Читать книгу Die Rettung des grauen Ponys - Örjan Persson - Страница 4
ОглавлениеDer Tag, an dem Malin zu Unrecht beschuldigt worden war, daß sie eine leere Bonbontüte auf ihren Schultisch gelegt hatte, nahm endlich auch ein Ende. Nach der Schule fuhr sie mit dem Fahrrad direkt nach Hause, um sich umzuziehen und dann gleich weiter zum Stall zu fahren.
Die Familie wohnte in der ersten Etage eines der drei betongrauen vierstöckigen Mietshäuser nahe der beiden Supermärkte und dem Kiosk.
Malin rannte die wenigen Treppenstufen von der Haustür zur Wohnungstür hinauf, ließ den rosa Rucksack zwischen Stiefeln und Schuhen fallen, die links von den Jacken ordentlich aufgereiht standen. Ihre eigenen Turnschuhe warf sie mitten auf dem Fußboden von sich. „Hallo!“ rief sie. „Ist jemand zu Hause?“
Keine Antwort.
Von der Küche aus sah sie, daß die Tür zum Schlafzimmer der Eltern geschlossen war. Sie schlug die Tageszeitung auf und blätterte zerstreut. Mutter hatte also Migräne. Jetzt lag sie da drinnen hinter heruntergezogenem Rollo, ein Kissen auf dem Kopf, in den Ohren vielleicht die gelben Stöpsel aus der Apotheke. Die Familie Bergström-Johansson hatte dann trübe vierundzwanzig Stunden vor sich. Vielleicht zwei Tage lang. Ein Schleichen und Gezischel war das, keine Kassetten oder Radiomusik und die kleinen Geschwister, Emil und Karin, würden nicht drinnen spielen dürfen. Aus alter Gewohnheit blätterte Malin die Zeitungsseiten mit größter Vorsicht um, damit das Geraschel die Mutter nicht störte.
„Malin!“
Behutsam tappte Malin zur Schlafzimmertür. „Ja.“
„Komm ein bißchen herein.“
Vor dem Fenster hing eine Wolldecke.
„Hast du Migräne? Möchtest du etwas haben?“ fragte Malin.
„Nein.“
„Was wolltest du denn?“
„Der Direktor hat angerufen. Du hast also wieder mal etwas angestellt!“ Ein grauweißes Gesicht mit zwei blassen Augen, gepeinigt von Kopfschmerzen, wurde am Kopfende des Doppelbettes sichtbar.
„Aber Mama, ich hab nicht ...“
„Daß du nie erwachsen wirst! Der Direktor hat gesagt, du bist frech gegen eine Lehrerin gewesen. Du hast sie so beleidigt, daß sie nach Hause gehen mußte. Wie kannst du nur! Als ob man nicht schon genug Kummer hätte. Wenn du wüßtest, wie furchtbar das ist, Migräne zu haben, würdest du dich zusammenreißen.“
„Ja, aber Mama, ich hab wirklich nichts getan! Die alte Lappenlisa hat behauptet, ich hätte eine leere Bonbontüte auf den Tisch gelegt, so eine, die ordentlich knistert. Aber ich bin das nicht gewesen, Sussi hat sie aus irgendeinem Grund auf meinen Tisch gelegt. Und als ich klarstellte, wie es gewesen ist, drehte die Lappenlisa durch. Die spinnt doch. Ehrlich, ich hab die Wahrheit gesagt. Und was geht es übrigens sie an, ob da eine Tüte auf einem Tisch liegt? Aber die ist so, die kann nichts vertragen. Nie hört sie zu, wenn man was sagt, und sie wird schon verrückt, wenn man nur hustet. Das war so, sie hat gesagt ...“
„Ja, ja, hör auf mit den Ausreden, das ist jetzt zuviel für mich. Ich weiß ja, wie du bist. Und selbst wenn es diesmal zufällig nicht deine Tüte gewesen ist, hättest du sie ja trotzdem wegnehmen können. Dann wäre uns der Ärger erspart geblieben, und ich müßte nicht hier liegen. Manchmal ist es besser, wenn man den Mund hält, Malin, selbst wenn man im Recht ist. Um Unfrieden und Unannehmlichkeiten zu vermeiden. Wenigstens das sollte man gelernt haben. Und wie ich dir hier zu Hause dauernd nachräumen muß, da kann ich mir schon vorstellen, daß du die in der Schule zur Weißglut reizt. Da läßt du wahrscheinlich auch alles einfach hinfallen, nehme ich an.“
„Aber ...“
„Ja, ja“, sagte Malins Mutter seufzend. „Es ist, wie es ist. Doch jetzt kann ich nicht mehr reden. Sei so nett und mach die Tür vorsichtig zu. Und klappere nicht mit dem Geschirr in der Küche. Meine Kopfschmerzen sind wirklich furchtbar!“
Malin blieb einige Sekunden stehen, ehe sie sich in die Küche zurückzog. Sie hatte Lust, die Wolldecke vom Fenster zu reißen, es zu öffnen und hinaus auf den Hof zu schreien, daß sie nicht schuld war, daß sie nichts getan hatte und alle Erwachsenen Idioten waren. Aber sie sagte nichts, sondern schlich aus dem Zimmer und machte die Tür vorsichtig hinter sich zu.
Malin wußte aus bitterer Erfahrung, daß es für sie selbst am schlimmsten wurde, wenn sie ihre Mutter noch weiter reizte. Die ganze Familie würde darunter leiden, wenn sie die Verlängerung der Migräne auslöste. Diese verdammte Schule! Man müßte auf alles pfeifen, einfach abhauen. Sollten die doch aneinander rummeckern, wie sie wollten!
Aber Amie! Amie konnte sie nicht verlassen.
Malin ging zu dem Verschlag im Keller, der zur Wohnung gehörte. Dort hatte sie ihre Reitsachen, und dort zog sie sich um. Beide Geschwister, Emil und Karin, acht und sieben Jahre alt, waren allergisch gegen Tierhaare, und deswegen mußte Malin sich im Keller umziehen, wenn sie aus dem Stall nach Hause kam. Und dann mußte sie duschen. Deswegen trug sie ihr Haar immer ganz kurzgeschnitten, damit es schneller trocknete.
Malins Haar hatte eine goldene Tönung, ihre Augen waren sehr blau. Sie war nicht aschblond, nicht weizenblond oder madonnaweiß. Ihr Haar hatte die gleiche Farbe wie der Verlobungsring ihrer Mutter. Malins richtiger Vater war schon verschwunden, als sie gerade geboren war, und als Malin sieben Jahre alt war, war Hans mit Malins Mutter zusammengezogen. Er war der Vater von Emil und Karin.
Malin wußte, daß ihr Vater in Stockholm wohnte, daß er irgend etwas mit Computern zu tun hatte, und eine neue Familie hatte er auch. Aber das war das einzige, was sie wußte. Wenn ihre Mutter mehr wußte, ließ sie es sich jedenfalls nicht anmerken. Sie sprach nie über Malins Vater.
Amie wartete. Sie brauchte Malin. Und deswegen fuhr Malin so schnell wie möglich wieder zu Elofssons Stall.
Das graue Pony stand in seiner Box. Sara und einige andere Pferde waren auf der Weide. Amie stand still und schonte das rechte Bein. Als Malin mit dem Putzzeug zu ihr ging, zuckte die Stute zusammen, als ob sie geschlafen hätte und plötzlich unsanft geweckt worden wäre. Bedrückt stellte Malin fest, daß das graue Pony nicht richtig auftreten konnte, obwohl die Schwellung nach dem Umschlag schon etwas zurückgegangen war.
Malin bürstete Amie gründlich, mit langen, gleichmäßigen und heute besonders sanften Strichen. Sie waren allein im Stall. Die Sonne durchdrang den Schmutz am Stallfenster, und die Schatten der altmodischen Sprossen, die das Fenster in kleine Vierecke teilte, zeichneten ein quadratisches Muster auf das Fell der Grauschimmelstute.
Die Ruhe im Stall, Amies Vertrauen zu Malin, ihre Vertrautheit und Freundschaft waren wie ein Pflaster auf Malins verwundeter Seele. Amie war ihre beste Freundin. Leise sprach sie mit der kleinen Stute.
Plötzlich wurde die Stille von einem Wagen gestört, der auf den Hof gefahren kam. Eine Autotür wurde zugeschlagen, und dann kam noch ein Wagen. Gleich darauf kam Gustav Elofsson herein, diesmal mit erstaunlich freundlicher Miene. Hinter ihm ging ein dunkelhaariger Mann, ein John-Lennon-Typ mit runden Brillengläsern und Drahtgestell und einem graugesprenkelten Vollbart. Er sah sich ein bißchen ratlos um, als er vor Malin stand.
„Wie schön, daß du da bist und dich um Amie kümmerst“, sagte Elofsson freundlich.
Überrascht von seinem milden Ton, ließ Malin die Bürste auf Amies Widerrist ruhen. „Ja?“ fragte sie erstaunt.
„Hier ist sie also“, sagte Elofsson, an den Besucher gewandt, der bei der Boxtür stehengeblieben war.
„So, das ist also Amie. Gut sieht sie aus.“
„Natürlich ist sie schon älter“, fuhr Elofsson fort und strich ihr über die Flanke. „Aber für ihre sechzehn Jahre ist sie noch ganz schön munter und frisch.“
Vorsichtig betrat der Mann die Box. Er streckte Malin die Hand hin. „Hallo, ich heiße Sten Andersson.“
Malin wischte sich die rechte Hand am Hosenbein ab und begrüßte den Mann. „Hallo“, sagte sie verlegen. Sie kam nicht auf die Idee, ihren Namen zu nennen.
Sten Andersson kratzte sich nachdenklich an der Wange. „Ja, ich versteh nicht viel von Pferden, aber das hier scheint ja ein gutes Pferd zu sein“, sagte er.
„Ja, sehr gut“, sagte Malin. „Aber eigentlich ist es kein Pferd, jedenfalls wenn man es genau nimmt.“
„Was? Das ist kein Pferd?“ fragte der Mann verwirrt.
„Nein, Pferde sind größer. Sie ist ein Pony“, erklärte Malin. „Aber die meisten nennen Ponys Pferde. Jedenfalls sind alle mit einsachtundvierzig oder kleiner Ponys.“
„Sie meint das Stockmaß!“ erklärte Elofsson.
„Ach so“, sagte Sten Andersson. Aber Malin hatte das Gefühl, als ob ihn die Erklärung auch nicht schlauer gemacht hätte. Wahrscheinlich hatte er keine Ahnung, was das Stockmaß eines Pferdes oder Ponys überhaupt war.
„Ja, wenn ihr nichts fehlt ...“, sagte Sten Andersson. „Ist die Stute denn gesund?“
Plötzlich zuckte es klar wie ein Blitz durch Malins Kopf. Er war hier, um Amie zu kaufen! Ihr Atem stockte. „Sie wollen Amie doch nicht verkaufen?“ fragte sie Elofsson tonlos.
„Doch“, antwortete Elofsson. „Sten ist interessiert. Und weil ich gerade noch eine Box an jemanden vermieten kann, fand ich, es sei eine gute Gelegenheit, sie zu verkaufen. Ich wollte sowieso keine Welsh Ponys mehr züchten.“
„Aber sie ist krank!“ rief Malin außer sich. „Sie können sie erst verkaufen, wenn sie wieder gesund ist!“
„Sie ist krank?“ fragte der Interessent Andersson mißtrauisch.
„Sie hat eine Gelenkschwellung“, sagte Malin. „Das wird einige Zeit dauern. Aber die letzten Wochen ist es ihr sehr schlecht gegangen, und sie ist noch lange nicht wieder gesund. Natürlich darf sie nicht geritten werden. Sie kann auch nicht auftreten!“ Ihre Stimme zitterte.
„Quatsch“, sagte Elofsson schnell. „Es ist nicht mehr schlimm, finde ich. Ich meine, sie geht schon wieder gut.“
Malin bückte sich und berührte Amie am Huf. Amie reagierte, indem sie den Fuß ganz schnell zurückzog. „Sehen Sie doch“, rief sie. „Man kann sie kaum am Bein berühren.“
„Das ist dumm“, sagte Sten Andersson und machte einen Schritt zurück, zur Box hinaus. „Dann lassen wir es lieber, Elofsson. Ein krankes Pferd ... oder Pony möchte ich nicht gern kaufen. Wir wollten Eva, meine Tochter, zum Geburtstag überraschen. Sie hat so viel von diesem Pferd erzählt. In diesem Herbst ist sie sehr oft hier geritten.“
„Eva Andersson!“ rief Malin.
„Ja, genau. Kennst du sie?“
„Eine kleine Blonde?“
„Ja, stimmt.“
„Das war ja sie, die Amie total überfordert ...“
„Genug geredet“, unterbrach Elofsson sie. „Du redest eine Menge Blödsinn, Malin.“ Seine Mundwinkel waren in ihre gewöhnliche Position zurückgerutscht. Er wandte sich zu Eva Anderssons enttäuschtem Vater um. „Es kann schon sein, daß die Stute im Augenblick nicht hundertprozentig fit ist. Aber ich garantiere dir, daß deine Tochter in wenigen Tagen mit ihr galoppieren kann, als ob nichts gewesen wäre.“
„Niemals!“ protestierte Malin erbittert.
„Jetzt hältst du aber den Mund, Mädchen!“ schrie Elofsson und machte einen drohenden Schritt auf sie zu. „Als ob du mehr von Pferden verständest als ich! Ich hab fünfzig Jahre meines Lebens mit Pferden verbracht. Was ist das überhaupt für ein Benehmen!“
Den möglichen Käufer hatte Gustav Elofssons Ausfall mehr erschreckt als Malin. Rasch zog er sich zum Ausgang zurück. „Ich habe kein Interesse mehr“, sagte er. „Schade, wir haben gerade einen kleinen Hof gekauft, auf dem Platz für ein Pferd wäre. Aber wir können ja wiederkommen, wenn die Stute wieder gesund ist.“
„Nur noch ein paar Tage“, versicherte Elofsson und folgte Sten Andersson hinaus.
Malin hörte, wie Elofsson seine Überredungsversuche draußen vor dem Stall lautstark fortsetzte.
Als eins der Autos gestartet und weggefahren war, wartete Malin zitternd darauf, daß Elofsson wiederkommen und sie beschimpfen würde. Sie stellte sich zwischen Amie und die Boxöffnung. Amie sollte nicht wie eine Art Schild vor ihr stehen. Sie hatte nicht direkt Angst, Elofsson könnte sie schlagen, aber er war so groß und breit, und wenn er wütend wurde, was er jetzt sicher war, dann konnte er sehr unangenehm sein, Malin wußte, daß sie die Wahrheit gesagt hatte, aber an diesem Tag schien die Wahrheit nicht besonders gefragt zu sein. Weder in der Schule noch zu Hause und auch nicht im Stall.
Elofsson kam aber nicht wieder. Und nach einer Weile fuhr Malin fort, die graue Stute zu putzen. Mit hängendem Kopf stand Amie da. Bestimmt hat sie Schmerzen, dachte Malin mitleidig. Da wäre diese schreckliche Eva also fast die Besitzerin von Amie geworden! Malin dachte, daß es ein Riesenglück gewesen war, daß sie zufällig im Stall war, als Evas Vater kam. Außer für Elofsson vielleicht. Doch was sollte aus Amie werden, wenn sie irgendwo hinkam, wo niemand das Geringste von Pferden verstand? Zu einem Mädchen, das ein Pony rücksichtslos trainierte, bis es überfordert war und krank wurde. Malins Kehle zog sich zusammen. Sie schmiegte das Gesicht an Amies dichte Mähne. Das durfte einfach nicht passieren. Sie legte das Putzzeug weg und gab ihrer Freundin einen halben Apfel. Amie nahm ihn zwar, aber sie kaute ohne Appetit.
Malin verließ den Stall. Sie wollte allein sein und ging zum Wald. Sie nahm einen Weg, der nach etwa einem Kilometer zu einigen Sennhütten führte. Vor langer Zeit hatten die Bauern Milch von den Sennhütten ins Dorf gebracht, in dem es eine kleine Meierei gegeben hatte. Immer noch waren die tiefen, schmalen Spuren von den eisenbeschlagenen Rädern der Milchkarren zu sehen.
Nach einiger Zeit war der Weg von Birken und Espen und dichtem Unterholz zugewachsen, und Malin kehrte um. Die Sonne ging gerade unter, ihre Strahlen wärmten aber immer noch ein wenig.
Als Malin zurück zum Stall kam, war dort die Abendfütterung in vollem Gange. Alle versorgten ihre Pferde, misteten die Boxen aus oder bewegten die Ponys in dem kleinen Paddock vor dem großen Stall.
Malin erzählte Kattis, daß Elofsson versucht hatte, Amie zu verkaufen.
„So ein gemeiner Kerl!“ rief Kattis aufgebracht. „Aber er wird sie sicher verkaufen, sobald sie wieder gesund ist. Darauf wette ich!“
Ja, das war klar. Es blieb Malin nichts anderes übrig, als die bittere Wahrheit zu akzeptieren. Es war nur noch eine Frage der Zeit, dann war Amie fort. Es war undenkbar, daß Malin die kleine graue Stute kaufen könnte. Sie hatte weder das Geld für die Ponystute selbst noch für ihren Unterhalt. An die Trennung von ihrer besten Freundin wollte Malin noch nicht denken.