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5. Fehlwahrnehmungen und ihre Konsequenzen
ОглавлениеJeder Mensch hat sich in seinem bisherigen Leben schon mindestens ein Mal verlaufen, verfahren oder verrechnet. Und jeder hat sich hinterher gefragt, wie ausgerechnet ihm das gerade passieren konnte.
Folgende Ursachen sind dabei immer wieder kehrend:
a) Man glaubt, mehr zu wissen als man tatsächlich weiß
b) Man missachtet sich verändernde Umgebungsfaktoren
c) Man ist zu stolz, nach dem Weg zu fragen
d) Man hat die Karte nicht eingenordet
e) Man hat keine Ausweichrouten recherchiert
f) Unzulässige Extrapolation
Fehlwahrnehmungen können durchaus unbeabsichtigterweise zu sehr produktiven Ergebnissen führen, allerdings ist dies in der Geschichte eher die seltenere Variante gewesen. Ein sehr prominentes Beispiel ist die „Entdeckung“ Amerikas durch Christoph Kolumbus, der bis zu seinem Tode der festen Auffassung war, in Indien gewesen zu sein. Dennoch war sein Irrtum für die spanische Volkswirtschaft höchst profitabel.
Dies, in Bezug auf die Entdeckung Amerikas, war dies allerdings nicht die erste Fehlwahrnehmung in der Geschichte gewesen. Um 1000 n. Chr. entdeckte Leif Eriksson die Ostküste von Kanada und nannte es Vinland. Die doppelte Fehlwahrnehmung, die einer dauerhaften Besiedlung entgegenstand, bestand darin, dass die Wikinger das nachbarschaftliche Verhältnis zu den Einheimischen zwei mal falsch einschätzten. Engere Nachbarschaft war etwas, was sie aus ihrer Herkunft im dünn besiedelten Norwegen oder Island nicht kannten und sie somit auch nie gelernt hatten, ihre unmittelbaren Nachbarn realistisch wahrzunehmen.
Freundschaftliche Gesten zu Anfang wurden in ihrer Wahrnehmung positiv überhöht, genau wie später entstandene Probleme und Konflikte in ihrer Wahrnehmung negativ überhöht wurden. Die Wikinger in Vinland befürchteten also eine rasch eintretende massive Eskalation und suchten schleunigst das Weite. Eine, so wie man die Wikinger heute wahrnimmt, untypische, weil eher als feige wahrgenommene Verhaltensweise. So viel zu unserer heutigen Fehlwahrnehmung der Wikinger.
Wären die Wikinger in Vinland geblieben, so hätten sie möglicherweise die Erfahrung gemacht, dass ihre Befürchtungen unbegründet waren. Die Indianer, wie sich auch in den USA im 18. und 19. Jahrhundert zeigte, waren eher darauf aus, im Einklang mit der Natur zu leben. Dieses beinhaltete auch, Einwanderer (solange diese nicht vollständig ihre Lebensgrundlage in Frage stellten) als Bestandteil ihres Lebensraums zu sehen. Da es den Wikingern, anders als später den Spaniern und den Engländern, niemals um dauerhafte Staatliche Landnahme, sondern immer nur um Lebensraum für ihre Familien gegangen ist, wäre die Prognose für ein dauerhaftes, leidlich friedvolles Zusammenleben mit den Indianern durchaus positiv gewesen. Das zeigt sich auch daran, dass in den Fällen, wo sie, aufgrund von Missernten, plündernd und brandschatzend durch Europa zogen, sich nirgendwo dauerhaft festsetzten.
Die Europäer haben jahrhundertelang auf engstem Raum nebeneinander gelebt. Die Zahl der Kriege, der Verträge und der Vertragsbrüche der letzten 1500 Jahre lassen sich gar nicht mehr wirklich zählen. Letztlich hat dies dazu geführt, dass die europäischen Völker sich gegenseitig ziemlich genau einschätzen können, wenngleich ein Großteil der gemachten Erfahrungen im Laufe der Zeit zu Stereotypen geronnen sind, die ihrerseits immer wieder kritisch hinterfragt werden müssen. Nach dem Zweiten Weltkrieg bestand Einigkeit darüber, dass es, auch bei unvollständigem Konsens, keine Alternative zu Kooperation gibt. Leider ist diese Einmütigkeit im Jahre 2016 durch das Erstarken der Europäischen Rechten in akuter Gefahr.