nur brauchst du kein Buch zur Hand zu nehmen. Alles was du wissen willst, gibst du in eine Suchmaschine ein.“

„Suchmaschine? Oh je.“ Helene seufzte. „Das hört sich doch alles sehr kompliziert an.“

„Gerade sagtest du, du willst deinen Geist auf Trapp halten.“ Nicole drückte die Hand ihrer mütterlichen Freundin. „Ich werde dir helfen, beim Antrag auf Internetanschluss und Virenschutzprogramm und so weiter.“

„Virenschutz?“

Nicole lachte. „Keine Angst. Bei einem Infekt sind bestenfalls alle deine Daten verloren. Deine eigene Gesundheit ist davon nicht betroffen. So, jetzt muss ich aber. Harald und Lars warten bestimmt schon.“

***

„Schorsch, komm mol riwer“, brüllte Sepp Richter ins Telefon. „Isch muss mit dir redde. Die Polizei war bei mer. Die komme bestimmt noch amol. Mer misse uns abspreche, was mer dene saache.“

„Ja, hab ich gesehe. Misch un de Herbert, de Karl und die Gundel hawe se aach vernomme. Die Gundel konnt natürlich ihrn Mund widder net halte und hat gleich von dene Anfäll von der Edeltraud verzählt. Awer ich bin gleich bei dir. Ich komm durch en Gadde.“

Schorsch ging über seine Terrasse durch den Garten und durch ein schmiedeeisernes Türchen, das zum Grundstück von Josef Richter führte und nie abgeschlossen wurde. Der stand am Küchenfenster und warf seinem Nachbarn den Schlüssel für die Haustür zu.

„Also, mir derfe nur des verzähle was unbedingt nötisch is.“

Schorsch nickte. „Aber mir hawe den doch net um die Eck bracht. Mer hawe doch nur geholfe den im Gadde zu vergrabe.“

„Ja un. Moanste die glawe uns? Hawe mer Beweise?“ Sepp stöhnte. „Ich will net die nächste fufzeh Johr im Zuchthaus verbringe, aach wenn’s heut net mehr so schlimm soi soll, wie des früher war. Die hätte heut sogar Fernseh und derfe ohne Kette im Hof spaziern gehe.“

„Ja, moanst de ich will in de Knast?“ Schorsch guckte seinen Freund irritiert an. „Wie kommst de jetzt uf fufzeh Johr? Wie lang haste noch vor zu lebe?“

„Na, wenn die Elfi noch kann, dann tät ich schon gern so hunnert wärn.“

„Doi Dochter werd sich freue. Meinst de net, dass die aach gern amol mit ihrm Mann alloa wär.“

„Warum?“ Sepp hob verwundert den Kopf. Dann sagte er nachdenklich: „Ich tät schon gerne wisse, was domols werklich passiert is und ob der Hannes den Ami umgebracht hat odder ob’s en Unfall gewese war. Du net?“

Schorsch nickte und die beiden starrten eine Weile Löcher in die Luft. „Hast du net amol verzählt, die Maria hätt immer alles in e Buch geschriewe und des hätt jetzt die Edeltraud?“ , setzte Schorsch der Stille ein Ende.

„Ja. Ich hab se doch selbst mit dem Buch in de Hand domols im Gadde gefunne.“

„Jesses na.Warum sinn mer do net schon längst druf gekomme? Mer fraache die Edeltraud, ob se uns amol do noi gucke lässt?“

„Schlofende Hunde weckt mer net. Außerdem hats bis jetzt koan Grund gewe.“ Sepp griff nach dem Schnaps, der auf dem Tisch stand. Er zitterte aber so sehr, dass ein Teil der hochprozentigen Flüssigkeit auf der gestickten Tischdecke landete. Schorsch nahm seinem Freund die Flasche ab und goss ihre beiden Gläser randvoll. Sie leerten diese mit einem Zug.

„Was mache mer jetzt?“, fragte Sepp nach einigen Minuten.

„Mer müsse zur Edeltraud und mer müsse unbedingt in des Buch gucke.“

„Ja, vielleicht host de recht. Awer, wie solle mer do hiekomme? Du host schon seit a paar Johr koa Auto mehr un e Taxi bis Nauheim is bestimmt mordsmäßisch deuer.“

„De Herbert. Der fährt uns doch ab und zu zum Dokter nooch Offebach.“

„Awer dann misse mer den oiweihe“, erwiderte Sepp mit bedenklicher Mine.

„Och, der Herbert hält schon dicht.“ Schorsch machte eine abwehrende Handbewegung. „Ich geh gleich mal riwwer zu dem. Mer muss sich halt immer anschnalle“, setzte er nach. „Do druff besteht de Herbert. Des wäre Pflicht, seit a paar Johr, sacht er.“

***

Könnte der Tote tatsächlich der damals vermisste Fliegerpilot sein, mit dem Maria Häusler eine Affäre gehabt hatte? Es musste so sein, bestätigte sich Helene in ihrem Verdacht. Warum sonst wäre er im Garten der Häuslers vergraben?

Am Tatort hatte sie nichts mehr in Erfahrung bringen können. Die Polizeifahrzeuge waren abgerückt und die Nachbarn wieder in ihre Häuser zurückgekehrt. Nur ein paar Fußgänger, die durch die Straße liefen, schauten verwundert zu dem Absperrband, auf dem Polizei zu lesen war.

Helene beschloss, auf den Friedhof zu gehen. Am Grab ihres Mannes konnte sie immer am besten ihre Gedanken sortieren. Manchmal hatte sie sogar den Eindruck, ihr Friedel gäbe ihr Ratschläge.

Durch die Wolfstraße ging sie zum Marktplatz, ließ diesen links liegen und lenkte ihre Schritte durch die Freihofgasse zum Freihofplatz. Vor ihr ragten die Türme der Basilika auf. Die Glocke schlug gerade vier Uhr. Sie erklomm die ersten sechs Stufen der Sandsteintreppe zur Plattform des aus der Zeit der Karolinger bestehenden historischen Kirchenbaus; ging dann links über den ehemaligen Schulhof der Hans-Memling-Schule und setzte sie ihren Weg rechtsseitig der Klostermauer fort. Einige Meter weiter trat sie durch die Friedhofspforte. Sie schaute kurz in die Noth-Gottes-Kapelle, in der ab und an Leute knieten und beteten. Jetzt aber war diese leer. Und auch sonst begegneten ihr nur wenige Menschen. Die Witwen und Witwer hatten längst ihren alltäglichen Gang zu ihren Lieben und ihr Schwätzchen mit den jeweils Hinterbliebenen hinter sich. Vermutlich hielten sie jetzt ihren Mittagsschlaf.

Helene entnahm einen Lappen aus der Plastiktüte, die sie rückseitig des Grabsteins deponiert hatte, und wischte damit über den rostbraunen Marmor. Liebevoll blickte sie dabei auf das kleine ovale Foto, das in den Stein eingelassen war. „Die haben einen Toten im Garten vom Häusler gefunden. Aber das weißt du bestimmt schon längst. Was hältst du von der Sache? Traust du dem Hannes einen Mord zu? – Ja, du hast schon Recht, dem alten Häusler ging sein guter Ruf über Alles. Das hast du mir selbst immer wieder erzählt. Also, was meinst du, wäre es denkbar?“ Sie beugte sich dicht an das Konterfei von Friedel. Dabei stieß sie gegen das Grablicht. Es wackelte. „Soll das ein JA bedeuten?“

„Tach, Frau Wagner.“

Helene schaute auf. Herbert Walter winkte ihr zu. Sie hatte ihn nicht gesehen. Er stand zwei Reihen entfernt am Grab seiner Mutter. „Geht’s Ihne net gut?“

Jetzt erst fiel ihr auf, dass sie sich am Grabstein festhielt. „Danke, Herr Walter. Mir war nur grad etwas schummerig. Geht schon wieder.“

Der Mann kam auf sie zu. „Da braucht mer sich net zu wundern, bei der ganzen Aufreechung mit dem Tote. Des haut einen schon mal um.“ Zwei Sekunden lang schaute er sie nur an. Dann holte er tief Luft. „Derf ich Sie zum e Kaffee einlade. Ich hätt Zeit.“

Helene schmunzelte. Bereits seit Jahren bemühte sich Herbert Walter sich um ihre Aufmerksamkeit und natürlich hatte sie dies bemerkt. Immer, wenn sie sich in der Stadt beziehungsweise wie jetzt auf dem Friedhof begegneten, fing er ein kurzes Gespräch an. Normalerweise täuschte sie vor, sie müsse schnell nach Hause, weil die Wäsche wartete oder etwas auf dem Herd stünde. Heute jedoch folgte sie einer inneren Eingebung und nahm die Einladung an.

„Vielleicht ist ein Kaffee gar keine schlechte Idee, Herr Walter.“ Sie lächelte ihn an. „Bringt die Lebensgeister wieder auf Trab. Vorausgesetzt man hat kein Herzproblem.“

„Ach, da müsse Sie sich um mich keine Gedanke machte. Mein Herz is so gesund, wie des von em Vierzischjährige.“ Herbert Walter lachte. „Und, wo geh mer hin? Mache Se en Vorschlag.“

„Setzten wir uns doch gleich in das Café am Mainufer.“

Herbert hätte allem zugestimmt. Hauptsache er konnte mit der noch immer recht ansehnlichen Helene Wagner endlich an einem Tisch sitzen. Schade nur, dass jetzt grad kein Bekannter vorbeikam, der sie zusammen sehen konnte. Nur Touristen unterwegs, stellte er enttäuscht fest, als sie mit Blick über den Main, Platz nahmen.

„Wissen Sie, Herr Walter, die Sache mit dem Toten, das hat mich schon sehr erschüttert“, begann Helene das Gespräch. „Ich dachte immer in diesem Städtchen wäre die Welt noch in Ordnung. Und nun das!“

„Och, Frau Wagner, des is doch schon so lang her. Sie brauche sich wirklich net zu fürchte. Außerdem bin ich doch bei Ihne. Aber, was meine Se, wolle mir uns net duze? Mir kenne uns doch schon seit beinah ner Ewigkeit. Und den Friedel hab ich ja auch gut gekannt.“

Helene schaute ihr Gegenüber einen Moment lang an. „Na gut, Herr Walter, also Herbert. Sie ..., eh du bist ja ein anständiger und manierlicher Mensch.“ Sie hoffte, dass der Mann ihren versteckten Hinweis richtig deutete.

„Freut mich, Helene.“ Sie reichten sich die Hände. „Hättest du den Häuslers so etwas zugetraut? Ich meine, was ging bloß in der Familie vor?“

Herberts Gesichtsausdruck wurde ernst. „Willst du wirklich wisse, was ich glaube?“

Sicher wollte Helene das. Nur deshalb hatte sie sich auf diese Vertraulichkeiten eingelassen.

Walter beugte sich zu ihr. „Also, es wurd ja immer wieder erzählt, dass die Maria die Schwester vom Hannes so um fünfundvierzig war des, ein Verhältnis mit einem Ami gehabt habe soll, und dass des dem Hannes überhaupt net gepasst hätt. Aber des weißt de ja bestimmt vom Friedel.“ Helene nickte. „Aber die Maria hätt sich nix sage lasse“, setzte Herbert seinen Bericht fort. „Und dann, so Knall auf Fall, war der Ami verschwunde; des weißt de bestimmt aach. Danach is die Maria monatelang net vor die Tür gegange. Eigentlich hat mer sie überhaupt net mehr gesehe, bis se gestorbe is und da auch net mehr so richtig, weil der Hannes sofort den Sarg hat zumache lasse.“

Helene rührte in ihrem Cappuccino. „War es nicht üblich, dass Freunde und Nachbarn sich von einem Toten im offenen Sarg verabschiedet haben – so von Angesicht zu Angesicht.“

„Ja. .Das is es ja. Aber da is noch was. Der Schorsch, also der Georg Lenz mein Nachbar, hat die Maria so zwei Monate vorher mal zufällich im Garte gesehe und der hat mir erzählt, dass se ganz schee zugenomme hätt, so um de Bauch erum, wenn de verstehst?“ Herbert Walter nahm einen großen Schluck Kaffee. „Und dann, kurz nachdem die Maria gestorbe war, da war plötzlich die Edeltraud da. Des is schon e bissje komisch, oder?“ Er rückte mit seinem Stuhl noch einige Zentimeter näher an Helene heran. „Also, was ich dir jetzt sag, des wisse nur a Handvoll Leut’“, flüsterte er dicht an ihrem Ohr. Für Außenstehende musste es den Anschein haben, als würden die beiden Zärtlichkeiten austauschen.

Helene war es unangenehm.

„Der Hannes Häusler konnte überhaupt keine Kinner mache. Der soll als Kind die Mumms gehabt habe. Des hab ich von meiner Mutter gehört. Deshalb war der auch immer so unleidlich und ist so viel in die Kirch gegange. Vielleicht hat er sich auch deswege so oft im Waisehaus rumgetriebe. Also, was ich damit sage will, die Edeltraud kam grad richtig um die Schandmäuler zu stoppe.“

„Oh, mein Gott! Du glaubst …?“

Herbert nickte. „Hundertprotzentisch. Die Edeltraud ist des Kind von der Maria und dem Ami. Und ich sag dir noch was, des Gerippe, was die gefunde habe, des is der – also der Ami. Den hat de Hannes ums Eck gebracht.“ Herbert machte mit seiner rechten Hand eine eindeutige Bewegung über seinem Hals.

„Aber, könnte es nicht auch ein Unfall gewesen sein?“, gab Helene zu bedenken.

Walter schüttelte den Kopf. „Glaub ich net. Wenn’s so gewese wär, warum hätt der Hannes den in seinem Gadde vergrabe solle. Dem wär bestimmt was eingefalle, wege dem amerikanische Militär. Der konnt doch gut mit dene. Nur, bei em Mord hätt des schon annerst ausgesehe.“

Helene nickte nachdenklich. Dann sagte sie plötzlich. „Ich würde ja gerne herausfinden, was damals wirklich passiert ist? Du auch?“

„Du meinst so wie Privatdetektive?“

„Wäre doch interessant.“ Helenes Augen blitzten erregt.

„Und wie solle mer des anstelle? Die, die mer befrage könnte, die sin doch all schon tot. Da kann dir keiner mehr was erzähle.“

„Das ist richtig. Aber wir könnten mit Sepp reden und mit Schorsch. Die beiden kannten die Häuslers am besten. Soweit ich weiß, war der Sepp damals der beste Freund vom Johannes. Also wenn der nix weiß …“

„Naja, ich glaub net, dass die was sage, selbst wenn se was wisse täte.“ Herbert grinste. „Awer versuche könne mir des.“

***

Lars Hansen beschriftete die Ermittlungstafel mit den zurzeit dürftigen Infos. Inzwischen versuchte Harald Weinert etwas über den Staff Sergeant der US Air Force in Erfahrung zu bringen.

„Ich krieg gleich die Krise. Es gibt hunderte, wenn nicht tausende Henry Godmans. Aber keiner passt in unser Profil.“

„Welches Profil? Wir haben gerade mal den Namen und den Rang des Amis“, lästerte Lars. „Außerdem gab es zu der Zeit noch keinen Computer, geschweige denn ein Internet – ergo keine Daten. Versuchs doch mal bei der NSA.“ Hansen grinste und Weinert riss die Arme hoch. „Danke für die Hilfe. Bring mir besser einen Kaffee, anstatt solche Sprüche zu klopfen.“

„Was? Bin ich deine Sekretärin?“

„Für mich einen Cappuccino. Aber bitte aus der Kantine, nicht aus dem Automaten.“

Beide Kommissare fuhren herum. „Verdammt, Nicole!“ Lars Hansen fiel der Stift aus der Hand. „Warum musst du dich immer so anschleichen?“

„Macht Spaß euch zu erschrecken. Außerdem höre ich, was ihr über mich erzählt, wenn ich nicht hier bin. Du kommst nicht weiter, stimmt’s?“

Harald schüttelte den Kopf. „Ehrlich gesagt, mir fällt nur noch US Air Force ein.“ Er schaute seinen Kollegen an; der grinste. „Schließlich war der Tote einer der Ihrigen – wenn auch schon lange her. Die sollten zumindest noch Unterlagen besitzen. Das Problem dabei ist nur, damit wecken wir schlafende Hunde. Kann sein, dass unsere Freunde aus USA sich in unseren Fall einmischen.“

„Wow, du meinst das FBI oder der CSI tauchen bei uns auf?“

„Idiot.“

Hansen lehnte sich an Weinerts Schreibtisch, wobei er beide Hände in die Taschen seiner Jeans steckte. „Und wie gehen wir nun weiter vor?“

„Ich habe da eine andere Idee“, antwortete Nicole. „Wir werden um Amtshilfe bitten.“

„Kennst du etwa jemanden bei der CIA?“, fragte Lars mit großen Augen.

„Das nicht, aber ich kenne einen besonders versierten Computerspezialisten im Frankfurter Polizeipräsidium.“ Sie griff zum Telefon. „Wo bleibt mein Cappuccino?“

***

„Ach Herbert. Ich wollt grad zu dir. Eh … Tach, Helene.“ Die Überraschung, Herbert zusammen mit Helene anzutreffen, stand Schorsch Lenz regelrecht ins Gesicht geschrieben.

„Mir hawe uns auf em Friedhof getroffe.“ Von dem anschließenden Plausch in dem Kaffee sagte er nichts. „Mir wollte auch grad mal mit euch rede, also mit em Sepp und dir.“

„Ach, un warum?“

„Na weche dem Tote. Mer hat ja net jeden Tag e Leiche vor de Haustür“, tastete Herbert sich langsam vor. „Mer wollte halt nur wisse, was ihr davon halte tut. Awer wenn’s jetzt net passt, könne mer ja aach a anner Mal komme.“

Schorsch trat von einem Fuß auf den anderen. Soeben hatten er und der Sepp über die Angelegenheit gesprochen und nun lief ihm der Herbert geradewegs vor die Füße und auch noch mit der Helene. Andererseits besaß die Frau einen scharfen Verstand und war mit dem Friedel verheiratet gewesen, dem damals härtesten Hund bei der Stadtpolizei. Zudem wohnte diese Kriminalkommissarin bei ihr. Helene war also gewissermaßen vom Fach.

Schorsch überlegte kurz und gestikulierte den beiden, ihm zu folgen. Schon wollte er bei Sepp klingeln, als er den Schlüssel in seiner Hosentasche fühlte und schloss die Haustür auf.

„Sepp, ich bin’s nochemol“, schrie er laut und stieg die Treppe hinauf. „Ich hab Besuch dabei.“

Josef Richter schaute ebenfalls verblüfft wie er Herbert und die ihm folgende Helene Wagner heraufkommen sah. Zugleich schielte er auf die Flasche Schnaps, die auf dem Küchentisch stand.

„Sie wolle mit uns üwer den Tote rede“, erklärte Schorsch.

„Wieso mit uns?“, fragte Sepp. „Mir hawe damit nix zu tun. Des hab ich der Polizei aach schon gesacht.“

Herbert trat dicht an seinen Nachbarn heran. „Die Helene und ich, mir hawe uns gefraacht, wie der tote Ami in den Garte vom Hannes gekomme ist und ob des der Freund von der Maria gewese sein könnt. Die hat doch damals mit so em Ami rumgemacht.“ Er hob beide Hände, als Sepp protestieren wolle. „Des weiß jeder bei uns in de Straß. Der Hannes und du, ihr ward doch die beste Freunde. Kann des sein, dass der Hannes den Ami abgemurkst hat?“

„Ehrlich gesacht.“ Sepp warf Schorsch einen unsicheren Blick zu. „Mer täte aach gern wisse, was domols gewese is. Vielleicht is es grad so a Zeiche vom Himmel, dass du jetzt do bist. Du kennst uns vielleicht helfe, Helene“, plapperte er aufgeregt. „Du bist doch sozusaache vom Fach, schon weeche doim Friedel und wo doch die Kriminelle bei dir wohnt.“

„Kriminalkommissarin“, entgegnete Helene.

„Hm“, antwortete Sepp, ohne auf die Richtigstellung einzugehen. „Also hockt euch her. Mer hawe euch was zu verzähle. Wollt ihr en Schnaps?“

„Danke, nicht so früh am Tag“, lehnte Helene freundlich ab. Auch Herbert enthielt sich, sagte aber gleich: „Keine Angst, mer sasche der Elfi nix.“ Er wusste, dass Sepps Tochter es nicht gerne sah, wenn ihr Vater vor dem Abend Alkohol trank.

„Na dann“, erwiderte Sepp und goss sein Glas voll. „Ich brauch des fer moi alte Knoche. Sonst krieg ich es Reiße.“

„Awer mir kannst de aan oischenke. Bei mir zwickts aach dauernd “, erklärte Schorsch sich solidarisch.

Nachdem die beiden ihre Gläser in einem Zug geleert hatten, erzählten sie, zuerst zögernd, dann immer schneller, dass sie von Johannes Häusler dazu genötigt worden waren, den toten Soldaten in seinem Garten zu vergraben.

„Awer der war schon mausetot“, versicherte Schorsch nochmals. „Des müsst ihr uns glawe. Mir hawe den nur unner dem Appelbaum verbuddelt.“

Sepp nickte zustimmend. „Mer nemme an, dass der Hannes dem des Licht ausgeblase hot. Awer was Genaues wisse mer net. Und mer wollte des aach gar net wisse. Awer jetzt hawe mer Angst, dass mer desweche doch noch ins Gefängnis komme kennte.“

„Deshalb bräuchte mer jetzt doi Hilfe“, wandte Schorsch sich an Herbert. „Mir wisse, wer des Buch hat, da wo alles drin stehe tut. Dann kennte mer unser Unschuld beweise. Du misst uns nur irschendwo hinfahrn.“

Herbert runzelte die Stirn. „Aber den Ort Irschendwo kenn ich net. Geht’s e bissje genauer?“

„Naja, mer müsste halt die Edeltraud mal besuche.“

„Die Edeltraud? Bedeutet das, die Edeltraud besitzt ein Buch, in dem alles aufgeschrieben ist?“, fragte Helene angespannt.

Sepp und Schorsch nickten unisono. „Vielleicht freut se sich sogar, wenn se uns mol widdersieht.“

„Aber, soweit ich weiß, spricht die Edeltraud mit niemanden mehr“, gab Helene zu bedenken.

„Da rede mer halt aach nix“, entgegnete Schorsch. „Müsse mer ja net. Die soll uns ja aach bloß mol in des Buch gucke losse.“

„Kein Problem“, sagte Herbert. „Natürlich fahr ich euch. Wann wolle mer los?“

„Ja, was meinst de? Heut is es schon zu spät. Awer vielleicht gleich moje früh so um acht?“, schlug Schorsch vor.

„Des is es bissje zu früh“, wandte Sepp ein. „Was soll ich der Elfi saache, wieso ich in aller Herrgottsfrüh aufstehe will. Die brauch davon ja nix wisse.“

„Also gut, dann fahrn mer um neun los“, entschied Herbert. „Aber Helene kommt mit. Mache mer halt en Ausflug. In meinem Mercedes habe mer locker zu viert Platz, net so wie in dene neue Schlitte, wo de nur noch mit em Schuhlöffel einsteige kannst un dir hinnerher alle Knoche weh tue und du blaue Flecke hast.“

„Mer dürfe awer keinem a Wort davon saache, bevor mer net in des Buch gesehe hawe.“ Eindringlich sah Sepp zuerst Schorsch und dann Helene und Herbert an.

„Mache mers doch so, wie die des im Film immer mache“, schlug Schorsch vor und legte eine Hand auf die Tischplatte. „Einer für alle und alle für einen.“

„Jetzt werd net kindisch.“ Herbert erhob sich. „Komm, Helene, mer gehe, bevor die noch Brüderschaft trinke wolle. Bis moje, um Neun, pünktlich.“

***

„Moment, ich komme“, drang Helenes Stimme durch die Tür. „Oh, schon so spät“, sagte sie mit Blick auf die Uhr, als Nicole eintrat.

„Komme ich ungelegen? Hast du einen Liebhaber im Schrank versteckt?“, fragte sie schmunzelnd.

„Döspaddel.“

An der Tür zum Wohnzimmer blieb die Kriminalhauptkommissarin verdutzt stehen. Anstatt der Häkeldeckchen und dem gewohnten Nippes, bedeckte eine Menge Papier den Wohnzimmertisch. „Was treibt du da?“

„Ooch, ich sortiere nur.“

Nicole trat näher. „Du sortierst? Aha. Das sind Infos über die Nachbarn der Häuslers. Helene! Du spielst doch nicht etwa Miss Marple?“

„Also, wenn das jetzt ein polizeiliches Verhör werden soll, will ich einen Anwalt“, erwiderte diese mit gespielt ernstem Gesichtsausdruck.

„Ich sollte dir nicht zu viel Einblick in meine Arbeit gewähren. Du redest schon wie der ausgebuffteste Gauner.“

„Es ging mir nur so Einiges durch den Kopf. Weißt du, heute auf dem Friedhof traf ich auf Herbert Walter. Du erinnerst dich? Er wohnt in der Straße gegenüber, wo der Tote gefunden wurde. Also der hat mir einiges über die Häuslers erzählt. Willst du wissen, was?“ Helene schielte zu Nicole.

„Immer, wenn’s zum Fall gehört und Licht in die Sache bringt.“

In knappen Worten berichtete Helene von den Gerüchten um Häuslers Zeugungsunfähigkeit und, dass gemunkelt wurde, Edeltraud sei das Kind von Maria und ihrem Ami. Von dem Buch und von dem Gespräch mit Sepp, Schorsch und Herbert sagte sie nichts – wie versprochen.

„Alles hochinteressant. Aber wie steht’s mit Beweisen?“, fragte Nicole, jetzt ganz Kommissarin.

Helene schüttelte den Kopf. „Keine. Aber an jedem Gerücht hängt ein Fünkchen Wahrheit, oder?“

„Na gut.“ Nicole stellte ihren alten Laptop auf den Tisch. „Schau mal, was ich dir mitgebracht habe. Ich dachte, so für den Anfang reicht der, oder?“

„Großartig.“ Helene lachte spitzbübisch. „Zeigst du mir, wie der funktioniert?“

Düsteres Erbe

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