Читать книгу Ein Bettler baut eine Stadt - Robert Heymann - Страница 5
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ОглавлениеDie Tellerwaschmaschine lief unermüdlich. Unermüdlich stand Knut da und tat seine geistlose Arbeit im Restaurant „Gold Coast“ – zur „Goldenen Küste“. –
Knut ging langsam, ohne etwas Besonderes zu denken, an der großen Küche vorbei, in der der chinesische Küchenchef geschäftig hin und her eilte, umgeben von seinen Trabanten.
Da geht eine Tür auf. Knut wirft einen Blick in das Innere des Restaurants: an Tischen, die mit kostbarem Zedernholz eingelegt sind und von goldenen Drachenfüßen getragen werden, speist eine erlesene Gesellschaft. Fast nur Amerikaner. Sie balancieren die Eßstäbchen, als hätten sie Messer und Gabel nie gekannt. Ganz nahe sitzt eine sehr zarte Dame vor einem Gericht Chow-Main.
Knut kennt sie von den Ankündigungen her: eine der bekanntesten Schauspielerinnen Neuyorks! Die Tür geht wieder zu.
Da plötzlich, ein seltsamer, heller Ruf, so fern, als käme er aus der Geisterwelt.
Noch einmal ein fast singender Ton wie ein Ruf aus dem Äther, wie eine Funksendung. Der Hilferuf einer Frau! Kaum hörbar für nicht geschärfte Ohren, kaum auffällig für Gleichgültige. Aber Knut hörte diesen langgezogenen, kaum vernehmbaren, unterdrückten Ruf – die Stimme einer Frau!
Ohne auf die Chinesen zu achten, stürzt der Deutsche die Treppe empor. Da ist eine Tür, mehr Bretterverschlag als Wohnungstür.
Er rüttelt. Klopft. Klingelt. Alles bleibt still. Er wirft sich zwei-, dreimal mit der Schulter gegen die Türfüllung. Die Bretter geben nach.
Ein Vorraum. Ein Vorhang, Ruhebett, farbenprotzige Kissen – eine Frau, im Mund einen Knebel, an Händen und Füßen gebunden.
Knut Storting hebt sie hoch, rennt die Treppe hinab, sieht wie durch einen Nebel verzerrte Chinesengesichter, erreicht die Straße.
„Wohin?“ ruft er der Frau atemlos ins Ohr. Sie trägt eine kostbare Abendtoilette. Keinen Schmuck.
Seine Sinne nehmen ihr Bild mit Sekundengeschwindigkeit in sich auf.
Er schneidet die Stricke durch, versucht, sie auf die Füße zu stellen.
„Sie müssen einen Augenblick allein bleiben. Ich hole die Polizei. Hier sind Sie sicher.“
Sie schlägt die Augen auf.
Nie mehr wird ihr Gesicht aus seiner Erinnerung weichen! Runde, große, scheinbar unbewegliche Augen. Ein suchender Mund voll Süße und Herbheit. Blauschwarze kurze Haarwellen im Wind, wie geheimnisvolle Segel der Nacht.
„Einen Wagen!“ stammelt sie.
Wenige Häuser weiter steht im Licht einer elektrischen Lampe eine Autodroschke. Knut winkt. Der Wagen gleitet heran.
Der Fahrer öffnet den Schlag.
Rundum Menschen. Die Erde scheint sie auszuspeien. Bummler. Gelbe. Fahrer. Eine schwarze Mauer wächst auf, unheilkündend, drohend.
Rufe werden laut.
„Zum nächsten Polizeibüro!“ schreit Knut in Hast dem erstaunten Chauffeur zu.
Der Motor springt an.
„Nein! Nein!“ ruft die Frau. Ihre Hände gleiten mechanisch über die schmerzenden Gelenke. „Nein! Nein! Nicht zur Polizei – – –“
„Aber wohin?“ –
Der Wagen hält.
Sie denkt nach, nennt eine Adresse.
Plötzlich: Hände, brutale, breite Hände mit dicken Fingern und rissigen Nägeln. Sie greifen in den Wagen. Niemand versteht, was vorgeht. Es ist wie ein Film. Nur Knut begreift blitzartig: zwei Gesichter vor der Frau, die entsetzt aufschreit – Verbrecher! Narben im Gesicht, Fischaugen und stierstarke Hälse. Einer mit freier Brust. Sie hängen sich an. Ein Hieb läßt Knut taumeln. Die Menschenmenge wälzt sich heran. Knut fühlt Fieberhitze. Schlägt zu, exakt, sicher, landet schwere Hiebe. Er hat es nicht gelernt. Nur zugesehen hat er bisher, schlägt aber wie ein Boxer. Der Motor ist wieder angesprungen.
Der eine Angreifer schnauft wie eine Maschine und kugelt ab. Den zweiten schleift das Auto eine Weile mit, dann rutscht er in die Straßenrinne.
Die Dame hat dem Fahrer eine neue Adresse zugeschrien. Osten! Wo die armen Leute wohnen. Eine jener Neuyorker Bezeichnungen, bei denen sich ein nicht Ortskundiger nicht viel denken kann. Eine jener Straßen, die nur Nummern, keine Namen tragen.
Knut hält die Kraftlose in den Armen.
Sie fahren.
Langsam erholt sie sich.
Eine kleine, zärtliche Hand liegt auf der seinen. „Ich danke Ihnen“, flüstert eine helle Stimme. „Sie werden alles erfahren. Ich heiße Violet, das mag Ihnen genügen. Wir werden uns wiedersehen.“
Im Schimmer der hellen Häuser, Lampen, Auslagen betrachtet er sie. Ihr stolzer Kopf ist nach hinten gesunken. Er weiß nicht, was er sagen soll. Minuten vergehen. Locken flattern über ihre Stirn. Die Brauen fliegen hochmütig über eine gerade, kühne Nase. Plötzlich beugt sich die schöne Unbekannte vor, läßt den Wagen halten.
„Nochmals danke ich Ihnen. Wie heißen Sie?“
Er nennt seinen Namen. Sagt ihr, daß er Deutscher sei, ihren Hilferuf vernommen hätte, daß er unendlich glücklich wäre.
„Was sind Sie?“
„Was ich bin? Ich war etwas! Ich bin jetzt nichts –“
Sie sucht etwas, betrachtet ihre Hände, fährt sich plötzlich ins Haar. Der kostbare Kamm schleudert farbige Funken. Er ist mit Brillanten besetzt.
„Ich kann Ihnen heute nur so danken – nehmen Sie!“
Er zieht seine Hände zurück.
„Nein! Ich lasse mich nicht bezahlen!“
Sie zieht die Brauen hoch, überzeugt sich, daß die Straße menschenleer ist.
„Seien Sie ein ganz klein wenig klug“, sagt sie. Ihre Stimme klingt eindringlich, ein wenig ironisch. „Sie sind arm. Sie sollen Ihr Glück machen!“
„Ist es nicht Glück genug, Sie –“
Eine herrische Handbewegung unterbricht ihn. Sie schleudert den Kamm auf die Straße. „Sie haben keine Aussichten hier in den Staaten – please – steigen Sie aus.“
Der Ton duldet keinen Widerspruch. „Geben Sie mir Ihre Adresse.“
„Deutsches Logierhaus König Friedrich“, stammelt Knut verwirrt.
„Ich schreibe Ihnen! Leben Sie wohl!“
Für einen Augenblick ist ihr Gesicht über ihm: ihre verschleierten, umschatteten Augen, der feuchte Mund, ein sanftes Kinn, die blauschwarze Welle, die bis über die hochfliegenden Brauen geglitten ist. Duft von fremden Inseln und unbegreiflich süßen Blüten umfängt ihn. Er kann kaum atmen. Er fühlt nur, wie die dunkle Ahnung einer schwermütigen, verhängnisvollen, grausamen Liebe seine Glieder schwer werden läßt. Plötzlich umschlingen ihn zwei weiche Arme, ihre Lippen liegen auf den seinen. Dieser Kuß, zärtlich und hastig, wie ein Gruß aus einer Welt des Reichtums, des Glücks, der Sonne, macht ihn trunken. Als er taumelnd aufsieht, sich zurückfindet zur Wirklichkeit, ist der Wagen fort. Eine graue Straße mit Lichtflecken umgibt ihn. Passanten nähern sich.
Er kehrt nicht mehr in das Restaurant zur „Goldenen Küste“ zurück. Irrt in Neuyork umher, bis der neue Tag herangekommen ist.
Kaum fühlt er den Hunger. Immer nur sieht er lockend das Mädchenantlitz. Kein amerikanisches Gesicht. Dunkle, schwermütige Augen. Ein sehnsüchtiger Mund. Eine fast zu große, an Indianer erinnernde Nase. Und doch: schön! Traumhaft schön!
*
Als Knut Storting nach Stunden in seinem Logierhaus anlangte, zog er sich sofort in sein kleines Zimmer zurück. Da lag das Morgenblatt. Die Heimausgabe, die um vier Uhr morgens gedruckt wurde. Gedankenlos überlas er den Inhalt: die üblichen „Cartoons“, die neuen Abenteuer der stehenden Scherzfiguren. Inserate von verblüffender Deutlichkeit, eine illustrierte Geschichte der Staaten seit den Tagen der Einwanderung, die letzten Depeschen, Ratschläge des Martha-Lee-Klubs für Frauen. Plötzlich: „Verbrechen in der Bowery? Wer ist der Entführer? Wer ist die schöne Unbekannte? Das Rätsel hinter der Holztür über dem Restaurant zur ‚Goldenen Küste‘.“
Amerikanische Schnelligkeit! Reporterfixigkeit!
Knut knüllt die Zeitung zusammen. Sie sind ihm also schon auf den Fersen! Langsam glättet er das Papier wieder und liest:
„In dem allen Neuyorkern bekannten Restaurant Gold Coast ereignete sich heute nacht ein ganz ungewöhnlicher und mysteriöser Vorfall. Aus einer kleinen Wohnung über Chen-Kien-Suans Restaurant entführte ein Unbekannter eine Frau, nachdem er die Tür gewaltsam erbrochen hatte. Er stürmte mit seiner Beute auf die Straße und jagte in einem Taxi fort. Obgleich um diese Zeit die Straße belebt war, hat niemand den Verbrecher gehindert. Alles vollzog sich nach Aussagen von Augenzeugen so schnell, daß niemand eingreifen konnte.
Es ist die höchste Zeit, daß die Polizei ganz energisch gegen das Verbrechertum vorgeht. Neuyork steht nicht mehr hinter Chikago zurück. Wir haben aber nicht den Ehrgeiz, in einer Stadt zu wohnen, in der das Verbrechen allmächtig triumphiert. Oder sollen die Zeiten des Roten Ben wiederkommen, in denen Straßenschlachten etwas Alltägliches waren?“
Kopfschüttelnd las Knut. Die interessante Lektüre wurde durch ein Inserat der Firma Whitman & Co. unterbrochen, die für besondere Fälle einen Feigensirup von nie versagender Wirkung anbot – – –
Schon fesselte eine weitere Notiz Knuts Aufmerksamkeit, steigerte seine Erregung:
„Neue Feststellungen zu dem Mädchenraub!“
Inspektor Garde hat einen Fund gemacht, der die schlimmsten Befürchtungen erweckt. An einer Straßenbiegung, nicht weit ab von der Bowery, fand der Beamte gegen Morgen auf der Straße einen Haarschmuck von seltenem Wert. Die Brillanten repräsentieren ein Vermögen, das unsere Sachverständigen auf 50000 Dollar schätzen. Die Unglückliche ist also beraubt worden. Detektive sind auf der Suche nach dem Taxi. Man vermutet, daß der Chauffeur zu den Verbrechern gehört und der Wagen ein maskiertes Privatautomobil war.“
Und nach einer Bekanntgabe der Edolf-school, die einen neuen Lehrer suchte:
Unsere Redaktion sucht das Rätsel zu lösen. Kampf zweier Verbrecherbanden?
„Unser Korrespondent begab sich kurz vor der ersten Ausgabe unseres Blattes in die Bowery zum Restaurant Gold Coast. Die Polizei war schon zur Stelle. Chen-Kien-Suan hat mit der Sache nichts zu tun. Die Wohnung über dem Speisehaus ist von Unbekannten gemietet worden. Es handelt sich um zwei Männer, nach denen die Polizei ebenso fahndet wie nach dem Entführer der Entführten.
Es scheint sich um einen Kampf zwischen zwei verschiedenen Verbrecherbanden zu handeln, denn nach Aussage Sung-hens, des Geschäftsführers Chen-Kien-Suans, gleicht der Entführer keinem der beiden Mieter, die Sung-hen wohl gekannt hat. Man nimmt nun an, daß die Unbekannte erst von der einen, dann von der anderen Bande geraubt wurde, deren Führer der Mann von heute nacht war. Er hat sich als Tellerwäscher engagieren lassen, offenbar um den geeigneten Augenblick für die Tat abzuwarten und die Örtlichkeit in aller Ruhe zu studieren.“
Zwei Stunden später schrien Boys in den Straßen neue Einzelheiten der phantastischen Begebenheit aus, für die sich schon ganz Neuyork interessierte.
„Die Entführte, ein Opfer des Opiums?“
„Im Restaurant Gold Coast hat die Polizei ein Geheimzimmer gefunden, in dem Angehörige der oberen Fünfhundert sich zusammenfanden, um dem Opiumgenuß zu huldigen. Es scheint, daß es sich um eine Sekte handelt, die einer chinesischen Organisation nachgebildet ist.“
„Die zwei Hauptschuldigen sind verhaftet!“
„Die Polizei hat die beiden Mieter der mysteriösen Wohnung in der Bowery bereits ausgekundschaftet. Bei Redaktionsschluß werden sie vom Schnellrichter Jafferson verhört. Es sind Peer Wichman und Harry Seal, dieselben, die vor kurzem in den großen Gangster-Prozeß verwickelt waren. Wichman ist Anführer einer Bande, die seit Jahren Neuyork unsicher macht. Er hat das Geschäft von seinem Freund Samuel Hick geerbt, dessen Kompagnon er war, bis Hick in einem nächtlichen Straßenkampf von der Polizei erschossen wurde. Beide leugnen bis jetzt, die Gefangene zu kennen. Aber man wird sie beim Verhör ‚dritten Grades‘ schon zum Sprechen bringen.“
Knut Storting schob die Unterlippe vor. Mögen sie suchen! Er hat kein Verlangen, in allen Zeitungen genannt zu werden. Und die schöne Unbekannte hegte offensichtlich die gleiche Abneigung gegen das millionenmal vervielfältigte Porträt. Er handelte in ihrem Sinne, wenn er schwieg.
Um zwölf Uhr meldeten die Zeitungen, daß die Verbrecher noch energisch verhört würden. Die Polizei vermute, daß hinter Wichman und Seal eine besondere Persönlichkeit stehe. Diese Zusammenhänge gelte es aufzudecken.
Knut beschloß, die Unbekannte aufzusuchen und ihre Erlaubnis einzuholen, sich der Polizei zur Verfügung zu stellen. Eine unerklärliche Unruhe trieb ihn fieberhaft umher.
Er aß kaum. Wartete den ganzen Tag. Aber keine Nachricht kam.
Sie hat die Adresse vergessen, dachte er. Das ist ja nur natürlich. Warum habe ich sie ihr nicht aufgeschrieben? Es ging aber alles so unwirklich schnell. – Immerhin: er hatte sich ihre Adresse gemerkt. Gegen Abend pilgerte er hinaus nach dem Osten.
Das Haus fand er schnell. Ein Mann stand im Flur. Er las einer Gruppe von Männern vor, daß der Chikagoer Polizeipräsident erschossen worden sei. Er hatte dem Syndikat der Rumschmuggler Kampf bis aufs Messer angesagt. In dem Neuyorker Entführungsprozeß sei man noch nicht weitergekommen. Die verhafteten Verbrecher weigerten sich entschieden, den Mann zu nennen, der hinter ihnen stand.
Dumpfe, stickige Luft herrschte in dem Treppenhaus. Knut fand nach langem Suchen die Tür des Hausverwalters. Er klingelte.
Mit schlürfenden Schritten kam eine alte Frau und öffnete.
„Was ist los?“
„Ich suche eine Miß Violet!“
„Aber bei mir doch nicht!“ Die Alte will die Tür zuwerfen.
Knut sucht zu erklären. „Eine Dame, die hier wohnt – eine sehr elegante, schöne Frau mit dunklen Augen – sie dürfte sehr reich sein.“
Da wendet sich die Frau ins Innere der Wohnung: „Jonny, komm’ doch mal heraus und bringe den verrückten Kerl weg.“
Eine vierschrötige Männergestalt wird hinter ihr sichtbar.
„Was will er?“
Wieder berichtet Knut, er suche eine sehr elegante, schöne Dame, die in diesem Haus wohnen wollte.
Der Riese kommt dicht heran.
„Wenn ich Sie wäre, ich drehte um und würde schleunigst verschwinden! Hier sind Sie sicher nicht in dem richtigen Hause. Wir kennen hier keine vornehmen Damen. Wir wollen auch nichts mit ihnen zu tun haben!“
Knut stieg die Treppe empor.
Im ersten Stock standen zwei Frauen. Er trat zu ihnen, fragte, beschrieb.
Die beiden sahen ihn mißtrauisch an. „Hat sie Ihnen etwas gestohlen?“
„Nein – ich suche sie nur so – – –“
„Wir kennen sie nicht. Hier wohnen nur arme Leute – und die Frauen in diesem Hause gehen solchem Beruf nicht nach, der elegante Abendkleider einbringt –“
Er gab es auf.
Auf der Straße spielten und lärmten die Kinder, ein Milchwagen rasselte vorbei. Knut ging wie im Traum.
War denn das alles wahr, was er erlebt hatte? War es nicht ein wüster Traum, ein Gebilde seiner Phantasie? Hat er wirklich eine Frau befreit, die ihn so augenscheinlich belogen hat? Wollte sie verschwinden, damit er sie nicht wiederfinden konnte?
Er hätte zur Polizei gehen können. Aber er fühlte, daß er sie dann für immer verlieren würde.