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Einleitung/ Reboot: Warum?

Das erste Computervirus der Geschichte zeigte sich auf den ersten Blick gut gelaunt und freundlich. Es tauchte in den späten 1980er-Jahren auf, erschien beim Hochfahren des Amiga-Computers als ein orange-roter Balken auf schwarzem Hintergrund mit dem Schriftzug: »Etwas Wunderbares ist passiert – dein Amiga lebt!« Danach wurde es bösartig: »Und noch besser, einige deiner Dateien sind befallen von einem Virus!« Tatsächlich entpuppte sich dieses als unschädlich, als eine Art scherzhafte Mahnung eines Teams, das man heute als White-Hat Hacker bezeichnen würde, also als gutwillige Hacker, die Systeme infiltrieren, nicht um sie zu beschädigen, sondern um auf Sicherheitslücken hinzuweisen.1

Anders als dieses Computervirus wirken die biologischen Corona-Viren nicht nur harmlos. Schon in den frühen 1930er-Jahren wurde im US-Bundesstaat North Dakota eine neuartige Infektion mit diesem Virustyp bei Hühnern beschrieben, die massenhafte Tierverluste verursachte. In den 1960er-Jahren konnten die schottische Virologin June Almeida und ihr Kollege David Tyrell Viren des Typs Corona erstmals beim Menschen nachweisen. Unter dem Elektronenmikroskop waren Dutzende Zacken auf der Hülle der nur wenige Nanometer großen Viren zu erkennen, die der Virusfamilie ihren umgangssprachlichen Namen verliehen.2 Seit Ausbruch der Corona-Krise gibt es kaum eine TV-Nachrichtensendung, in der nicht eines der Zackenmonster auftaucht.

Auch wenn manche Verschwörungsmythen im Hinblick auf Corona das Gegenteil nahelegen: Der entscheidende Unterschied zwischen Computerviren und Corona-Viren ist, dass die biologischen Erreger nicht menschengemacht sind, aber Menschen befallen, und es sich bei Computerviren genau umgekehrt verhält. Was sie verbindet, ist, dass sie unverhofft kommen, sich ihre Ausbreitung nur schwer eindämmen und der durch sie erzeugte Schaden erst messen lässt, wenn die schlimmste Phase überstanden ist. Weil wir das wissen, treffen wir für beide Fälle Vorsorge. In dem einen installieren wir Virenscanner, im anderen stärken wir unsere Körperabwehr und/oder lassen uns impfen. Und bleiben doch anfällig für Gift und Schleim – was die ursprüngliche Bedeutung des lateinischen Wortes Virus ist: Schleim, der sich schneller verbreitet, als unsere Diagnosetools reagieren können, und der mutiert, um einen zur Vermehrung notwendigen Vorsprung zu behalten, und so größtmöglichen Schaden anrichtet.

Einen Rechner herunterzufahren, zu säubern und neu zu kalibrieren, kostet Zeit, Energie und Geld. Vor der Corona-Krise schienen Cyberattacken eine der größten Bedrohungen für unser Wirtschaftsleben zu sein. Versicherungen bauten spezielle Produkte für den Zusammenbruch von Datennetzen. Firmen, die Sicherheitslösungen anboten, erhielten Milliardenbewertungen. Riesige Stäbe in Parlamenten und Behörden in den Bundesländern, in Berlin und in Brüssel arbeiteten jahrelang an Verordnungen zum Datenschutz. Vorkehrungen gegen eine mögliche Pandemie dagegen wurden mit deutlich weniger Aufwand getroffen, das öffentliche Interesse war gering.

Heute wissen wir: Der Schaden, den Corona-Viren und derzeit die Variante SARS-CoV-2 anrichten, trifft nicht nur Tausende Einzelmitglieder der Gesellschaft, sondern deren gesamtes Betriebssystem samt der globalen Wirtschaft. Eine ganze Gesellschaft in Zeiten einer grassierenden Pandemie herunterzufahren verursacht Aufwand, der ohne Vergleich ist zu dem, was die Folgenbewältigung eines Hackerangriffs bedeutet. Das Weltwirtschaftsforum schätzte den direkten und indirekten Schaden durch das Virus weltweit auf rund 16 Billionen Dollar – das Vierfache der deutschen Wirtschaftsleistung in einem Jahr –, und das noch vor der zweiten Welle im Herbst. Das übertreffe die Kosten für umfassende Vorkehrungen gegen eine Pandemie um das 500-Fache.3 Dazu kommen nicht messbare Schäden auf der emotionalen und psychologischen Ebene. Im Vergleich: Der Schaden, der durch Hacker, Datenlecks und Computerviren entstand, liegt bei rund einer Billion Dollar im Jahr.

Eine Gesellschaft hält einen Lockdown einmal aus, wenn es ihr davor halbwegs gut ging, aber nicht regelmäßig. Krisen verstärken sich gegenseitig, und Corona ist bei Weitem nicht die einzige, mit deren Folgen wir derzeit kämpfen. Es gibt Krisen, die sich langsamer ausbreiten, (noch) keine direkt spürbaren Bedrohungen verursachen und sich deshalb leichter ignorieren lassen – wie der Klimawandel beispielsweise, die zunehmende Wohlstandskluft und ihre Folgen. Trotz dieser Bedrohungen ist unsere Welt, statistisch gesehen, besser, als sie momentan gemacht wird. Jede neue Generation wächst in Summe wohlhabender und gesünder auf als die vorangegangene.4 Also einfach zurücklehnen und warten, bis wir uns von den Folgen der Pandemie erholt haben, und dann weitermachen wie bisher?

Nein, denn es geht darum, unsere Energie jetzt zielgerichtet einzusetzen. Es ist an der Zeit für einen Reboot. Große Krisen, im privaten, im beruflichen, aber auch im sozialen Kontext bieten die Chance, zu reifen und widerstandsfähiger zu werden, bessere Vorkehrungen für die nächste Hürde zu treffen. Genau das ist jetzt unsere Aufgabe. Mit unseren Computersystemen tun wir das längst, zumindest wenn wir unsere Software immer dann updaten, wenn wir dazu aufgefordert werden, und die Geräte danach neu starten, damit sie wieder so laufen, wie wir es wünschen. Die Krise bietet die Chance, auch Veränderung anzugehen, deren Bedarf in guten Zeiten schwieriger zu erkennen und erst recht umzusetzen ist. Die Energie dafür sollten wir bewahren, auch wenn der Impfstoff da ist und die Sorgen nicht mehr so groß sind.

Die Bundesregierung, die Europäische Union und andere Staaten haben in den Monaten der Krise ein Notfallprogramm gefahren. Kurzarbeit, Steuerstundung, Notkredite – Medizin aus dem Erste-Hilfe-Set, nicht aus dem Instrumentarium für Prävention und langfristige Stabilisierung. Was jetzt jedoch auf keinen Fall geschehen sollte, ist die Rückkehr zu einem Alltag aus Parteipolitik, Wahlkämpfen und Verwaltungsarbeit. Auch geht es nicht nur darum, die Vorsorge für weitere Pandemien zu treffen. In einer Zeit, in der sich tiefgehende Krisen – Finanzkrise, Flüchtlingskrise, Corona-Epidemie – in nahezu fünfjährigem Rhythmus ereignen, geht es um die Robustheit des gesamten Systems unseres Zusammenlebens. Es ist höchste Zeit für einen Reboot.

Wann fangen wir damit an? Am besten gleich jetzt. Nicht überstürzt, sondern planvoll. Nicht nach starren Konzepten, sondern flexibel. Nicht perfektionistisch, sondern mit Raum für Fehler. Realistischen Zielen folgend, kleine Erfolge feiernd. Gemeinsam, nicht von kleinen Gruppen mit Sonderinteressen gesteuert. Überzeugend, nicht erzwingend. Genau das ist es, was unsere Politik, Wirtschaft und Gesellschaft jetzt braucht.

Veränderung in komplexen Systemen kann dabei nur gelingen, wenn die Menschen verstehen, warum sie erforderlich ist und was sie für ihre individuelle Realität bedeutet. Das durfte ich selbst in den letzten zehn Jahren lernen. In dieser Zeit habe ich, gemeinsam mit meinen Kollegen bei The Nunatak Group, großen und kleineren Unternehmen und Institutionen dabei geholfen, die Herausforderung der Digitalisierung zu bewältigen. Tiefgehende Analyse, eine schlüssige Strategie und detaillierte Planung bringen nur dann etwas, wenn die Mitarbeiter auch überzeugt sind, sie umzusetzen.

Nunataks sind in der Glaziologie, der Wissenschaft von Schnee und Eis, Berge, die wachsen, weil sie durch den Permafrost zusammengeschoben werden. In einer Inuit-Sprache bedeutet das Wort »Wegweiser«: Die Felsformationen dienen als Orientierung auf dem Weg durch Gebiete, in denen sich die Vegetation schwertut. Der Name für unsere Firma, die als Strategieberatung firmiert, kam mir, als ich an die Nunataks dachte, die ich auf meinen Reisen durch Alaska und Patagonien gesehen hatte. Auch in den Alpen finden sich Nunataks, die aus den Eiszeiten übrig geblieben sind.

Dieses Buch soll, im besten Falle, eine Art Nunatak darstellen. Ich möchte einen Weg weisen, wie wir die Zeit nach der Pandemie nutzen könnten, unsere Wirtschaft, Politik und Gesellschaft widerstandsfähiger zu machen. Nicht nur gegen ein Virus, sondern gegen Bequemlichkeit, Ausbeutung, Vergangenheitsorientierung, Aktionismus, Verschwendung, Populismus, Prokrastination. Also gegen alles, was in uns zwar angelegt ist, weil wir Menschen sind und zu einfachen Lösungen neigen, was uns aber nicht weiterbringt – oder zumindest nur sehr kurz und in nur scheinbaren Erfolgen, die dann schnell wieder verblassen. Bedrohungen von außen sollten wir nicht aus dem Blick lassen. Ob uns unsere Zukunft gelingt, darüber entscheidet aber mehr der Umgang mit unseren eigenen Schwächen, die nicht die Oberhand bekommen sollten.

In den folgenden Kapiteln öffne ich ein weites Feld, von unserem Bildungssystem über das Arbeitsleben, von Energie zu Gesundheit, von Digitalisierung bis Grundeinkommen. Ich weiß, dass ich mich damit dem Vorwurf aussetze, oberflächlich zu bleiben und anmaßend zu sein. Wer nach einer akademischen Abhandlung sucht, ist hier tatsächlich falsch. Und wer nach einer Streitschrift sucht, auch. Es geht mir nicht darum, in den Krawall jener einzustimmen, die unsere Politik verdammen oder für eine schnelle Schlagzeile einen lockeren Spruch hinlegen, der Menschen verletzt und der gemeinsamen Sache, die unsere Gesellschaft auch heute noch ist, schadet. Es geht mir um einen klaren Blick auf die Wirklichkeit und Lösungsvorschläge für unsere Probleme.

Als ich diese Zeilen schrieb, waren es nur noch zwei Tage bis zum trübsten November, den dieses Land seit Langem erlebt hat. Der zweite Lockdown stand bevor, danach sollte es keine Weihnachtsmärkte geben, kaum Winterurlaub, keinen Fasching. Wir werden von vielem weniger haben, Gastronomen, Künstler und Selbständige vor allem weniger Geld. Nur von einem, das uns sonst so sehr fehlt, vielleicht etwas mehr – Zeit, die wir sonst in Kneipen, Theatern oder auf Feiern verbringen. Wir sollten diese Zeit für unsere Liebsten nutzen, in unseren warmen Wohnungen. Warum aber nicht auch dazu, ausführlich nachzudenken – um dann, wenn die Gesellschaft wieder hochfährt, bewusst zu handeln, auch über den engen Wirkungskreis hinaus?

Dieses Buch ging mir recht schnell von der Hand. Dabei machte sich das Training aus meiner früheren Zeit als Tageszeitungsjournalist bemerkbar. Dazu kommt, dass ich das, was hier steht, in meinem Kopf schon lange formuliert habe. Es hatte sich aufgestaut wie Gebirgswasser an einer Talsperre. Als junger Erwachsener verfasste ich Berichte, Reportagen und Leitartikel für die Süddeutsche Zeitung über genau die Themen, um die es auch in diesem Buch geht. Das Privileg eines Berliner Korrespondenten war es damals, dass jeder Artikel von den Assistentinnen ausgeschnitten, aufgeklebt und in einen Leitz-Ordner in meinem komfortablen Einzelbüro abgeheftet wurde. Ich fand irgendwann, dass es genug Ordner waren, und ging zurück an die Universität. Seitdem war ich nicht mehr Journalist, sondern wurde erst Strategieberater, dann Unternehmer und dann, bei Nunatak, eine Mischung aus beidem.

Ich wollte etwas bewegen, aufbauen, Arbeitsplätze schaffen und nicht nur über jene schreiben, die das tun. In Wirklichkeit war es auch Eskapismus, eine Art Flucht vor dem hektischen Nachrichtenzyklus, hinein in eine Welt, in der nicht täglich die großen, gesellschaftlichen Probleme, sondern sehr spezifische, von Kunden oder Mitarbeitern, zu lösen sind. Ich kehrte aus Paris, Berlin und Washington zurück in meine Heimat, erst nach München, wo ich geboren bin, und dann sogar ins bayerische Oberland, in dem ich aufgewachsen bin. Morgens weckten mich Kuhglocken. Manchmal reiste ich in die Welt hinaus, aber als Rucksacktourist, und veröffentlichte die Tagebücher, die ich unterwegs schrieb. Die großen Debatten der Gegenwart nahm ich eher am Rande wahr, und wenn, dann passiv und ohne mich einzumischen.

Die ersten Zeilen dieses Buchs sind in meinem Kopf vermutlich schon an jenem Abend entstanden, an dem Donald Trump zum US-Präsidenten gewählt wurde. Für mich war das ein Schock. Nun, da die Mehrheit der amerikanischen Wähler und Wählerinnen sich für Joe Biden und Kamala Harris entschieden hat, dass die vier Jahre Trump-Regierung und ihre verheerende Politik zu Ende gehen, habe ich wieder mehr Hoffnung für einen Reboot, in den USA, bei uns und anderswo. Vieles, das in den letzten vier Jahren auch in unserer Öffentlichkeit geschehen ist, wäre ohne die Rohheit und den schamlosen Eigennutz des mächtigsten Mannes der Welt nicht denkbar gewesen. Es wäre einer der sehr wenigen positiven Effekte der Pandemie, dass dieser Präsident und seine Entourage ihre Ämter verlieren.

Politisch engagiert habe ich mich nie, auch nicht nach jenem Schock, und ich bin bis heute auch kein Mitglied in einer Partei. Als Journalist hätte eine Parteimitgliedschaft nicht gepasst, und später fand ich schlicht keine, in der ich mich inhaltlich wirklich wohlgefühlt hätte. Was ich betrieb, auch nach jener Wahlnacht, war dann doch wieder der Rückzug in meinen direkten Wirkungskreis, zumindest für eine Weile, wenn auch immerhin mit einem etwas mulmigen Gefühl. Dem Utilitaristen John Stuart Mill wird der Satz zugeschrieben, dass böse Menschen nicht mehr bräuchten, um ihre Ziele zu erreichen, als gute Menschen, die ihnen zuschauen und nichts unternehmen. Das gilt bis heute. Zu handeln, das ist Menschenpflicht, und erst recht, wenn man es gerne tut und deshalb auch gut.

Ich habe mich während des ersten Lockdowns dafür entschieden, wieder zu schreiben. Anders als früher werte ich es durchaus als Handeln. Genau deshalb gibt es dieses Buch. Gewidmet habe ich es unserem Sohn: Lucius, wenn du größer bist, wirst du viele Fragen haben, und die wenigsten werde ich beantworten können. Die Welt wird dann anders sein, unsere Lebensumstände auch – ob nur anders oder besser, das wissen wir nicht. Hoffen wir Letzteres und tun etwas dafür.

Aufzuschreiben, wie es gelingen könnte, lieber Lucius, das zumindest habe ich versucht.

1 Maher, J. (2012). The Future Was Here: The Commodore Amiga. Boston: The MIT Press.

2 Gellene, D. (2020, Mai 10). Overlooked No More: June Almeida, Scientist Who Identified the First Coronavirus. New York Times. Abgerufen 19.10.2020, von https://www.nytimes.com/2020/05/08/obituaries/june-almeida-overlooked-coronavirus.html

3 Schwab, J. (2020, August 3). Fighting COVID-19 could cost 500 times as much as pandemic prevention measures. World Economic Forum. Abgerufen 19.10.2020, von https://www.weforum.org/agenda/2020/08/pandemic-fight-costs-500x-more-than-preventing-one-futurity/

4 Rosling, H.; Rönnlund, A. R.; Rosling, O. (2020). Factfulness: Ten Reasons We’re Wrong About the World – and Why Things Are Better Than You Think (Reprint). New York: Flatiron Books.

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