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ОглавлениеKapitel IV
Tassilos Pfalz in Regensburg, Mai 787
Der Innenhof des herzoglichen Palas in Regensburg war ein belebter Platz an jenem Sonntag. Zwei Äbte waren geweiht und ein Vasall mit Grenzgauen in Tirol belehnt worden. Weit mehr als hundert Menschen füllten den Hof der Regensburger Pfalz: Vasallen und herzogliche Bedienstete, Legaten anderer Mächte, Handelsfürsten aus Regensburg selbst und die üblichen Krümelpicker, die sich bei solchen Anlässen dazu schlichen.
Das Herzogspaar saß mit den Edlen an einer breiten Tafel unter einem Baldachin vor dem Portal des Palas. Das Segeltuch dämpfte nicht nur das Sonnenlicht, sondern hielt den Dreck vieler Hundertschaften von Staren ab, die über dem Hof kreisten. Die Edlen blickten von ihren Sitzen auf den mit Marmor eingefassten Brunnen im Pfalzhof, aus dem ein Wasserspiel aufragte: ein bronzener Wolf und eine Tierfigur mit Mähne und großen Pranken, die man den Löwen nannte, spuckten Wasser in das Becken. Auf dem kleinen Feld zwischen Baldachin und Brunnen ließ ein Gaukler einen Zwergesel im Kreis reiten, zwei Äffchen vollführten Sprünge auf dem Esel. Fröhliches Gelächter erscholl von der Tafel her, als die Affen mit Stöcken auf den Esel einschlugen und sich dann gegenseitig traktierten.
Die Edlen klatschten in fettige Hände und tauchten sie wieder in die Donaukarpfen, die mit Krebsen und Störeiern gefüllt waren. Jenseits des Brunnens füllten in der Mitte des Hofes junge Pfalzknechte Wein in die Becher der niederen Vasallen. Sie saßen auf schlichten Bänken und schauten teils den Gauklern zu, teils verfolgten sie die Schaukämpfe im oberen Bereich des Hofes am Fuß des großen Turms. Niemand schien die beiden Gestalten im Schatten eines schmalen Durchgangs zu beachten: eine Frau im hellblauen Kleid mit weiten Ärmeln, die Haare zu straffen Zopfketten hinter dem Kopf gesteckt, und ein hochgewachsener, schlanker Mann ohne Waffen, dessen Gesicht von einer Kapuze halb verdeckt war.
»Neben dem Herzogspaar sitzen die alten Geschlechter«, raunte sie. »Die Huosi, Fagana und Hahilinga2 …«
Ihr Zuhörer machte ein kehliges Geräusch. »Ich kenne die Namen. Wie viele gepanzerte Reiter bringen sie zusammen?«
Überrascht sah sie ihn an – sein Gesicht war völlig glattrasiert, ein Jünglings-Antlitz mit ernsten Augen, die irgendwie alt wirkten. »Viele«, sagte sie verlegen, denn sie hatte von Militärischem nur eine vage Ahnung.
Er verzog das Gesicht. »Sprecht mich mit ›Herr‹ an, Gertrud.«
»Natürlich, Herr.« Eine Pause entstand. »Die meisten Bischöfe und Äbte kommen aus den alten Familien …«
»Erzählt mir nur Nützliches«, unterbrach er sie. »Wer gilt als stärkster Heerführer?«
»Das ist Graf Fago«, sagte sie, erleichtert, dies beantworten zu können. »Er hat den Angriff der Franken und Langobarden auf die Pässe in Tirol zurückgeschlagen, letztes Jahr.« Sie beschrieb seine Position an der Herzogstafel, und ihr Begleiter schien den massiven, grauhaarigen Mann mit dem sonnenverbrannten Gesicht zu studieren. Das scheppernde Lachen des Grafen war sogar über dem Lärm der anderen zu hören. Dann ertönte das Klirren von Metall auf Stein vom unteren Ende des Hofes. Ein Schaukampf war im Gange, bei dem ein athletischer Krieger mit zwei Schwertern drei Speerkämpfer auf Abstand hielt.
»Der Kerl in dunklem Leder mit den zwei Klingen – wer ist das?«
Sie räusperte sich. »›Sänger‹ nennt man ihn. Sein richtiger Name ist Uto, herzogliches Blut fließt in seinen Adern.«
»Ein Bastard, was?« Beeindruckt verfolgte der Fremde die Fechtkünste des Sängers, der einem der Gegner das Wams aufschlitzte. Ein Schmerzensschrei ertönte. Der Fremde schwieg eine Weile; dann: »Leutberga sieht aus wie eine Königin. Aber der Herzog … Jeder Feldherr in Byzanz trägt mehr Gold und Ornat als er!«
Gertrud zog es vor, zu schweigen. Tassilo war ein bullig wirkender Mann mit kurzem Hals, der selbst im Sitzen etwas Stiernackiges hatte; ein dünner Umhang hing über seine Schultern, als einziger Schmuck prangte die goldene Herzogskette auf seiner blauen Tunika. Die kräftigen Brauen wirkten fast wie ein durchgehender Strich, ein dunkler, drei Zoll langer Bart überwucherte das Kinn.
Seine Gattin neben ihm erstrahlte geradezu in heller Seide, die Schultern waren von einer Art goldenem Gewebe bedeckt und ein mit Brillanten geschmücktes Diadem zog die Blicke von Männern und Frauen an.
»Ihr habt am Kaiserhof in Byzanz gelebt, Herr«, sagte sie endlich. »Die Griechen3 neigen zum Prunken, nicht wahr?«
»Prunk? Ich nenne es Großzügigkeit. Sie haben meiner Mutter Kleider gegeben, mit denen sie ihren Rang zeigen konnte – eine Königin auf der Flucht.« Ein bitterer Unterton begleitete diese Worte.
Wieder überlegte sie, wie alt er sein konnte. Zwanzig, fünfundzwanzig? »Ist Eure Mutter in Byzanz zurückgeblieben, Herr?«
»Sie ist tot.« Sein Blick züchtigte sie. »Hat die Herzogin Euch das nicht erzählt? Ich dachte, Ihr seid ihre Kammerfrau?«
»Das bin ich, Herr«, sagte sie und beschloss, dass sie diesen Menschen niemals mögen würde. Trotzig schob sie nach, dass er auch ihr vertrauen könne.
»Seid nicht albern«, sagte er grob. »Ein Königssohn ohne Thron und Titel kann niemandem vertrauen!«
Sie spürte Blut in die Wangen steigen. »Und warum seid Ihr dann überhaupt hier, Herr?«
Er schob die Kapuze vom Kopf. Seidenglattes, fast schwarzes Haar kam zum Vorschein, das locker über die Ohren fiel. »Weil ich auf die Gerechtigkeit Gottes hoffe! Mir gebührt der Thron des Frankenreiches, mir gebührt alles, was dieser Mörder Carolus Rex angehäuft hat!«
Sie spürte etwas wie Angst, als diese Worte fielen. Doch die Ankunft von drei Reitern lenkte ihre Aufmerksamkeit ab. Der vorderste von ihnen, ein sehniger Mann im Kettenhemd, der den Schmutz eines längeren Ritts im Gesicht trug, sprang aus dem Sattel und näherte sich der Tafel des Herzogs als gehörte er hierher. Und doch wusste Gertrud, dass dem nicht so war, denn sie hatte ein Gedächtnis für Gesichter. Ein kurzer Wortwechsel des Hageren mit einigen Wachen zehn Schritt vor dem Baldachin folgte.
»Wer ist das?«, raunte der Mann aus Byzanz.
»Einer, Herr, der keine gute Nachricht bringt«, sagte sie nur.
* * *
Bewaffnete führten den Besucher steinerne Stufen hinauf, die zu einer Halle führten. Quer am Kopfende stand ein erhöhter, mit Elfenbein und dunklem Holz geschmückter Sitz mit hoher Rückenlehne, breit genug für zwei Menschen. Den oberen Abschluss der Lehne bildeten kräftig geschwungene goldene Doppelhörner, die wie der Kopfschmuck eines Steinbocks aussahen. Unterhalb des Throns füllte eine Tafel aus rohen Holzplanken die Mitte des Saals aus. Mächtige Feuerstellen mit rußgeschwärzten Steinquadern in den Wänden kündeten von kalten Wintern.
Zwei Diener schleppten ein Dreibein und eine Wasserschüssel herbei. Der Mann im Kettenpanzer klatschte sich Wasser ins Gesicht und wusch sich gründlich Hände und Unterarme.
»Was zum Teufel …?!«, stieß er beim Abtrocknen aus, als er den hölzernen Lindwurm bemerkte: Ein Ast so dick wie zwei Menschenleiber durchbrach die linke Wand in etwa zwölf Fuß Höhe, Querverästelungen und grünbraune Zweige füllten die Hälfte des Saalhimmels aus.
»Wir nennen diesen Ast Agilos Arm«, sagte Uto ohne Einleitung. Geräuschlos hatte er den Saal betreten, eine Hand lässig hinter den Gürtel gehakt. Der Fremde musterte ihn eher beiläufig. »Agilo, des Herzogs Urahn?«
Uto nickte, mit breitbeiniger Pose, eine Hand zwirbelte die Enden des langen Schnurrbarts. »Der Urgroßvater Tassilos, der Großvater seines Vaters Odilo. Solange dieser Baum wächst, gedeiht das Herzogtum, heißt es … Hat man Euch noch nie hier reingelassen?«
Die Dreistigkeit der Frage verunsicherte den Besucher. Schnell sah er sich in der Halle um. »Ihr habt einen forschen Ton, Mann«, knurrte er. »Nennt mir Euren Namen!«
»Uto«, sagte der andere mit derselben Herablassung wie zuvor. »Der Herzog ist mein Vater.«
In diesem Augenblick knarrten die Türflügel und der Bayernherzog Tassilo betrat den Thronsaal. Der Kopf auf dem kurzen Hals war ein wenig nach vorne geneigt, als würde der Herzog auf etwas vor seinen Füßen blicken. Tatsächlich trottete neben ihm ein dunkelbrauner Hund mit massiver Schulterpartie und kräftigem Gebiss, dessen Kopf mit kleineren und größeren Narben übersät war.
Tassilo rief den Dienern etwas zu und ließ sich ein paar Schritt neben dem Besucher auf einen Lehnstuhl vor einer Feuerstelle fallen. Er hob den Kopf und warf dem Gast einen kühlen Blick zu. Mit einer tiefen, befehlsgewohnten Stimme sagte er: »Es ist kühn von Euch, Adalung, hier unter den Augen aller reinzuplatzen.«
Der Angesprochene straffte sich. »Herzog …«, hob er an, doch Tassilo war noch nicht fertig: »Man könnte auch sagen: Es ist dumm!«
Adalung warf das Handtuch zu Boden und baute sich vor dem Herzog auf, mit Wangen, die rot anliefen. »Heil Eurem Herzogtum!«, stieß er aus. »Damals habt Ihr freundlicher zu uns gesprochen, als Ihr Waffenbrüder suchtet.«
Tassilo machte ein kehliges Geräusch, das den Hund ruckartig aufblicken ließ. Die ringbesetzte Rechte des Herzogs begann, den Hund an seiner Seite zu streicheln, ohne auch nur anzudeuten, dass Adalung sich setzen durfte. Dessen Hand ging plötzlich zum Schwertgriff. Fast geräuschlos kam die Klinge aus der Scheide. Ein scharfer Ruf hallte durch den Saal, dann war Uto schon neben dem Angreifer.
»Weg damit!«, zischte er, seine Klinge gegen Adalungs Hals gerichtet.
Doch trotz Utos Drohung senkte der Thüringer die Klinge nicht; braune Verfärbungen waren auf dem Stahl zu sehen. »Das ist das Blut König Karls, Herzog! Wäre Satan nicht auf seiner Seite … Wir haben es gewagt, beim Hoftag. Er entkam um Haaresbreite!«
»Beim Hoftag? Ihr Thüringer seid doch von Sinnen!«, schnaubte der Herzog, dann wurden seine Augen eng. »Werdet Ihr verfolgt?«
Nun erschien ein seltsam hochmütiger Ausdruck in Adalungs schmalem Gesicht. »Keine Angst, ich hab’ die Panzerreiter abgeschüttelt! Aber ich brauch’ neue Pferde und ein paar Kriegsknechte von Euch, die fechten können. – Himmel, habt Ihr nichts mehr zu trinken?«
Es war kein gutes Omen für Adalung, dass Uto nun das Wort an ihn richtete, in einer Art Murmelton. »Ihr Thüringer Helden … Mein Herr hat Euch Pferde gegeben und Silber, reichlich Silber, und jetzt kommt Ihr an und bettelt um mehr?«
* * *
Leutberga hatte die Ankunft Adalungs aus den Augenwinkeln verfolgt. Sie ahnte, was geschehen war. Sie war eine Frau mit Verständnis für den Lauf der Dinge. Gewiss, Politik galt als eine Sache der Männer. Aber sie war am Hof eines der mächtigsten Königreiche ihrer Zeit aufgewachsen. Mit männlichem Denken, mit männlichen Gelüsten war sie mehr als vertraut, denn sie hatte den Aufstieg und Untergang mächtiger Sippen von klein auf verfolgen können.
Dass Tassilo nicht gleich zurückkehrte, bestätigte ihre Befürchtung, dass etwas Ernstes passiert war. Ihr Blick streifte kurz ihren Sohn, Theodoso, der zwei Plätze neben ihr mit leicht vorgeneigtem Kopf und angestrengter Miene ein Gespräch mit einem der Bischöfe bestritt. Der Sechzehnjährige hatte denselben Wulst über den Augen wie der Vater, doch das überflaumte Kinn sah aus wie abgeschnitten. Es lechzte geradezu nach einem kräftigen Bart, der ihm eine männlichere Form geben würde.
Es war das fliehende Kinn von Leutbergas Mutter, das auf den Jungen gekommen war. Das Kinn, das sie täglich an das Schicksal der Langobardenkönigin erinnerte, die von Karl gut ein Dutzend Jahre zuvor entthront worden war. Die getrennt von ihrem Mann als Gefangene über die Alpen geführt worden und in einem Klostergefängnis verschwunden war, während Karl den Königspalast in Pavia entweiht und dessen Kostbarkeiten an seine Kriegsleute verschenkt hatte! Von billigen Versprechungen des Königs hingehalten, hatte Tassilo damals stillgehalten. Leutberga spürte den Schmerz darüber wie einen schlecht verheilten Knochenbruch: Sie hatte Tassilo seine Untätigkeit niemals wirklich verziehen. Wie auch?
Beunruhigt wandte sie den Kopf nach dem Eingang des Palas. Der Herzog blieb verschwunden. »Semper adhaeret suorum consuetudinem …« Der Bischof von Salzburg sprach Latein mit Theodoso, was dessen krampfigen Gesichtsausdruck erklärte. Leutbergas Hand berührte ein seidenes Beutelchen am Gürtel, in dem ein juwelenbesetzter Goldring steckte. Drei Jahre zuvor hatte eine Äbtissin und aus Bayern stammende Karlsdienerin dieses Lebenszeichen der Mutter aus dem Gefängnis herausgeschmuggelt. Wenn es denn ein Lebenszeichen war!
»Erzählt ihm von der Größe des Reiches meiner Eltern, Virgil«, warf sie dem Bischof hin. »Ich lasse Euch allein.« Der Kirchenfürst nickte, nicht ohne eine Braue hochzuziehen, denn dieser gewisse Unterton Leutbergas schien vor allem für ihn reserviert. Doch dann nahm sein hartes Gesicht mit der Adlernase wieder einen milderen Ausdruck an und er zitierte, einem Schulmeister gleich, den dritten Artikel der Gesetze der Bayern, damit der Junge ihn ins Volkssprachliche übersetzen konnte.
Leutberga stand auf und lief ohne weitere Worte auf die großen Torflügel des Palas zu. Prompt bemerkte Bischof Virgil, wie die anderen Gäste die Köpfe drehten. Tuscheln setzte ein.
Theodoso sah den Bischof erstaunt an. »Darf ich Euch etwas fragen, Euer Gnaden?«, sagte der Bursche dann mit einer Stimme, die etwas gequetscht klang. Virgil lächelte. »Gewiss doch, Herr Theodoso.«
»Stimmt es, dass Ihr Euren Bischofssitz nur der Fürsprache König Karls verdankt? Die Zofen meiner Mutter sagen das …« Virgils Miene veränderte sich nicht, aber seine Augen nahmen einen kalten Glanz an. »Und wäre das denn schlimm, junger Herr? Diene ich nicht der Ehre Gottes, des Allerhöchsten?«
Theodoso kniff kurz die Augen zusammen, als müsste er die Antwort abwägen. »Meine Mutter sagt, Euer Gnaden, dass man nicht beiden dienen kann: dem Allmächtigen und dem Frankenkönig. Weil er ein Bruder Satans ist … Verzeiht, hätte ich das nicht sagen sollen?«
* * *
In der Thronhalle sah sie Adalung, bewacht von mehreren Bewaffneten, unter dem Astdurchbruch mit einem Krug und einem Laib Brot. Rechts, am anderen Ende der Halle, saß Tassilo in einer Wandnische im Zwiegespräch mit Uto. Gleichzeitig warf der Herzog dem Hund Happen hin, die dieser mit schnellen Kopfbewegungen aufschnappte. Als Leutberga näherkam, sprang der Hund auf.
»Ist es geschehen, Herr?«, fragte sie ohne Umschweife. »Hat Hardrad gegen Karl rebelliert?«
Der Herzog sah auf. »Die Haut haben sie ihm geritzt, mehr nicht«, grollte er. »Beim Hoftag, vor aller Augen!« Seine Augen waren blutunterlaufen, die Tränensäcke größer geworden, Folge des ewigen Weins und einer Geißel namens Schlaflosigkeit. »Adalung sagt, er ist Karls Kriegern entkommen«, stieß Tassilo aus. »Aber wenn sie noch hinter ihm her sind, klopfen sie bald ans Tor.«
Sie zwang den Hund zur Seite und legte Tassilo eine Hand auf die Schulter. Ihren schnellen Seitenblick auf Uto konnte der Herzog nicht wahrnehmen. »Dann geschieht jetzt, was geschehen soll, Herr. Ihr wart nicht in Worms, als einziger der Großen. Karl wird beides miteinander in Verbindung bringen. Er kann gar nicht anders, dieser Wolf !«
»Aber wir sind nicht bereit, Weib!« Er sah zu ihr auf und sie merkte, wie er das Diadem auf ihrer Stirn musterte, als verberge es eine Botschaft. Vom unteren Rand des goldenen Reifs fiel ein schmaler Vorhang mit Goldfäden bis zu den Augenbrauen. »Hardrad sollte vor dem ersten Schnee losschlagen, wenn die Franken keine Reiterarmee mehr ins Feld führen können«, sagte Tassilo grimmig. »Jetzt muss sich der Narr verschanzen und wir müssen unsere Vasallen erst zusammenrufen.«
Leutbergas linke Hand griff nach dem Rosenkranz aus Bernsteinperlen, der hinter ihrem Gürtel klemmte. Sie gab ihrer Stimme die ganze Festigkeit, zu der sie fähig war. »Umso mehr Zeit, Herr, haben wir für die Einberufung einer Synode! Wir führen Karlmanns Sohn den Bischöfen und Edlen vor. Wir lassen sie erkennen, dass ihr Carolus Rex nur ein gewöhnlicher Mörder ist, der seinen Bruder hat umbringen lassen. Wer wird ihm dann noch folgen? Er wird am Ende von seinem Thron stürzen, ohne dass wir mehr als einen kleinen Stoß gegeben haben!«
Tassilo machte einen Grunzlaut und nickte, als wollte er daran glauben. »Karlmanns Sohn sieht Karl sogar ähnlich … der Neffe dem Onkel, das sollte helfen.« Sie sah die Zuversicht in seine Züge zurückkehren. Er stand auf, geschwinder und agiler, als man es hätte vermuten können. Sein Kuss kam unbeholfen, grob, der Bart kratzte über ihr Kinn – sie waren fast gleichgroß. »Ihr seid Euch sehr sicher, Königstochter«, sagte er langsam, in ihre Augen blickend. »Eure Eltern waren sich auch einmal sicher, als sie sich mit Karl einließen.«
»Sie ließen ihn angreifen«, antwortete sie mit belegter Stimme. »Das war ihr Fehler. Wir aber kommen ihm zuvor!«
* * *
Als die Herzogin wieder in den Hof zurückkehrte, blieb Tassilo noch einen Augenblick zurück. Uto, der mit respektvollem Abstand auf dem Gang gewartet hatte, fing den Blick seines Herrn auf. »Was soll mit Adalung geschehen, Herr?«
Der Herzog starrte ihn an. »Mit dem Bart seht Ihr wie ein Aware aus, wisst Ihr das?« Utos Augen wurden schmal, er presste die Lippen zusammen. Tassilo stellte befriedigt fest, dass seine Worte getroffen hatten. Die Barttracht Utos war ihm gleichgültig, doch er mochte es nicht, wenn ein unehelicher Sohn, Ergebnis einer hitzigen Nacht, sich wie ein Thronfolger aufspielte.
Mühsam räusperte sich der Jüngere, und seine Hände fummelten am Waffengürtel herum. »Herr? Was wollt Ihr mit ihm machen?«
Tassilo sah auf den Hund hinab. »Adalung kann uns nur noch schaden, nicht wahr, Wolfbiz?« Das Tier hörte etwas in der Stimme seines Herrn und richtete sich knurrend an Tassilo auf. Grinsend stieß ihm Tassilo den linken Unterarm zwischen die Kiefer. Der Arm war an dieser Stelle durch eine dicke Lederschicht geschützt. »Gebt Adalung einen kalten Ausgang!«
»Ja, Herr«, antwortete Uto ohne zu zögern. Selbstsicherheit war in seine Miene zurückgekehrt. »Darf ich Wolfbiz mitnehmen?«
Tassilo nickte huldvoll. »Reinigt ihn danach, hört Ihr? Ich will kein blutiges Vieh in meiner Halle herumlaufen sehen!«
2 Für die historisch Interessierten: In der Lex Baiuvariorum, den im 7. Jahrhundert niedergelegten Gesetzen der Bayern also, sind die sechs ältesten bzw. mächtigsten Familien namentlich aufgeführt.
3 Byzanz, der Nachfolgestaat Ost-Roms, gehörte zum griechischen Kulturraum.