Читать книгу Pferdeferien oder die Reise nach Kopenhagen - Örjan Persson - Страница 4
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ОглавлениеEs war in den Sommerferien.
Mia wollte mit einer Freundin zu einem Sprachkurs nach Frankreich fahren. Petrus wollte für zwei Wochen nach Finnland, um ein Mädchen zu treffen, das er im vorigen Sommer im Schärengarten von Stockholm kennengelernt hatte. Sie heißt Anja, und sie ist hörgeschädigt. Aber Petrus hat sich über beide Ohren in sie verliebt, und den ganzen Winter über hat er einen Kurs besucht, um die Zeichensprache zu lernen, damit er sich beim nächsten Mal mit Anja unterhalten kann. Und offenbar hat er einiges gelernt, denn als er aus Finnland zurückkam, sprach er nur von Anja und erzählte mir, was sie dachte und meinte.
Papa und Cilla wollten gemeinsam mit den Kindern von Cilla, Kerstin und Oskar, nach Schonen fahren. Kerstin ist elf und Oskar acht.
Und ich? Ich hatte die Wahl, allein mit meinem Pferd Mister daheim zu bleiben oder mit nach Schonen zu fahren.
Meine Mutter, also die Frau, mit der Papa in erster Ehe verheiratet war, mußte den ganzen Sommer arbeiten, mit ihr konnte ich also auch nichts unternehmen. Sonst sind Mia, Petrus und ich immer einen Teil der Ferien bei ihr. Vor allem Petrus, denn ich habe ja meinen Mister, und Mia hat auch ein Pferd gehabt, das vor ihrer Reise nach Frankreich verkauft wurde. Sie hatte keine Zeit mehr für das Pferd, sagte sie, aber es war nicht schwer zu erraten, welches Interesse die Oberhand gewonnen und wofür Mia jetzt mehr Zeit hatte: für Jungen.
Nach langen Überlegungen beschloß ich, mit nach Schonen zu fahren. Ich wollte nicht allein zu Hause sitzen und zwei endlose Wochen vor mich hinstarren. Und ich merkte, daß sich Papa und Cilla sehr über meinen Entschluß freuten. Die zwei Kleinen übrigens auch.
Ich dagegen freute mich gar nicht, entsprechend verdrossen war ich bei der Hinreise. Ich lag auf dem hintersten Sitz im VW-Bus und las ununterbrochen, redete kein Wort. Sogar wenn Oskar rief: „Schau Eva, Pferde!“ stützte ich mich nur unwillig auf und starrte zu den Pferden hinüber, an denen wir vorbeifuhren. Je weiter wir nach Süden kamen, um so mehr Pferde sahen wir, und schließlich fauchte ich Oskar an, er solle den Mund halten. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich Mister allein gelassen hatte. Dabei wußte ich, daß er bestens versorgt war. Und ich war ja nur zwei Wochen fort.
Der arme Oskar wurde ganz still, mein Verhalten war ziemlich gemein. Ich wußte ja, daß er mich nur ein bißchen aufheitern wollte.
Papa hat einen entfernten Verwandten in Schonen, Graf Olsson. Dieser Graf Olsson besitzt ein Schloß, ein richtiges Schloß mit vielen Zimmern und einem hohen Turm.
Keiner von uns war jemals dort gewesen, und nicht einmal Papa wußte besonders viel von Graf Olsson. Bis unser Vater eines Tages einen Brief erhielt, in dem Graf Olsson uns einlud, in den Sommerferien auf sein Gut zu kommen.
Papa und Cilla waren anfangs unsicher, ob sie zusagen sollten, aber weil sie nichts anderes vorhatten, fuhren wir hin. Es würden billige Ferien werden, und ich nehme an, daß das den Ausschlag gab. Papas Truthahnfarm war einige Jahre sehr schlecht gegangen, und schließlich hatte er den Betrieb verkaufen müssen. Nicht den Hof natürlich, aber die Truthähne und das, was man zur Aufzucht dieser Tiere benötigt. Er versuchte es dann mit Schafen, fing mit zwanzig jungen Mutterschafen an, die im Frühjahr achtundzwanzig Lämmer bekamen. Aber große Einkünfte waren vorerst nicht zu erwarten, und wir lebten von Cillas Gehalt und einigen Nebenjobs, die Papa hatte.
„Hat er keinen Vornamen, dieser Graf?“ fragte ich, als wir daheim am Küchentisch saßen und über den kommenden Sommer redeten.
„Doch“, sagte Papa, „muß er ja wohl. Aber ich habe ihn nie gehört.“
„Er heißt natürlich mit Vornamen Graf“, sagte Kerstin, die alles weiß.
„Er wird nicht Graf heißen“, sagte ich. „Er ist Graf, kapierst du das nicht? Und er hat irgendeinen Vornamen, ist doch klar!“
„Olsson!“ sagte Kerstin. „Wer Olsson heißt, ist kein Graf!“
„Ja, Kerstin, ich glaube, daß er weder Graf ist noch so heißt“, sagte Papa lachend. „Er nennt sich vermutlich nur so. Wenn ich mich nicht irre, ist er zwar aus adliger Familie, aber seine Großmutter oder sein Großvater ..., einer von beiden verlor jedenfalls aus irgendeinem Grund den Titel. Besonders schlau scheint er nicht zu sein, dieser Olsson. Irgendwann in den vierziger Jahren kam er, ich weiß nicht wie, in den Besitz des alten Familiengutes. Er bewirtschaftet das Land nicht selbst, er hat alles verpachtet. Und das Schloß selbst ist, soviel ich weiß, ziemlich verfallen.“
„Das wird ja unheimlich spannend“, rief Oskar. „Ein Spukschloß! Weißt du, ob es dort auch Gespenster gibt? Die mit Ketten rasseln und stöhnen und röcheln? Und eine weiße Frau, die um Mitternacht erscheint?“
„Sicher“, sagte Papa. „Das nehme ich an. Das ist ja in allen alten Schlössern so.“
„Könnten wir nicht lieber nach Gotland fahren?“ fragte Kerstin. „Wo es richtig schön ist?“
„Entfällt“, sagte Papa. „Ich liebe Gotland zwar, aber jetzt haben wir die Gelegenheit, in einem Spukschloß zu wohnen! Und das dürfen wir uns nicht entgehen lassen.“
Oskar nickte eifrig, aber Kerstin konnte sich nicht recht begeistern.
„Das mit den Gespenstern wird schon nicht so schlimm werden, Kerstin“, sagte Cilla. „Die verschwinden vermutlich fluchtartig, wenn wir da einziehen.“
„Jedenfalls heißt er Graf“, sagte Kerstin. „Und ich weiß nicht, was daran komisch ist.“
Petrus wollte also zu seiner geliebten Anja, aber von dort aus wollte er auch nach Schonen kommen und die letzten Ferientage mit uns verbringen.
Gegen Abend kamen wir nach Schonen. Es war schon ziemlich spät und bereits dunkel. Es war nicht einfach, Sellerup, so hieß das Gut, zu finden, aber schließlich fuhren wir durch eine lange Allee und kamen auf einen großen Hofplatz, der von großen, dunklen Gebäuden begrenzt war.
Direkt vor uns lag das Schloß, und in der Dunkelheit sah es richtig gespenstisch aus. Im Erdgeschoß waren einige Fenster beleuchtet, und Papa ging an zwei grinsenden Steinlöwen vorbei zu dem Eichenportal und klopfte mit dem Türklopfer. Über den Löwen brannten zwei trübe Lampen, und in dem spärlichen Lichtschein war nicht viel Phantasie nötig, damit die Raubtiere sich bewegten und sich das Maul leckten.
Ich stieg aus dem Bus und streckte Arme und Beine. Nachdem das Echo des Türklopfers verklungen war, hörte man keinen Laut mehr. Unsere Ankunft schien niemand bemerkt zu haben.
„Wir fahren nach Gotland“, sagte Kerstin im Bus.
„Seltsam“, sagte Papa. „Warum macht niemand auf? Haben sie uns nicht gehört? Sie wissen doch, daß wir kommen!“
Er packte noch einmal den Türklopfer und knallte mehrere Male gegen die Tür.
Nach einer Weile erschien in einem der Fenster ein Gesicht, und kurz darauf erschien ein alter Herr in Anzug und Krawatte und öffnete.
„Na so was. Da seid ihr ja!“ sagte er. „Denn ihr seid es doch?“
„Ja, wir sind es“, erwiderte Papa gereizt. „Wir stehen hier schon einige Zeit und klopfen.“
„Klopfen?“ fragte der Alte erstaunt. „Warum benützt ihr nicht die elektrische Klingel?“ Er deutete auf einen gut sichtbaren Knopf neben der Tür. „Gibt es so moderne Einrichtungen bei euch noch nicht? Wißt ihr“, fuhr er freundlich fort, „den Türklopfer hören wir drinnen nicht. Aber jetzt seid erst mal alle zusammen willkommen. Du bist Eva, stimmt’s?“
Er sprach den breiten Dialekt dieser Gegend, aber man konnte verstehen, was er sagte. Er war groß und sah vornehm aus, kerzengerade stand er da und strich sich ständig eine graue Locke, die ihm über das linke Auge fiel, zurück. Als ich ihn so ansah, dachte ich, daß er vor vielen Jahren sicher ein fescher Mann war.
Seine Frau, die uns in der Halle begrüßte, sah auch sehr gut aus. In einem seidenen Kleid und mit Diamanten an den Handgelenken und um den Hals schien sie sich gerade für ein größeres Fest zurechtgemacht zu haben.
Ich fühlte mich wie ein Trampel, als ich in meinen alten Jeans und dem verschwitzten T-Shirt in die Halle stolperte. Was sie wohl von uns hielten?
Von der Halle mit den Portraits der Ahnen und einigen Jagdtrophäen kamen wir in einen Salon, in dem der Teetisch gedeckt war, mit Tellern und Tassen und einem großen Tablett mit köstlichen, belegten Broten!
Gräfin Olsson bediente uns.
„Heutzutage ist es schwierig mit Personal. Man muß alles selber tun“, sagte sie und schenkte uns ein.
Wir nahmen uns von den Schnitten. Ich begann mit einem Käsebrot. Der Belag sah zwar nicht ganz frisch aus, aber ich war hungrig und biß kräftig hinein. Aber es war vergeblich, ich kam nicht durch. Das Ganze war steinhart! Offensichtlich waren alle Schnitten so, denn ich sah, daß sich auch die anderen ungläubig anstarrten. Das zweite Brot, das vor mir lag, war mit Leberpastete bestrichen, und ich sah, daß sie an einer Seite schimmelig war.
„So ein hartes Brot!“ sagte Oskar, der rechts neben mir saß.
„Still, du Idiot!“ fauchte ich und trat ihm auf den Fuß.
„Oh, sind sie hart geworden?“ klagte die Gräfin. „Das ist mir sehr unangenehm. Ich habe sie rechtzeitig vorbereitet, damit bestimmt alles fertig ist, wenn ihr kommt.“
„Wann denn?“ fragte der freche kleine Oskar.
„Gestern morgen, wenn ich mich nicht irre“, antwortete die unglückliche Gastgeberin.
„Hm, ich glaube sogar, es war vorgestern“, berichtigte ihr Mann und strich sich die Locke aus der Stirn. „Ich habe doch gesagt, das ist ein bißchen früh.“
„Vielleicht kann man das Brot eintunken“, schlug die Gräfin vor und zupfte nervös an ihrem Seidenkleid.
Ich würgte die Käseschnitte herunter, aufgeweicht in lauwarmem, dünnem Tee, das Stück mit der Pastete ließ ich liegen.
„Ich glaube, die Kinder sind müde“, sagte Cilla. „Wo können wir schlafen?“
„Im Ostflügel“, antwortete der Graf. „Wir haben ein paar Betten aufgestellt, sonst gibt es da nicht sehr viel Mobiliar. Der Trakt hat viele Jahre leergestanden. Ihr könnt dort einziehen und euch einrichten, wie ihr wollt. Ich bringe euch hin.“
Wir gingen hinaus, vorbei an den blutrünstigen Löwen, überquerten den knirschenden Kiesplatz und betraten den Ostflügel. Der Graf öffnete eine quietschende, schwere Tür, und wir standen in einem stockdunklen Gang.
„Mit Licht sieht es hier schlecht aus“, sagte der alte Herr. „In die Schlafzimmer habe ich aber Lampen gestellt. Und wenn ihr nachts auf die Toilette geht, müßt ihr die Taschenlampe mitnehmen.“
„Wo ist die Toilette?“ fragte Cilla.
„Im oberen Stock. Da ist auch eine Dusche. Man geht die Treppe neben der Küche, die am Ende des Flügels ist, hinauf, dann am Billardtisch und an drei hintereinanderliegenden Zimmern vorbei. Auf der Toilette gibt es ein Licht. Nur der Weg dorthin ist dunkel. Die elektrischen Leitungen sind nicht mehr in Ordnung.“
„Wunderbar“, sagte Cilla, „daß auf der Toilette Licht ist!“
Ich hörte die Ironie in ihrer Stimme, aber der Graf merkte offenbar nichts. Ich beschloß jedenfalls, in der Dunkelheit möglichst nicht pinkeln zu müssen.
„Deine Idee mit Gotland war vielleicht gar nicht so dumm“, flüsterte ich Kerstin zu.
Sie antwortete nicht.
Wir bekamen vier Zimmer, vier riesige, entsetzlich hallende Räume mit ein oder zwei Betten in der einen Ecke und einer Kommode oder einigen Stühlen in der anderen.
„Wie gefällt es euch?“ fragte der Graf.
„Ausgezeichnet“, stieß Papa mühsam hervor. „Wir werden hier ja nur schlafen. Was meinst du Cilla?“
„Ja, natürlich.“ Cilla seufzte. „Aber ich meine, wir sollten alle in zwei Zimmer zusammenziehen. Wir brauchen keine vier.“
„Zieht ihr zusammen, ich will jedenfalls allein schlafen“, sagte ich entschlossen.
Papa schaute mich etwas erstaunt an.
„Ist es nicht besser, wenn die Kinder in einem und wir Erwachsene in einem anderen Zimmer schlafen?“
„Nein danke, ich möchte gerne ein eigenes Zimmer“, sagte ich eigensinnig.
„Ich will nicht allein mit Kerstin schlafen“, sagte Oskar. Das Schloß war ihm nicht geheuer. Er war nicht mehr so übermütig wie neulich, als wir zu Hause in der warmen Küche saßen.
„Ich hatte gedacht“, sagte Papa etwas enttäuscht, „daß Cilla und ich ein bißchen für uns sein könnten, wenn wir schon mal Ferien haben ...“
„Ja“, sagte ich und zuckte mit den Schultern, „wie das gehen soll, weiß ich zwar nicht, aber ihr werdet schon eine Lösung finden. Ich möchte jedenfalls mein eigenes Zimmer haben!“
Papa wirkte nicht besonders fröhlich, er war aber zu müde, um zu protestieren. Und ich fand, wenn er und Cilla zu Hause ihr gemeinsames Zimmer haben, so können sie sich in den Ferien um die Kinder kümmern und nicht nur an sich denken. Und ich wollte ein eigenes Zimmer haben. Unbedingt.
Obwohl ich es ein bißchen bereute, als ich in das kalte, harte Bett kroch. Es war wirklich unheimlich hier. Die hohe Decke war durchzogen von Rissen. Hoffentlich fällt nicht der Putz herunter, dachte ich. Spinnen gab es sicher auch da oben. Und die Tür zum Gang schloß nicht richtig, abschließen ging also nicht. Ich hatte einen Stuhl davorgestellt; sollte sich jemand hereinschleichen wollen, würde der Stuhl umkippen, ein Geräusch, das man sicher im ganzen Ostflügel hörte und das die übrige Familie wecken würde.
Neben meinem Bett stand eine alte, wackelige Stehlampe mit einem Messingfuß voller Grünspan und einem verknitterten Schirm. Die Lampe hatte keinen Schalter, man mußte, um sie auszumachen, den Stecker herausziehen. Ich entdeckte aber, daß die Lampe auch ausging, wenn ich gegen den Messingfuß stieß, offenbar war da ein Wackelkontakt.
Ich dachte jedoch nicht daran, die Lampe auszumachen. Ich ließ sie brennen für den Fall, daß sich Spinnen von der Decke zu mir abseilten. Dann konnte ich sie sehen und gnadenlos vernichten.
Da lag ich nun, stocksteif und alle Nerven bis zum Zerreißen gespannt. Lange lag ich so. Draußen in den Bäumen rauschte es, endlich kam das erste Licht des Morgens, und die Vögel fingen zögernd an zu zwitschern. Plötzlich hörte ich Schritte auf dem Kieshof. Langsam und schleppend kamen sie näher, bis zu meinem Fenster, da verstummten sie. Mein Herz klopfte. Ich hörte auf zu atmen und starrte hinüber zum Fenster in der Erwartung, daß gleich ein Gesicht in dem Spalt zwischen Fenstersims und Gardine auftauchte.
Aber es tauchte kein Gesicht auf, zum Glück, denn das hätte ich nicht überlebt. Die Schritte auf dem Kies waren erneut zu hören, aber nach einigen Minuten war dann alles still.
Ich fing wieder zu atmen an, mein Herz klopfte weiter wie wild. Dann bin ich vermutlich eingeschlafen und erwachte wie vorausgesehen von dem Stuhl an der Tür, der umfiel.
„Hilfe!“ schrie ich gellend.
Schließlich begriff ich, daß es Papa war, der da stand und den Stuhl aufstellte, um hereinkommen zu können.
„Was ist denn mit dir los?“ fragte er beunruhigt.
„Ich ... ich habe wahrscheinlich geträumt“, stieß ich hervor.
„Hast du Angst gehabt in der Dunkelheit?“ fragte er und setzte sich auf die Bettkante.
„Nein, überhaupt nicht“, antwortete ich. Ich konnte doch nicht zugeben, wie fürchterlich die Nacht gewesen war.
„Ich wunderte mich nur ... Der Stuhl und die brennende Lampe ... und dein Angstschrei, als ich hereinkam.“
„Ich habe geträumt, das sagte ich doch. Und gestern bin ich sicher eingeschlafen, ohne das Licht auszumachen. Es besteht kein Grund, hier Angst im Dunkeln zu haben!“
„Nein, natürlich nicht. Wenn du aber willst, hat dein Bett leicht Platz drinnen bei uns.“
„Keine Angst, Papa, Eva schafft alles“, sagte ich so überzeugend wie möglich und gab ihm einen Schmatz auf die Backe.
„Daran zweifle ich nicht. Du, wir frühstücken draußen, das Wetter ist herrlich. Komm, wenn du fertig bist.“
Er stand auf und ging zur Tür. Beim Stuhl blieb er stehen und schaute erst ihn und dann mich an, bevor er den Raum verließ.
Ich verließ sofort mein Bett und machte mich barfuß und im Nachthemd auf den Weg. Der Steinboden im Gang war eiskalt, und ich lief rasch durch die große Halle, um nicht zu erfrieren.
Als ich ins Freie kam, schlug mir die Sommerwärme entgegen, es war, als käme man in eine andere Welt, aus der Welt des kalten Grauens hinter Steinmauern in die helle, warme Welt des Sommers.
Cilla und Oskar hatten auf einem Gartentisch das Frühstück gedeckt, der Tisch stand in einer ungemähten Wiese, das Gras war noch feucht vom Tau, und es war ein wunderbares Gefühl, die nassen Halme zwischen den Zehen zu spüren.
Während wir frühstückten, kam Graf Olsson anspaziert. Er trug einen weißen Anzug mit Strohhut. An einer langen Leine zog er ein großes, graubraunes Etwas hinter sich her. Von weitem sah es aus wie ein zottiger Bär oder ein Knäuel fleißig benutzter Putzwolle. Es bewegte sich unglaublich langsam vorwärts, und erst nach einer Viertelstunde erreichte der alte Mann unseren Tisch.
Er nahm den Strohhut ab und wünschte uns einen guten Morgen.
Kerstin, Oskar und ich starrten fasziniert auf das unförmige Etwas am anderen Ende der Leine. Als der Graf beim Gartentisch stehenblieb, hörte man ein Ächzen aus dem dichten Knäuel, das sich nun als Hund entpuppte.
„Ja, hier geht es euch gut“, stellte der Graf befriedigt fest. Er kicherte. „Ihr braucht keine Angst vor Lady zu haben, sie tut euch nichts. Wie ich sehe, interessiert ihr euch für sie.“
„Was ist das für eine Art ...?“ fragte ich vorsichtig. Ich wagte nicht zu fragen, was für eine Art Hund das sei, denn wer weiß, ob es ein Hund war.
„Es ist ein Grand Danois“, antwortete der Graf.
„Ein Grand Danois!“ rief ich überrascht. „Aber die sehen doch ganz anders aus! Größer und nicht so zottig!“
„Lady ist ein Grand Danois, und sie ist von edler Abstammung. Sie ist jetzt alt, aber ihr hättet sie in ihren jungen Tagen sehen sollen! Sie sieht vielleicht nicht wie ein normaler Grand Danois aus, aber bei allen Rassen gibt es verschiedene Arten, das ist nichts Besonderes. Wir Menschen sind auch nicht alle gleich. Einige sind weiß, andere schwarz, rot oder gelb!“ Er beugte sich hinunter und kraulte das eine Ende des Tieres.
„Darf ich etwas fragen?“ sagte Oskar und blickte den alten Herrn an.
„Gewiß, frag nur, ich habe auf alles eine Antwort“, sagte der Graf. Ich glaubte ihm das sofort.
„Heißt du Graf mit Vornamen oder nicht?“ fragte Oskar direkt.
„Ja, ich heiße Graf. Mein Name ist Graf Olsson.“
Kerstin warf mir einen langen, triumphierenden Blick zu. Sie genoß ihren Sieg in vollen Zügen.
„Ach so, hm, das ist doch etwas ungewöhnlich, ein Titel als Vorname. Du mußt dem Jungen verzeihen, daß er so neugierig ist“, sagte Papa.
„Nicht schlimm“, antwortete der alte Herr. „Es ist nämlich so, daß einige meiner Vorfahren, die hier in diesem Schloß lebten, adlig waren. Ich bin durch eine Seitenlinie mit ihnen verbunden. Meine Mutter war zwar eine einfache Arbeiterfrau, stammte aber aus adliger Familie. Und als ich getauft wurde, gab sie als Vornamen Graf an, um so den verlorenen Titel in gewisser Weise zurückzuholen. Der Pastor weigerte sich zuerst, aber meine Mutter blieb fest. Endlich gab der Pastor nach und ließ meiner Mutter ihren Willen. Diese Frau besaß echte Autorität. So nennt mich jeder Graf, und das könnt ihr auch tun. Übrigens, habt ihr Lust, heute nachmittag das Schloß zu besichtigen?“
„Ja, gern“, sagte Papa. „Ihr geht doch auch mit, Kinder?“
Wir murmelten etwas, das Papa als „ja“ verstand, und er sagte zum Graf, daß wir alle mitkämen.
„Na, Lady, wollen wir weitergehen?“ sagte der Graf zu dem Wollknäuel. Das Tier rührte sich nicht. Der alte Herr beugte sich zu seinem Grand Danois hinunter, hob den Teil, in dem die Leine verschwand, vorsichtig an, machte dasselbe mit dem rückwärtigen Teil, und sachte setzte sich das merkwürdige Etwas in Bewegung. Es setzte sich in Bewegung, sagte ich, denn Beine oder andere Körperteile waren kaum erkennbar.
Der Platz, auf dem wir saßen, war eher eine Wiese als ein Rasen, aber wahrscheinlich war hier früher einmal Rasen gewesen. Schloß Sellerup mit all seinen Wirtschaftsgebäuden, mit den hohen Mauern und dem, was einmal ein Park war, machte einen verfallenen Eindruck. Aber trotzdem gefiel es uns, es war richtig verwunschen. Eingestürzte Dächer, zerbrochene Fensterscheiben, abgefallener Putz, und überall waren Unkraut und wildes Gesträuch.
Der Graf und sein Hund paßten in diese Umgebung. Am Abend zuvor war es dunkel gewesen, wir hatten nicht so genau erkennen können, wie der alte Herr aussah; aber jetzt im hellen Sonnenlicht sahen wir die Flecken auf seinem abgetragenen Sakko, das Loch in dem uralten Strohhut, den Kautabakrand im Mundwinkel, die abgetragene Hose und das Fehlen des Schnürsenkels in einem Schuh.
„Ein merkwürdiger Mensch!“ rief Cilla, als der Graf außer Hörweite war.
„Früher einmal war es vermutlich sehr schön hier“, sagte Papa. „Stellt euch vor, ein gepflegter Rasen, blühende Rabatten, der Garten voll der schönsten Blumen, Springbrunnen mit großen Fontänen, das Schloß in gutem Zustand, man spielte Crocket, und Kinder in Matrosenanzügen und weißen Kleidern spielten mit Ball und Reifen. Reizende Dienstmädchen servierten den Herren im Pavillon unten am Schloßgraben Schwedenpunsch, und man spazierte mit Sonnenschirm und Spazierstock, umgeben von Dienern, die sich um alles kümmerten. Stellt euch das mal vor, wenn ihr könnt. Ich hätte gern damals gelebt und das alles genossen!“
„Hättest du da einen Strohhut aufgehabt?“ fragte Cilla.
„Selbstverständlich. Und einen schneeweißen Anzug mit Weste.“ Papas Gesichtsausdruck verklärte sich.
„Also nicht so schlampig wie der Graf?“ sagte ich unbarmherzig, um meinen Vater wieder in die Wirklichkeit zu holen.
„Habt ihr übrigens den Schmuck gesehen, den die Gräfin gestern abend trug? Der muß doch eine Menge Geld wert sein?“ überlegte mein Vater, der manchmal wirklich naiv war.
„Zweiundzwanzig Kronen“, sagte Kerstin.
„Was hast du gesagt?“
„Zweiundzwanzig Kronen kostet die Halskette, die sie trug. So eine habe ich neulich im Kaufhaus gesehen. Halskette, Armband und Ohrringe waren für fünfzig Kronen angeboten. Das hat sie gekauft.“
„Warum auch nicht?“ meinte Cilla.