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Erstes Kapitel: Corpus delicti

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Die Berührung mit dem warmen Körper, den er jetzt die kurze Strecke über den Kiesweg in die Büsche zerrt, erregt ihn einen Augenblick lang. Dieses Gefühl ist irritierend und der Situation nicht angemessen – hundert Dinge können bei einer solchen Sache schiefgehen, auch ohne dass seine Hormone verrücktspielen.

Er benutzt den Trampelpfad, der vom Wegrand durch das Dickicht zum Parkplatz führt – noch zehn Meter bis zu seinem Wagen; zehn lange Meter, denn Britta Stern wieg erheblich mehr, als er es vermutet hat. Die sechzig Kilo einer attraktiven Frau, deren Hacken über den Boden schleifen, sind schwer wie ein Sandsack. Vielleicht hätte er mit einem Sandsack üben sollen.

Es hat wieder zu regnen begonnen. Kälte und Nässe sind gut für sein Vorhaben. Das schlechte Wetter hält Spaziergänger fern, die ihn stören könnten. Mühsam zieht er seine Last zwischen die tropfenden Büsche.

Die Frau ist völlig verschwitzt, ihre Arme entgleiten seinem Griff immer wieder und er muss ständig nachfassen. Er wird die Heizung seines Wagens hochdrehen, wenn er losfährt. Wenn sein Opfer auskühlt und sich eine Lungenentzündung einfängt, dann ist er aufgeschmissen.

Nun, da er die junge Frau auf den unbeleuchteten Parkplatz zerrt kommt der gefährlichste Teil des Unternehmens. Er blickt sich um. Niemand zu sehen. Zur Linken, in dem alten Universitätsgebäude, brennt im Erdgeschoß noch Licht – Putzkräfte oder der Hausmeister, vermutet er.

Marc Langer hat darauf setzen müssen, dass der Parkplatz an diesem Abend leer ist. Donnerstags endet die letzte Vorlesung um achtzehn Uhr, danach flüchten die meisten Studenten ebenso wie die Lehrkräfte ins vorgezogene Wochenende und es kehrt relative Ruhe ein in diesem Teil des Viertels.

Schwer atmend wirft er jetzt die Hecktür seines Kombis zu und kramt den Autoschlüssel aus seiner Jacke hervor. Vor ein paar Sekunden ist ihm beinahe der Geduldsfaden gerissen. Sein Opfer passte nicht ohne weiteres unter die Abdeckung des Kofferraums. Wie sehr er es auch versucht hat, ein Fuß der Frau lugte stets über die tiefliegende Ladekante des Wagens. Schließlich tut er das Naheliegende und zieht ihr die Laufschuhe aus. Nun kann er die Klappe schließen.

Er öffnet die Fahrertür und wirft sich in den Sitz. Seine Hand zittert, als er den Zündschlüssel ins Schloss bugsieren will. Er braucht dringend eine Zigarette, und während er sich eine anzündet, sieht er, dass die Wagenscheiben rundum beschlagen sind. Frustriert versetzt er dem Lenkrad einen heftigen Schlag. Das kann er jetzt brauchen wie ein nasses Handtuch. Natürlich beschlagen die Scheiben - die beiden schwitzenden Körper heizen den Wagen auf wie ein tropisches Gewächshaus. Er entnimmt dem Handschuhfach ein altes Wischtuch und beginnt die Scheiben zu reinigen. Dann stellt er Heizung und Gebläse auf die höchste Stufe und öffnet die Fenster einen Spalt breit. So müsste es gehen.

Die gesamte Operation hat weniger als fünfzehn Minuten in Anspruch genommen. Das ist wichtig, weil sein Alibi darauf fußt, dass die von ihm geplanten Dinge schnell und reibungslos ablaufen.

Er entspannt sich ein wenig und beginnt, sich auf den stadtauswärts fließenden Verkehr zu konzentrieren. Alles läuft normal - bis zu dem Moment, in dem er hinter sich eine Sirene hört und ein Blick in den Rückspiegel… Heiliger Himmel!

Das Blaulicht kommt rasch näher. Eine Sekunde lang glaubt er, alles sei verloren, bevor es richtig angefangen hat. Es dauert einen schreckensstarren Moment, bis er begreift, dass es sich um einen Krankenwagen handelt, der mit hoher Geschwindigkeit näher kommt, offenbar wie er selbst auf dem Weg zur nahegelegenen Autobahn.

Ein wütendes Hupen, weil er eine rote Ampel überfahren hat. Er muss nur noch für kurze Zeit die Ruhe bewahren, denn er hat es beinahe geschafft.

Langer verstärkt den Griff seiner linken Hand um das Lenkrad und schaltet mit der anderen in einen höheren Gang. Kurz darauf hat er die Autobahn erreicht.

Noch zwanzig Minuten bis zu seinem Versteck; es ist darauf vorbereitet, ihn und seine Geisel so lange wie nötig verschwinden zu lassen. Er schaltet den CD-Player ein und schlägt den Takt eines Rocksongs mit den Fingern aufs Lenkrad. „…Riders on the Storm…“

Der zweite Teil der Operation wird erst morgen früh beginnen. Vorher gilt es, sein Opfer unterzubringen, sich die zweite Hälfte seines Alibis zu beschaffen und zu essen. Zu essen und danach zu schlafen. Er muss körperlich fit bleiben, darauf wird es in den nächsten Tagen ankommen - bis ganz zum Schluss.

„…Riders on the Storm.“

2

An dem nasskalten Novemberabend, an dem seine Stieftochter Britta in die Hände eines Entführers fällt, sitzt Dietrich Bornemann noch zu ungewohnt später Stunde in seinem Büro, hoch über dem Fluss, der die Stadt in zwei Teile zerschneidet. Hier im siebenundzwanzigsten Stock des Büroturms hört man nichts vom allmählich abflauenden Berufsverkehr entlang der beiden Flussufer.

Seine Wut lässt nur langsam nach. Diese Blutsauger vom Betriebsrat können einen immer wieder fertigmachen. Sie quatschen und quatschen und wenn man nicht höllisch aufpasst, haben sie einen plötzlich in einer Ecke, in der sie ihn haben wollen – und man weiß später nicht einmal mehr, wie zum Teufel man dorthin geraten ist. Bornemann weiß, dass er auf seinen Blutdruck achten muss, denn Mitte der kommenden Woche steht ihm eine Steuerprüfung bevor; Steuerprüfungen sind wie Darmspiegelungen, nur teurer.

Brittas Mutter lässt es sich zurzeit im Schwarzwald gut gehen, während er zuhause bleibt und sich für die Firma abrackert. Er ist – um der Wahrheit die Ehre zu geben – froh, wenn er sie nicht zu sehen braucht. Sie haben sich schon lange nichts mehr zu sagen, was häufig zu einer unangenehmen Spannung führt, wenn sie zusammen im selben Raum sind. Sie interessiert sich nicht im Geringsten fürs Geschäft, er interessiert sich für nichts außer dem Geschäft. Das macht es nicht leicht.

Der Gedanke daran, dass er allein sein wird, wenn er heute Abend nach Hause kommt, missfällt ihm dennoch. Nach anstrengenden Sitzungen wie der heutigen braucht er nach Feierabend jemandem, an dem er seine Übellaunigkeit auslassen kann.

Vielleicht sollte er noch etwas unternehmen, wenn er hier herauskommt. Charles, sein Chauffeur und Bodyguard, wartet schon in der Tiefgarage. Der kann ihn irgendwo hinfahren, wo er sich auf angenehme Art und Weise entspannen kann.

Aber dann fällt ihm ein, dass heute Donnerstag ist und dass Mei Long heute nicht arbeitet, und nach Experimenten mit einer neuen Nutte ist ihm nicht zumute. Verdrossen drückt er die Kurzwahltaste seines Telefons und weist seinen Fahrer an, sich für die Fahrt nach Hause bereitzuhalten. Dann verschließt er den Wand-Safe, löscht das Licht und macht sich auf den Weg zum Fahrstuhl, der ihn hinunter zu seinem Wagen bringt.

3

Langer schafft es in ausgezeichneten dreiundzwanzig Minuten, ohne den alten Kombi bis zum Anschlag quälen zu müssen. Der Wagen ist die größte Investition in dieses Unternehmen gewesen, und obwohl er fast schrottreif ist, hat er ihn die Hälfte seiner mickrigen Reserven gekostet. Er hat ihn vor ein paar Tagen durchchecken lassen und ihm dann notgedrungen diesen heiklen Job anvertraut. Bisher macht er seine Sache gut.

Er kommt auf dem schmalen Kiesweg vor dem Haus zu stehen und parkt so, dass die Scheinwerfer den kurzen Weg bis zur Haustür ausleuchten. Sein Opfer kann er in dem so entstandenen Lichtkegel gefahrlos ins Haus bringen. Hier oben am Waldrand sieht ihn niemand.

Er hat vier andere Objekte besichtigt, bevor er sich für dieses Ferienhaus entschieden hat. Es liegt am toten Ende eines Feldwegs, duckt sich mit seiner praktisch fensterlosen Rückseite unter einen dichten Fichtenwald, durch den man stundenlang wandern kann, ohne auf etwas anderes zu stoßen als ein paar Wirtschaftswege, die offenbar nur selten benutzt werden.

Bis hinunter zur Kreisstraße gibt es nichts als Felder, die jetzt brachliegen, weil die Ernte längst eingebracht ist. Zum nächstgelegenen Anwesen, einem Bauernhof am Ortseingang, ist es ein guter Kilometer, und um diese Jahreszeit hat niemand einen Anlass, hier heraufzukommen.

Die Besitzerin des Hauses, eine wohlhabende Witwe aus Nordhessen, kommt nie hierher. Er hat es von einem Immobilienmakler gemietet, dessen Büro sich ebenfalls sichere zweihundert Kilometer entfernt am Wohnort der Besitzerin befindet. Den Hausschlüssel hat er von einer älteren Putzfrau aus dem Dorf erhalten, die gelegentlich hier heraufkommt, um durchzulüften oder Staub zu wischen. Ein paar kleinere Geldscheine haben sie davon überzeugt, dass er während seiner künstlerischen Tätigkeit keinerlei Störungen wünscht und selbst für Ordnung und Sauberkeit sorgen wird. Das Geld reicht bequem aus, um ihr den entgangenen Lohn zu ersetzen.

Den Leuten im Dorf gegenüber hat er sich als Schriftsteller ausgegeben, der die ländliche Abgeschiedenheit sucht, um einen begonnenen Roman zu beenden. Niemand soll sich Gedanken darüber machen, was ein junger Mann wie er so lange in dieser Einöde zu schaffen hat. Es gibt hier weder Tourismus noch Industrie. Dieses Kaff wirkt auf ihn, als sei es mausetot.

Britta Stern wird noch ein Weilchen brauchen, bis sie wieder vollständig zu sich kommt. Zeit, die er benötigt, denn er hat noch etwas Wichtiges zu erledigen.

Er schaltet den Motor aus, steigt aus dem Fahrzeug und öffnet die Heckklappe. Das Chloroform hat er zusammen mit dem kleinen 22er-Revolver und der großkalibrigen 38er im Hinterzimmer einer schummrigen Kneipe im Frankfurter Bahnhofsviertel erworben, von einem serbischen Dealer. Die Serben und die Albaner können einem fast alles besorgen, vorausgesetzt, man findet sie und bezahlt den Preis.

Das Chloroform hat die gewünschte Wirkung erzielt. Die Lungen der Frau haben nach einem verschärften Tempolauf nach Sauerstoff gegiert und sie hat das Gas unwillkürlich eingesogen, als er sie aus kürzester Distanz damit besprüht hat. Aber da das Zeug nur für kurze Zeit wirkt, hat er ihr noch im Park einen harten trockenen Faustschlag direkt oberhalb des rechten Ohres versetzt, weshalb sie für anderthalb bis zwei Stunden außer Gefecht sein dürfte.

Er hievt die Füße der Frau über die Ladekante, wuchtet ihren schlaffen Oberkörper in eine aufrechte Position und bückt sich unter die sitzende Gestalt. Dann ergreift er ihre Handgelenke und stemmt sich nach oben, den leblosen Körper wie einen Sack auf dem Rücken tragend. Brittas Kopf liegt auf seiner rechten Schulter, ihr hellblondes Haar kitzelt für einen Moment seine Wange.

Schwankend erreicht er die Haustür und lässt seine Last so sanft wie möglich zu Boden gleiten. Dabei rutscht das noch schweißgetränkte Sweatshirt der Frau hoch und lässt einen indiskreten Blick auf ihre vollen Brüste zu. Diesmal bleibt er unbeeindruckt. Er bemerkt eine Gürteltasche, die sie um die Hüften geschlungen trägt. Schlüssel, Geld und Papiere wahrscheinlich; er wird sich später darum kümmern. Jetzt zählen Minuten.

Umständlich fischt er den Hausschlüssel aus seiner Jacke, eine Hand stets an der Schulter seines Opfers, darauf achtend, dass sie nicht nach hinten oder zur Seite kippt. Die Tür springt mit einem Knarren auf und er zerrt die Frau über die Schwelle. Er versetzt der Tür einen Tritt und sie schwingt hinter ihm zu. Bis auf das Licht, das die Autoscheinwerfer durch die beiden Fenster an der Vorderseite des Hauses werfen, ist es dunkel in dem großen Wohnraum. Bizarre Schatten lassen die Szene unwirklich erscheinen.

Der Entführer schleift sein Opfer quer durch das Zimmer zu einem Bett, das seinen Gast schon erwartet. Er wuchtet den Körper hoch und legt ihn auf den Rücken. Handschellen, mattsilbern das spärliche Licht reflektierend, schließen sich um die Gelenke von Händen, die sich nicht wehren können. Zwei robuste Ketten, die sich in der Wand hinter dem Bett verlieren, klirren leise.

Den Raum hat er schon mittags auf eine angenehme Temperatur vorgeheizt; dennoch geht er jetzt ins Bad und holt ein Handtuch, mit dem er den nassgeschwitzten Körper der Frau trocken reibt, soweit das unter diesen Umständen möglich ist. Dann wirft er das Handtuch auf einen Sessel, zieht die Vorhänge zu und geht in das nebenan liegende Schlafzimmer. Auf dem ungemachten Bett liegen frische Sachen bereit. Er entledigt sich der schwarzen Kluft, die er getragen hat, wählt Jeans, Turnschuhe und einen hellblauen Pullover und zieht sich an. Ein Blick in den Spiegel zeigt ihm einen harmlosen, höchstens etwas müde wirkenden jungen Mann. Marc Langer verlässt das Haus und geht zu seinem Wagen.

Vier Minuten später betritt ein offensichtlich gut gelaunter Mann mit einem etwas zu lauten, freundlichen Gruß die Gaststube des Restaurants „Zum Schwarzen Schwan“ und setzt sich auf seinen angestammten Platz im hinteren Teil des Raumes. Dies ist die einzige Kneipe im Ort, und in den letzten zwei Wochen ist er beinahe jeden Abend hier eingekehrt. Man kennt ihn, den Schreiberling aus der Stadt, der das Haus oben am Wald gemietet hat. Exotisch für die hiesigen Bauern. Aber er scheint ein ruhiger und angenehmer Zeitgenosse zu sein, der ein wenig mehr Trinkgeld gibt als die Einheimischen, die sich abends nach getaner Arbeit hier zum Kartenspielen einfinden. Man lässt ihn in Ruhe. Er ist in Ordnung, aber er gehört nicht dazu.

Ein Blick auf die Wanduhr hinter der Theke genügt ihm, um zu wissen, dass er gut in der Zeit liegt. Wird es jemals zu Schwierigkeiten kommen, hat er zwar kein lupenreines Alibi; aber es wird sehr schwer sein, ihm eine solch komplizierte Geschichte anzuhängen, wie es die Verschleppung eines Menschen ist.

Um drei Minuten vor sieben Uhr an diesem Abend hat er in Frankfurt, zwei Kilometer vom Tatort entfernt, eine Eintrittskarte für ein Hallenbad gekauft. Diese Karte trägt neben dem Datum auch die Uhrzeit der computergesteuerten Registrierkasse, und er bewahrt sie in seinem Portemonnaie auf. Außerdem ist er dort ebenso unangenehm wie erfolgreich aufgefallen, als er mit einem viel zu großen Geldschein bezahlt hat, den die Kassiererin nur widerwillig annahm. Sie wird sich erinnern, falls das nötig wird.

Er hat das Schwimmbad nur wenige Minuten später wieder verlassen, ohne noch einmal gesehen zu werden, als er das Drehkreuz am Ausgang passierte.

Jetzt ist es zwölf Minuten nach acht. Er sitzt in einer Gaststätte mehr als dreißig Kilometer entfernt vom Ort der Entführung und bestellt ein Bier und eine kleine Mahlzeit, von der er hofft, dass sein rebellischer Magen sie nicht zurückweisen wird. Den Wirt, der seine Bestellung aufnimmt, bittet er, den Fernseher lauter zu stellen, damit er den Wetterbericht der Tagesschau verfolgen kann. Nichts ist ihm gleichgültiger als das Wetter, aber mit seiner Bitte hat er im Gedächtnis des Wirtes seine Anwesenheit zu einer bestimmten Zeit verankert. Diese Uhrzeit wird sich bei Bedarf abrufen lassen.

Er hält jetzt alle Fäden in der Hand. Von nun an wird es darauf ankommen, seine Karten wohlüberlegt und in der richtigen Reihenfolge auszuspielen. Niemand hat die Tat beobachtet. Es gibt keine Spur, die zu ihm hinführt. Zuhause vermisst ihn niemand, denn er hat sich bei seinen Nachbarn für eine längere Auslandsreise abgemeldet. Seine Rückkehr wird erst in ein paar Wochen erwartet werden, lange, nachdem diese Sache hier beendet ist.

Oben im Haus, in der Schublade seines Nachttisches, liegen ein falscher Reisepass und ein ebenso falscher Führerschein. Sie sind die relativ preisgünstig erstandenen Eintrittskarten zu seinem neuen Leben.

Es gibt keinen Grund mehr, noch länger hierzubleiben. Zufrieden setzt der Kidnapper das Bierglas an seine Lippen und trinkt es mit einem tiefen Zug leer. Dann winkt er den Wirt heran und bezahlt. Der zweite Akt kann beginnen.

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Er sitzt in einem altmodischen, mit durchgewetztem Stoff überzogenen Armsessel, dessen verblasste Farben von einem langen Leben erzählen. Es ist still im Haus, sieht man von dem monotonen Geräusch des Regens ab, der auf das Dach fällt, und von einem gelegentlicher Windstoß, der durch die Äste der Fichten streicht, die hinter dem Haus stehen und dessen Rückfront umschmeicheln.

Als er aus der Kneipe zurückgekommen ist, hat Britta in unveränderter Stellung auf dem Bett gelegen. Seit ein paar Minuten beginnt sie, sich von einer Seite auf die andere zu wälzen, wobei die Ketten an ihren Handschellen ein metallisches Klirren hören lassen.

Sie wird noch die ganze Nacht unter den Nachwirkungen des Fausthiebs leiden, aber das wird ihr geringstes Problem sein. Er fragt sich, wie sie den Schock verarbeiten wird, wenn sie begreift, was geschehen ist. Die ersten Stunden sind wichtig, denn er braucht ein Mindestmaß an Kooperation.

Er will ihr eine vernünftige Behandlung ohne unnötige Schikanen gewähren für den Fall, dass sie sich ruhig verhält. Sollte sie ihm Schwierigkeiten machen, dann ist er bereit, ihr zu zeigen, wie die Machtverhältnisse liegen. Er will mit dieser Macht so sparsam umgehen wie möglich, aber er wird kompromisslos von ihr Gebrauch machen, wenn Britta Stern seine Ziele in Gefahr bringt.

Sie ist die Stieftochter des Mannes, den er am meisten verabscheut, seit dieser ihn wegen einer Bagatelle rausgeschmissen hat, und zwar mit der Drohung, ihn sogar vor Gericht zu zerren. Bornemann ist schuld daran, dass Britta und Langer heute hier sind.

Kurz nach diesem Vorfall hat er ein Interview mit dem Unternehmer im Wirtschaftsteil einer Tageszeitung gelesen; demnach hofft der alte Drecksack, dass seine sehr vielversprechende Stieftochter eines Tages seine Firma weiterführen wird. Zu diesem Zweck studiert sie derzeit Betriebswirtschaftslehre an der Frankfurter Universität und hospitiert in der Firma.

Mit diesem Wissen als Grundlage ist Marc Langer so lange auf dem Campus der Uni herumgelungert, bis er ihren Stundenplan auswendig kannte. Mehrere Male ist er ihr auf ihrem Heimweg bis kurz vor die Haustür gefolgt. Dort hat er sie ursprünglich kidnappen wollen – ein reichlich gewagtes Unterfangen. Doch dann hat er herausgefunden, dass sie beinahe jeden Abend um dieselbe Zeit in einem Park unweit ihrer Wohnung joggen geht. Er hat sich die Gegend gründlich angeschaut und seine Meinung geändert. Der abendliche Park ist der geeignete Ort.

Während Britta langsam wieder zu Bewusstsein kommt, unterzieht er den Inhalt ihrer Gürteltasche, den er vor sich auf dem Tisch ausgebreitet hat, einer genauen Überprüfung; Ein Bund mit mehreren Schlüsseln, ein silbernes Handy (ausgeschaltet, dennoch entfernt er jetzt die Sim-Karte, weil er einmal gehört hat, dass diese Dinger auch im ausgeschalteten Modus angepeilt werden können. Er wird sie bei seiner nächsten Autofahrt entsorgen, wenn er es nicht vergisst); des Weiteren ein zerdrücktes Päckchen ultraleichter Zigaretten, zwei Tampons, einige Haarbänder, schließlich ein kleines Portemonnaie mit Hartgeld und eine Brieftasche mit hundertsiebzig Euro Bargeld, Ausweise, Führerschein und drei Kreditkarten, zwei in Gold, eine in Schwarz. Wozu sie diesen ganzen Kram beim Joggen benötigt, weiß wohl nur sie selbst. Zuletzt ein abgegriffenes kleines Adressbuch, das er vorläufig beiseitelegt.

Wieder klirren die Ketten. Er blickt auf und stellt fest, dass sein Gast wach ist. Nun, vielleicht noch nicht ganz, aber Brittas Augen sind geöffnet und fixieren die Decke. Er sieht das intensive Dunkelblau ihrer großen Augen. Blondes Gift, denkt er, und der Gedanke löst eine leise Unruhe in ihm aus.

Er steht auf, geht in die Küche, füllt ein Glas mit Leitungswasser und löst zwei Aspirin darin auf. Sie muss rasende Kopfschmerzen und einen höllischen Durst haben.

Sie reagiert nicht, als er ihr Blickfeld kreuzt. Er kann sehen, dass ihre Augen verquollen und gerötet sind, wahrscheinlich eine Folge des Chloroforms. Nur langsam! Es gibt keinen Grund, die Dinge übermäßig zu forcieren.

Ihr ausdrucksloser Blick erfasst ihr linkes Handgelenk und die mit einer Imitation von Samt gepolsterte Handschelle (die eigentlich frivoleren Zwecken dient und die man deshalb in einschlägigen Geschäften erwirbt) und versucht, dem Lauf der Kette zu folgen, die hinter dem Kopfende ihrem Blickfeld entschwindet. Mit Mühe wendet sie den Kopf nach rechts und findet dort das gleiche Bild vor. Die mit dieser Beobachtung verbundenen Fakten scheinen noch nicht vollständig zu ihr vorzudringen.

„Wo bin ich?“ - „Sie sind entführt worden. Ich werde Ihnen alles erklären, wenn Sie ganz wach sind, okay?“

Er setzt sich auf die Bettkante, hilft ihr in eine aufrechte Position und beginnt, ihr den Inhalt des Glases einzuflößen. Sie trinkt in kleinen Schlucken, wobei sich ihre Gesichtszüge verzerren, ob vor Schmerz oder aus Ekel (oder beidem), ist nicht zu entscheiden. Er stellt das halbleere Glas auf den Nachttisch und lässt ihren Kopf vorsichtig zurück auf das Kissen sinken. „Eins nach dem anderen“, sagt er nochmal, „kommen Sie erst einmal zu sich.“

Sie bleibt stumm und starrt wieder zur Decke. Ihr Entführer geht zurück zu seinem Sessel, trinkt einen Schluck Wodka Orange und zündet sich eine Zigarette an. Augenblicklich fing sie an zu husten. „Was rauchen Sie denn für einen Mist!“ Sein Gast wird munter; und der erste Kontakt ist hergestellt.

Es ist kurz vor halb elf. Wenn er vor Tagesanbruch noch genügend Schlaf bekommen will, muss er bald mit ihr reden und sie mit ihrer neuen Lage vertraut machen. Sie soll die Regeln lernen, nach denen dieses für sie beide wichtige Spiel funktionieren kann.

Er greift nochmals nach ihrem Adressbuch. Richtig, da ist etwas, an das er nicht gedacht hat. Es ist ihm in der ganzen Zeit, in der er seinen Coup geplant hat, nicht gelungen, die private Telefonnummer von Britta Sterns Stiefvater herauszufinden. Sie steht in keinem Telefonbuch, die Auskunft rückt sie nicht heraus und die elektronischen Verzeichnisse im Internet geben auch nichts her. Eine Geheimnummer, um den Pöbel fernzuhalten - Pöbel wie ihn.

Doch in diesem kleinen Büchlein bekommt er die Nummer frei Haus geliefert, unter „Didi“. Sie findet sich innen auf der Einbandseite und nicht im alphabetisch geordneten Teil, warum auch immer. Er denkt ein wenig über seine Entdeckung nach und kommt zu dem Schluss, dass ihm diese Telefonnummer eine ganze Nacht und einen halben Tag kostbarer Zeit einsparen wird. Wenn er im Lauf der nächsten Stunden einen Brief mit seinen Forderungen beim Empfänger einwirft und dann einen kurzen Anruf tätigt, um diesen Empfänger darauf hinzuweisen, dass sich etwas im Briefkasten befindet, dann …

„Warum ich?“ Er schreckt aus seinen Betrachtungen auf und schaut zum Bett, wo sich Britta gerade in eine bequemere Stellung bringt. Ihre Stimme ist jetzt fester. Die Tabletten und das Wasser tun ihre Wirkung.

„Es geht um Geld.“ Das ist zwar nicht ganz falsch, trifft aber auch nicht den Kern der Sache. Keine Antwort, stattdessen nur ein verdrossenes Gesicht, so als langweile sie das. Sie hat ihn noch nicht erkannt, obwohl die Wahrscheinlichkeit nicht gering ist, dass sie ihn in der Firma ihres Vaters oder später einmal auf dem Unigelände gesehen hat.

Oder auch nicht - wenn man Britta Stern heißt, dann schwebt man hoch über den Niederungen, in denen sich ein Marc Langer bewegt. Sie pflegt Aushilfen, die in ihrer Firma zum Mindestlohn arbeiten, schlicht zu übersehen. Sie hat einen Status zu wahren. Sie hat Geld. Sie kennt nur Leute, die Geld haben. Wenn sie ihn nicht erkennt, umso so besser.

„Es wäre vernünftig von Ihnen, wenn Sie mich in den kommenden Tagen nach Kräften unterstützten. Das geschieht am besten dadurch, dass Sie nicht ungefragt die Klappe öffnen und sich auch sonst ruhig verhalten. Ich will Ihnen nichts tun. Aber ich werde Ihnen etwas tun, wenn Sie Mist bauen. Sie sind die Erste, die es erfährt, wenn etwas schiefläuft. Verstanden?“

„Warum ausgerechnet ich?“ - „Sie passen in mein Beuteschema.“ Er lässt den Satz unkommentiert. Sie nickt schwach, scheint aber nicht beeindruckt zu sein. „Mein Stiefvater wird Ihnen den Arsch aufreißen“, sagt sie. „Ihre Hände zittern ja jetzt schon.“ Sie hat Recht, wie er mit einem Blick auf das Glas in seiner Rechten sieht. Sie hat es registriert und ihre Schlüsse gezogen.

Es ist Zeit für eine erste Lektion. Er steht auf, umkreist das Bett und versetzt ihr eine Ohrfeige. Sofort zeigt sich der Abdruck seiner vier Finger auf ihrer Wange. Sie beschwert sich nicht, sondern blickt nur zur Seite, die sonst vollen Lippen zu einem Strich verdünnt. Sie sollte jetzt wissen, woran sie bei ihm ist und wo seine Toleranz endet. Und sie wird zuerst nachdenken, bevor sie diese Grenze das nächste Mal überschreitet.

Jetzt, da die Male auf ihrer Wange gut sichtbar sind und ihr Blick noch getrübt, scheint ihm der richtige Moment für das Foto gekommen zu sein. Allzu gesund soll sie auf dem Bild nicht aussehen. Ihr Ernährer (wenn er auch nicht ihr Erzeuger ist) soll nicht auf den Gedanken kommen, dass sie hier im Ferienlager ist.

Er geht ins Nebenzimmer, nimmt Kamera und die Tageszeitung mit den großen Buchstaben vom Bett und kehrt zu Britta zurück. „So, einmal stillhalten“, sagt er. „Sie brauchen nicht zu lächeln.“ Ein Blitz zuckt auf, geblendet schließt Britta Stern die Augen. Langer wartet einen Moment lang, schaut sich das Resultat an und ist zufrieden – die Aufnahme wird ihren Zweck erfüllen.

Für eine Sekunde erschrickt er bei dem Gedanken, dass Bornemann seine Stimme am Telefon erkennen könnte. Aber das ist eher nicht anzunehmen, beruhigt er sich schnell; dieses eine Mal, bei dem sie sich begegnet sind, hat Langer kaum zwei Sätze herausgepresst, und seine Stimme hat belegt geklungen, weil er gerade realisiert hatte, in welcher furchtbaren Klemme er steckte. Nein, die Stimme sollte kein Problem sein.

„Woher wussten Sie, dass ich heute um diese Zeit im Park sein würde? Sie haben das doch sicher nicht spontan bei meinem Anblick getan, oder?“ - „Nein, dessen bedurfte es natürlich einer gewissen Vorbereitung. Das sehen Sie doch an der Einrichtung hier.“ Okay, diese Frage ist dämlich gewesen, denkt Britta.

„Ich folge Ihnen bereits seit einer gewissen Zeit auf Schritt und Tritt. Ich kenne Ihren Tagesablauf, Ihre Herkunft und die finanziellen Möglichkeiten Ihrer Familie.“ Sie muss nicht jedes Detail kennen, denn irgendwann wird er sie schließlich freilassen müssen.

„Scheiße“, stöhnt sie, „dann war das also nicht eingebildet von mir?“ - „Nein, ich war einige Male auf dem Campus ganz in Ihrer Nähe, bin Ihnen bis zu ihrer Wohnung gefolgt… und ich saß auch ein paarmal in Ihrer Nähe, als Sie mit der Straßen- oder der U-Bahn zu dem einen oder anderen Hotel fuhren. Apropos, was macht eine Studentin wie Sie eigentlich im ‚Hessischen Hof‘ oder im ‚Marriott‘, um nur zwei zu nennen?“

„Das geht Sie nichts an.“ – „Das ist richtig. Sorry, ich war nur neugierig.“ Ein Entführer, der sich entschuldigt, denkt Britta. Vielleicht wird es ja doch nicht so schlimm werden.

5

Bornemann hat längst geschlafen, als das Telefon direkt neben seinem Ohr zu klingeln beginnt. Er schreckt hoch und schaut ungläubig drein, als sein Blick den Wecker neben dem Apparat streift.

Was zum Henker…?!

Es ist zwölf Minuten nach drei. Niemand ruft um diese Zeit an. Außerdem kennen nur sechs, höchstens sieben Menschen diese Nummer. Es muss etwas Schlimmes geschehen sein.

Oder jemand hat sich verwählt. Das ist wahrscheinlicher. Die Telefongesellschaft hat ihm eine Nummer zugeteilt, die sich hervorragend für Zahlendreher eignet - lauter Neunen und Sechsen. Er muss sich eine andere Nummer geben lassen.

Die idiotischsten Anrufe hat er schon erhalten. Zum Beispiel den einer schwangeren Frau, die ihren Gynäkologen sprechen wollte und ihn auf das Abartigste beschimpfte, als er ihr – erbost über die nächtliche Störung - erklärte, dass er sich zwischen den Schenkeln einer Frau nur in seiner Freizeit betätigt.

Wutentbrannt zieht er an der Schnur über seinem Kopfende und die Deckenbeleuchtung flutet das Schlafzimmer. Mit dir fahr ich Schlitten, und das nicht zu knapp!

Beim vierten Klingeln nimmt er den Hörer ab, und wenige Sekunden später hat er die Gewissheit, dass es für heute vorbei ist mit seinem Nachtschlaf.

6

Der Anruf hat genau zehn Sekunden in Anspruch genommen. Es ist alles Wichtige gesagt worden.

„Gehen Sie zum Briefkasten! Sofort! Halten Sie sich an sämtliche Anweisungen! Keine Polizei, sonst bekommen Sie Ihre Stieftochter in kleinen Portionen zurück!“ Klick. Vorbei. So einfach geht das.

Britta hat bereits damit begonnen, die Spesen abzuarbeiten, die er ihretwegen gemacht hat. Ohne ihre Auskunft, dass die Überwachungskameras an Bornemanns Villa nur den Bereich innerhalb der hohen Grundstücksmauern abdecken, hätte er es vielleicht nicht gewagt, den Brief persönlich einzuwerfen. An den Briefkasten hingegen kann er ungesehen von außen gelangen. Dennoch ist er vorsichtig gewesen. Er hat einen unförmigen Anorak mit einer viel zu großen Kapuze übergezogen, ist gebeugt gegangen und hat sich ein paar Minuten lang darin geübt, das linke Bein nachzuziehen, bevor er sich dem Anwesen genähert hat. Seine Geisel ist zwar lammfromm seit der Ohrfeige, aber trauen kann er ihr deshalb noch lange nicht.

Einerlei, selbst wenn sie gelogen hat, wird man ihm kaum etwas anhaben können. Die Kapuze, der nach wie vor fallende Regen und das diffuse Licht der gut zwanzig Meter entfernten Straßenlaterne haben ihn praktisch unkenntlich gemacht.

Bornemann ist zu verdutzt gewesen, als dass er mehr als ein schrilles Quieken herausgebracht hätte. Aber er wird sich zum Briefkasten bequemen, der Schrecken, der ihm in die Glieder gefahren ist, war durch die Telefonleitung zu spüren.

Langer hat durch diese nächtliche Aktion einen ganzen Tag gewonnen. Seine Forderungen sind nun schon am Freitagmorgen auf dem Tisch und Bornemann hat deshalb einen zusätzlichen Werktag, um das Lösegeld zu beschaffen. Auch für Bornemann, der viele Millionen besitzt, ist es bestimmt kein Klacks, sich schnell und unbürokratisch anderthalb Millionen Euro in bar zu beschaffen. Langer kalkuliert mit Dienstag oder Mittwoch für die Übergabe des Geldes sowie die anschließende Freilassung der Geisel.

Der Alte ist wohl auf sich allein gestellt, denn ihre Mutter befindet sich nach Brittas Auskunft zu einer Kur in Süddeutschland und wird vor Ende nächster Woche nicht zurück sein. Britta glaubt nicht, dass ihr Stiefvater sie einweihen wird. Der Millionär wird diese Geschichte allein durchziehen, vorgeblich, um seine Frau nicht der Nervenbelastung aussetzen zu wollen; in Wahrheit hat er Angst, dass sie all seine Bemühungen um eine schnelle und lautlose Beilegung der Angelegenheit torpediert. Er wird vermutlich nur seinen Prokuristen einweihen - und natürlich seine Hausbank. Soweit Brittas Meinung, Langer hofft, dass sie damit richtig liegt.

Als er den Wagen anlässt, spürt Langer zum ersten Mal die Müdigkeit, die er bisher leidlich verdrängt hat. Er ist seit mehr als vierzig Stunden auf den Beinen, die meiste Zeit davon in höchster Anspannung. Seine Batterien sind fürs Erste erschöpft. Seine nächste Kontaktaufnahme steht erst am späten Abend an und ist lediglich visueller Natur. Bornemann soll durch ein Zeichen bestätigen, dass er zur Zahlung bereit ist. So lauten die Anweisungen, die er dem Alten in seinem Brief übermittelt hat.

Langer freut sich auf eine heiße Dusche, ein paar Drinks und viel Schlaf. Seinem Gast hat er einen kleinen Fernseher ans Fußende des Bettes gestellt. Zudem gibt es Dutzende von alten Zeitschriften und Taschenbüchern. Nur Arzt- und Liebesromane, aber immerhin. Britta Stern wird sich zu beschäftigen wissen, während ihr Gastgeber sich die dringend benötigte Auszeit nimmt.

7

Inzwischen ist es sieben Uhr und Bornemann sitzt – immer noch im Schlafanzug – zuhause in seiner Küche an dem großen Eichentisch, an dem sie in früheren Zeiten zu dritt gesessen haben, um gemeinsam ihre Mahlzeiten einzunehmen und die wichtigsten Dinge des Alltags zu besprechen. Das allerdings ist lange her.

Sein unablässig arbeitender Verstand brütet mit wachsender Verzweiflung immer neue Implikationen aus, die dieser dämliche Geiselgangster heraufbeschwören könnte, ohne es überhaupt zu wissen.

Er hat auf den Anrufbeantworter des Büros gesprochen und seine Sekretärin angewiesen, sämtliche Termine für heute abzusagen. Sie wird annehmen, dass er sich einmal mehr seinen Ausschweifungen hingegeben hat und deshalb nicht fit ist. Aber das ist ihm im Augenblick herzlich egal.

Sein Chauffeur hat ebenfalls einen Anruf erhalten, mit der knappen Weisung, zu Hause zu bleiben, sich jedoch für den Fall bereitzuhalten, dass er gebraucht wird.

Kurze Zeit hat Bornemann mit dem Gedanken gespielt, Margot anzurufen. Aber die Vorstellung davon, wie sie hysterisch werden, ihre Kur abbrechen und zuhause aufkreuzen könnte, hat ihn schnell eines Besseren belehrt. Er hat es aufgeschoben, denn er braucht einen kühlen Kopf, um diese Krise zu meistern, die auf ihn zurollt wie eine Lawine. Die Sorge um seine Stieftochter macht nur einen Teil seiner Probleme aus.

Es ist machbar, das Geld aufzutreiben, um sie frei zu bekommen. Das gesamte Vermögen der Familie mag um die vierzig Millionen betragen, vielleicht etwas mehr. Der Ärger beginnt damit, dass er das Geld nicht flüssig hat. Der größte Teil seiner Mittel steckt wie üblich in seinen verschiedenen Bauprojekten und wird erst zu einem späteren Zeitpunkt wieder zur Verfügung stehen. Margot hat genug eigenes Geld, aber sie will er nicht einbeziehen. Also bleibt ihm nur, seine Hausbank anzubetteln. So etwas braucht Zeit. Zeit, die ihm der Gangster nicht geben wird. Und außerdem wird seine Bank Fragen stellen, bevor sie ihm einen Koffer voll Euro, US-Dollar und Schweizer Franken in die Hand drückt.

Ein weiteres Hindernis besteht darin, dass er laut Gesellschaftervertrag über solche Summen nicht ohne die Unterschrift seiner Frau verfügen darf. Immer wieder hat er darauf gedrängt, diesen Passus streichen zu lassen. Aber sie ist stur geblieben, sie will wissen, was mit ihrem Geld geschieht. In der Praxis hat sie stets ungeprüft unterschrieben, was er ihr vorlegt. Diesmal wird das anders sein, wenn er sie nicht einweiht, und damit ist er wieder am Ausgangspunkt seiner Betrachtungen.

Nun ja, die Schweizer Konten sind eine Möglichkeit. Auf diesen liege die Millionen, die er im Laufe von zwanzig Jahren an seiner Gemahlin und am Finanzamt vorbei ins Ausland geschafft hat. Schwarzgeld, das er zu einem Teil dazu nutzt, die politische Landschaft zu pflegen (und notfalls auch mal einen störrischen Beamten zu bestechen, der es mit den Brandschutzmaßnahmen eines Neubaus zu genau nimmt).

Margot scheidet also aus. Sie würde ein Geschrei anheben, welches man bis Timbuktu hören kann. Binnen Stunden hätte er hier eine Hundertschaft Polizei im Haus, und wenig später stünden die Hyänen von der Presse vor der Tür. So geht es nicht. Ein Teil seiner Geschäftstätigkeiten verträgt einfach nur ein begrenztes Maß an Öffentlichkeit.

Er erschrickt, als er das Klimpern eines Schlüsselbundes im Korridor hört. Natürlich, gleich halb acht. Frau Klein, die Haushälterin. Er steht auf, zieht sich den Bademantel über und geht ihr eilig entgegen. Den Brief des Geiselnehmers steckt er in die Tasche.

„Morgen“, schnarrt er, „wir brauchen Sie heute nicht. Sie können wieder nach Hause gehen.“ Noch bevor die ältere Dame sich ihres Regenmantels entledigen kann, hat er sie bereits wieder zur Haustür hinausgedrängt. Kopfschüttelnd geht sie den Gartenweg hinunter. Es wäre eine Menge zu tun an diesem Vormittag. Aber als sie das Gartentor erreicht hat, überwiegt bereits die Freude über den unverhofften freien Tag. Wenn es dem gnädigen Herrn so beliebt, bitte sehr! Hauptsache, er bezahlt ihr diesen Tag.

Derweil stellt Bornemann seine Kaffeetasse selbst in die Spülmaschine und geht zu seiner Hausbar im Wohnzimmer. Er braucht jetzt etwas Stärkeres als Kaffee. Ein ordentlicher Drink wird seinen Verstand wieder ins Laufen bringen. Nachdem er sich einen mehrstöckigen Jack Daniels ohne Eis oder Wasser eingeschenkt hat, lässt er sich auf das breite Ledersofa plumpsen, schaut hinaus in den Garten und fasst einen ersten Entschluss. Er wird Kiepert anrufen. Sein Prokurist ist ein gerissener Schlaumeier, wie er im Buche steht. Er weiß immer Rat, und das ist auch weiß Gott sein Job, für den er ein obszön hohes Gehalt bezieht. Mit ihm hat Bornemann schon ganz andere Schlachten geschlagen.

Bevor er ihn gehört hat, wird er keine Entscheidungen fällen. Er hat noch Zeit bis zum Abend, wenn er wieder Kontakt zu diesem Gangster aufnehmen muss. Er wird sie nutzen, so gut es geht. Wieder nimmt er den Brief mit den Forderungen und dem Foto zur Hand. Mit der anderen Hand führt er sein Glas an die Lippen. Der Whisky schmeckt genau richtig.

kollateral

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