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Unauslotbare Tiefen

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Die zurückliegende Episode war die bisher aufregendste meines Lebens gewesen – meines jungen, den Meereswissenschaften gewidmeten Lebens –, und durch die Rekonstruktion der jüngsten Ereignisse versuche ich, jene Verstandesklarheit wiederzuerlangen, die in solch einer unerwarteten Notsituation unabdingbar ist. Mein Zeitgefühl habe ich wohl im Zuge des Auftauchmanövers eingebüßt, und so gehe ich davon aus, vor wenigen Stunden aus einer dumpfen Bewusstlosigkeit erwacht zu sein. Ja, ich kam zum mir, gehüllt in Finsternis – Finsternis und Stille.

Der Aufprall auf die scharfkantige Felswand hatte die Hülle meines Tiefseetauchbootes mit der Bezeichnung FNRS-5 stark beschädigt, die Außenbeleuchtung war nicht zu reaktivieren und lediglich einige Kontrollleuchten zeugten von der Betriebsbereitschaft des hochmodernen Bordcomputers. Seit Wochen hatte Capitaine Dubais die Crew auf diesen besonderen Tauchgang vorbereitet – und dann, als es so weit war, bedurfte es bloß einer geringen Unvorhersehbarkeit …

Die aus Stiftungsgeldern finanzierte Forschungsmission musste definitiv als gescheitert betrachtet werden, denn ich saß gefangen, bangend, ob der steinige Grund unter mir alsbald weiter nachgeben und mich in nie geschaute Tiefen hinabreißen würde. Kurz bevor mein Tauchboot mit einem nicht näher definierbaren Objekt kollidierte, hatte ich die Ausläufer eines enormen Tiefseegebirges in den Lichtkegeln der Suchscheinwerfer gesichtet. Dann gab es einen plötzlichen Ruck, gefolgt von einer starken Strömung; ein Schlag von Metall auf unterseeisches Gestein, und bald darauf erwachte ich aus erwähnter Bewusstlosigkeit.

Die Unterseite des Tauchbootes ward gefährlich zerbeult, fast durchschlagen, die daran installierten Scheinwerfer zermalmt, der Hauptrotor irreparabel beschädigt, das Greifer-Paar und die kleineren, an der Oberseite des Schiffs angebrachten Lichtquellen befanden sich ebenfalls außer Betrieb. Der intakte Bordcomputer hüllte das Innere meines kalten, potentiellen Sarges in einen absonderlichen Grünspanglanz und beschwor so, gespeist vom unruhigen Flackern vereinzelt aufleuchtender Digitalanzeigen, eine gespenstische Atmosphäre, die in ihrer subtilen Bedrohlichkeit bloß noch von der puren Dunkelheit übertroffen wurde, in der sich meine adrenalingepeitschten Blicke suchend verloren.

Das Einzige, dem ich außerhalb des gestrandeten Gefährts gewahr wurde, war ein eigenartiges Glimmen, ein Leuchten aus schätzungsweise zwei Seemeilen Entfernung; sehr wahrscheinlich von ebenjener Stelle ausgehend, an der ich kurz vor dem Absinken den unterseeischen Gebirgszug ausgemacht hatte. Von Zeit zu Zeit erschienen, an einen grell glühenden Faden erinnernd, rot-blau leuchtende Umrisse in der Dunkelheit. Entweder drangen sie aus einer der vermutlich unzähligen, das maritime Massiv durchziehenden Höhlen, oder schoben sich wie das Haupt einer sagenhaften Seeschlange von unrealistischer Größe über dessen Kamm. Es war schier unmöglich, die genauen Maße der Erscheinung abzuschätzen, und ich gab mich mit der Idee zufrieden, es handele sich um einen enormen Zusammenschluss biolumineszenter Polychaeta oder um eine Kolonie von Riftia pachyptila, wie sie in den Tiefen des Hadopelagials möglicherweise noch vorkommen mochte; derweil außer Frage stand, dass jenes nicht exakt zu klassifizierende Etwas das Felsmassiv voraus bewohnte respektive bewuchs … Ja, und offensichtlich von einer Meeresströmung hin und her bewegt wurde. Wie auch immer, diese Ansicht trug nicht zu meiner Beruhigung bei, au contraire. Wie jeder Tiefseeforscher kannte ich natürlich die Geschichten von Jules Verne und die kryptozoologischen Theorien, welche Poseidons Reich mit ebenso mysteriösen wie schrecklichen Kreaturen zu bevölkern wussten. Doch bin ich Wissenschaftler und in den all den Jahren meiner Studien ist mir nichts unter die Augen gekommen, dass solch kindlichen Annahmen irgendeine Bestätigung geliefert hätte.

Dennoch, dass Ambiente, jene manifeste Dunkelheit und die Manöver der leuchtenden Lebensform behagten mir ganz und gar nicht.

Immerhin, und gottlob, war die massive Frontscheibe unversehrt geblieben, und über den Bordcomputer gelang es mir schließlich, einen Funkspruch abzusetzen. Ich wiederholte den Vorgang dreimal, wissend, dass der Faktor Zeit nicht auf meiner Seite war. Wie lange die Hülle unter den erlittenen Beschädigungen noch intakt bleiben würde, konnte nicht klar kalkuliert werden; ein Umstand, der zur Eile mahnte. Die Funksprüche wurden indes nicht erwidert, und mit Ausnahme eines repetitiven Rauschens, das von Zeit zu Zeit von einem hochfrequenten Pfeifen überlagert wurde, vermochte die Empfangsanlage keinerlei Frequenzen zu empfangen. Diese neuerliche Sonderbarkeit strapazierte meine Nerven, und mit zitternden Händen versuchte ich, anhand der eingebauten Peilvorrichtung die Koordinaten unseres Forschungsschiffs, der Astéries, zu ermitteln. Sie würden meinem Versuch aufzutauchen eine genaue Richtung geben; sollte die an das Tauchboot gekoppelte Rettungskapsel noch funktionstüchtig sein, wohlgemerkt. Offensichtlich war aber auch diese Vorrichtung defekt, denn laut Bordcomputer befand sich das Schiff unweit meines havarierten Gefährts, wenn auch etwas weiter östlich, in Richtung des Gebirgszugs.

Alle Möglichkeiten waren ausgeschöpft, ich wusste, dass die Luft zuneige ging, und der Fakt, dass sich die Sauerstoffanzeige während der letzten zwanzig Minuten nicht bewegt hatte, vermehrte in mir das Gefühl notwendiger Eile. Doch einen Moment verharrte ich noch vor dem stabilen Rundfenster, das mich von der abyssalen Finsterkeit trennte. Ich ertappte mich erneut, wie ich jenes sich in relativer Ferne windende, gespenstisch glimmende Phantom gebannt beobachtete. Soeben war es ein weiteres Mal hervorgekommen, um sich von einer unbekannten Kraft beseelt, einem imaginierten kolossalen Borstenwurm verwandt, in der Lichtlosigkeit hin und her, auf und ab zu bewegen – hypnotisierend. Seine Umrisse wurden durch das changieren rot-blauer Farbtöne definiert, und mir drängte sich der entmutigende Irrsinnsgedanke auf, es könnte sich bei diesem Ding um den Arm einer bedeutend größeren Lebensform handeln, die möglicherweise hinter der Gebirgswand versteckt lag. Sollte der geplante Ausstieg und meine Rückkehr an die Oberfläche gelingen, so würde ein weiterer Tauchgang zu dieser Stelle vielversprechend sein. Vielleicht würden wir auf eine weitere Art Siboglinidae oder eine gar unentdeckte Spezies stoßen. Dann sollte es an mir sein, sie zu benennen, zu studieren. In jüngster Zeit waren viele neue Arten in den spärlich erforschten Tiefen der Weltmeere entdeckt worden, und mir wurde in jenem Moment ein weiteres Mal bewusst, wie gering doch eigentlich unsere den eigenen Planeten betreffenden Kenntnisse waren. Ehrlich gesagt wäre es mir angenehmer gewesen, vollkommen allein in der ohnehin nervenstrapazierenden Dunkelheit des Abgrunds zu sein. Auch wenn ich durchaus eine wissenschaftliche Vorstellung davon besaß, so konnte ich doch nicht vollends sicher sein, welche Geschöpfe den Tiefseegraben um mich herum durchziehen würden, und so trug der Umstand, dass ich das ferne Leuchten nicht zu klassifizieren vermochte, auf eine zwar subtile, aber durchaus spürbare Weise zu meinem situationsbedingten Unbehagen bei.

Ganz gewiss war bereits zu viel Zeit vergangen, ich musste nun definitiv von Bord gehen. Also begab ich mich nach achtern und spähte abermals über die Schulter, hoffend, dass sich das namenlose Etwas wieder hinter den Felsvorsprung oder in seine vermeintliche Höhle zurückziehen würde. Die Kontrollanzeige neben dem Notfallmodul gab dessen vorschriftsmäßigen Zustand zu erkennen. Dem vertrauend betätigte ich den Hebel, der die Luke zur Rettungskapsel entriegelte. Ein letzter Blick in jene unvergängliche pazifische Nacht …

Nun war nichts Merkwürdiges mehr zu erkennen. Flüchtig spürte ich eine vage Erleichterung, denn es schien tatsächlich so, als sei die biolumineszente Ballung fremden Lebens gewichen. Ein Zeitfenster, das ich nutzen musste! Prinzipiell würde ich weit genug entfernt von dem Ursprung des geisterhaften Leuchtens aufsteigen, und schließlich kletterte ich in die elliptisch geformte Rettungskapsel. Auf einer schmalen Bank fand ich in der von einem massiven Stahlrahmen durchzogenen Glaskonstruktion Platz, die einen den Umständen entsprechend guten Ausblick garantierte – auf den es mir beileibe nicht ankam. Ungeachtet dessen, welche Albtrauminspirationen mich in der Kälte des Abyss womöglich umgeben mochten, schloss ich die Luke und hielt den roten Knopf im Inneren des Rettungsmoduls drei Sekunden lang gedrückt; so vorgehend, wie ich es im Zuge der Notfallübung vor zwei Monaten gelernt hatte. Zuerst geschah nichts, dann gab es einen kurzen heftigen Ruck und die Rettungskapsel löste sich geschmeidig von dem Wrack des einst so vielversprechenden Tiefseetauchbootes.

Dass mein Notfallgefährt über vier Scheinwerfer verfügte, die sodann automatisch eingeschaltet wurden, erschrak mich enorm, und ich bemerkte, wie tief sich die Furcht vor dem vermeintlich intelligenten Bewohner des gegenüberliegenden Gebirges bereits in die Schichten meines Unterbewusstseins eingegraben haben musste. Was auch immer dort draußen existierte, es würde nun auf mich aufmerksam werden …

Erfreulicherweise dauerte es bloß wenige Augenblicke, bis mein rationales wissenschaftliches Denken abermals dominierte. Sicher, die scheuen Bewohner der Tiefe würden das für sie so unvertraute künstliche Licht fürchten, es bestand daher nicht der geringste Grund zur Sorge, und vermutlich war einzig das hinter mir liegende Unglück für die Häufung angstvoller Empfindungen verantwortlich. So dachte ich darüber nach wie ähnlich sich doch ein Astronaut auf einem Flug durch die Weiten des Weltenraums vorkommen musste. Dieses Szenario, aus dem ich wohl dank einer gehörigen Portion Glück entkommen war, war jedoch ein unbarmherziger Aspekt der unauslotbaren Tiefen unseres eigenen Heimatplaneten.

Die bloß noch spärlich flackernde Innenbeleuchtung des FNRS-5 erstarb in der Dunkelheit, als die Rettungskapsel dank des integrierten Flüssigkeitsgemischs langsam zu steigen begann. Ich bemerkte, wie ich instinktiv zur Seite spähte, um einen Blick auf das Felsmassiv zu werfen, doch träumte es ruhig, farblos, in subaquatische Finsternisschleier gehüllt.

Der Beginn des Aufstiegs verlief problemlos, und mit einem konstanten Rauschen näherte ich mich langsam der fernen Wasseroberfläche. Das Manöver musste etwas Zeit in Anspruch nehmen, immerhin würde ein zu rasches Auftauchen für einen Menschen nicht zu bewältigen sein. Ich stellte mich also darauf ein, noch etwas auszuharren, hoffend, möglichst nahe an jener Stelle an die Oberfläche zu gelangen, an der mich die Crew unter Bemühung der besten Seefahrersegen in die Tiefe hinabgelassen hatte. Als ich während des Tauchgangs zum letzten Mal den Tiefenmesser geprüft hatte, zeigte er ungefähr achttausend Meter an. Diese galt es nun also erneut zu überwinden, und mich überkam abermals ein mahnendes Gefühl ob der Verschiedenheit unserer alltäglichen Welt zu diesen unerschlossenen stygischen Räumen öliger Schwärze, die ich nun wie ein gleißend aufsteigender Stern langsam durchquerte.

Meine Gedanken trieben derweil in alle Richtungen davon. Immer wieder dachte ich an Florence und unser altmodisches Haus zwischen den weiten Lavendelfeldern der Heimat. Nach diesem Vorfall würde sie mir unentwegt in den Ohren liegen, aber die Erforschung der Meere war nun mal meine Passion. Capitaine Dubais, die Crew und nicht zuletzt die Stiftung versprachen sich so viel von den Möglichkeiten des hochmodernen FNRS-5 und von der Erkundung jener namenlosen Tiefen, in die es vorzudringen vermochte. Nach meiner Rettung würden wir daher erst einmal einen Plan ausarbeiten müssen, um das havarierte Tauchboot zu bergen. Langsam beruhigten sich meine Gedanken und ich bemerkte zufrieden, wie sich die Umgebung zu einem immer vertrauteren Bild mit bekannten Fischschwärmen, kleinen Cephalopoden, Algenarten, Korallen und bunt bewachsenen Felsformationen fügte; nicht mehr lange und ich würde die Wasseroberfläche durchstoßen.

Es war bereits Nacht, denn als ich himmelwärts blickte, erkannte ich das Licht des grellgelben Vollmondes das Meer diffus durchstrahlen. Jäh und schneller als erwartet, schoss meine Rettungskapsel zischend aus dem Wasser empor, um dann, nach Augenblicken unruhigen Schwankens, auf dessen Oberfläche zu treiben. In diesem Moment dankte ich dem Himmel.

Als ich jedoch umherspähte, sichtete ich zu meiner Überraschung weit und breit kein Schiff und auch keine Anzeichen irgendwelcher Aktivitäten. Das Mondlicht und die kraftvollen Lichtstrahlenbündel aus den Lampen der Rettungskapsel reflektierten sich lediglich auf einer großen Menge zersplitterter Planken und schwer definierbarer künstlicher Objekte. Mich beschlich die Angst, vom Kurs abgekommen zu sein, denn bereits eine minimale Richtungsänderung hätte dies zur Folge gehabt. Auch am sternenklaren Horizont machte ich keine Leuchtsignale oder irgendetwas aus, das auf die Anwesenheit der Kameraden hindeutete. Augenscheinlich war ich in einem verlassenen Wrackgut-Feld an die Oberfläche gekommen! Nicht für einen Wimpernschlag war ich bereit anzunehmen, dass es aus den Resten unseres Expeditionsschiffs bestand. Eine derartige Zerstörung wäre lediglich durch ein unvorhergesehenes Wetterphänomen oder den Einschlag eines Torpedos möglich gewesen, doch letzteres war schier absurd und fraglos hätte die hochseetaugliche Astéries den Unbilden eines spontanen Unwetters standgehalten.

All diese Gedankenfetzen und Erinnerungen gingen mir bis zu dem jetzigen Moment durch den Kopf. Die beschworene Verstandesklarheit hat sich nicht eingestellt …

Und ja, vorerst werde ich meine Rettungskapsel nicht verlassen, denn unter mir beginnt sich das Meer zu regen und Myriaden sprudelnder Luftblasen steigen ebenso rasant wie unheilverheißend aus der Tiefe empor; um mich herum wird die See von unwahrscheinlichen Schwingungen bewegt. Die Meeresoberfläche rührt sich, etwas naht, wie durch Poseidons Macht geweckt. Dann erscheint Licht aus der Tiefe, ein furchtbares Licht, in hypnotisch changierenden Nuancen von Rot und Blau, glimmend, blendend, irremachende Bahnen ziehend, die Konturen unzähliger zuckender, wild umherschlagender Fangarme bildend. Wie ein wimmelnder Schwarm vorsintflutlicher Abscheulichkeiten taucht es auf. Mein Gott, alle Annahmen über die Tiefe und ihre Bewohner müssen überdacht werden!

Wilde Schläge gegen die Unterseite der Rettungskapsel! Ich halte mir die Ohren krampfhaft zu und versuche vergebens, meine bebenden Blicke abzuwenden. Glas und Stahl scheinen mich soeben noch von jener Missgeburt wirbellosen Wahnsinns zu trennen, doch nun bemerke ich, wie die Kapsel hinabgezogen wird, gefangen in einem Mahlstrom aus unzähligen grell leuchtenden Tentakeln, den blasphemischen Fortsätzen glotzaugenübersäten Grauens. Begleitet von dem seelenschlachtenden Dröhnen und dem schändlich hochfrequenten Pfeifen aus des Cephalopodenurahns zahllosen geifernden Mäulern tauche ich wieder zurück, zurück in des gottlosen Abgrunds ewige Nacht – immer schneller, immer tiefer, ich kenne das Ziel. Bald schon werde ich das Bewusstsein verlieren und hoffentlich niemals mehr erwachen, um diese Gnade bitte ich!

Ein namenloser Schrecken …

Unser Schiff, die Crew …

Die leuchtenden Arme hinter dem Felsen …

Horrorgeschichten aus dem Abyss - Gesamtausgabe

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