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Erstes Kapitel
ОглавлениеRobert Lang
Magistrale
Roman
Atomanlage Majak, Region Tscheljabinsk, Russland
Die beiden Männer schauten zu, wie das letzte der neun Fässer auf den Lastwagen gerollt wurde. Die Etiketten auf diesen Fässern versicherten in russischer und englischer Sprache, dass sie verbrauchtes Getriebeöl für Großanlagen enthielten, was früher auch tatsächlich der Fall gewesen war.
Die riesige Halle war grell ausgeleuchtet, durch das haushohe, halbgeöffnete Schiebetor sah man das Schneetreiben draußen auf dem Werksgelände. Es ging auf Mitternacht zu, niemand arbeitete mehr um diese späte Stunde, mit Ausnahme der zwei Männer an der Rampe, die mit dem Beladen beschäftigt waren. Auch sie durften bald nach Hause gehen und dann würde für einige Stunden Ruhe einkehren, bis die Frühschicht eintraf.
Die Fahrt konnte wegen des Wetters unangenehm werden, auch wenn sie kurz war. So spät abends war kein Räumdienst mehr unterwegs. Aber der Fahrer war ein alter Hase und an solche Bedingungen gewöhnt; sein Laster hatte Allradantrieb und man hatte sicherheitshalber Schneeketten aufgezogen.
Einer der Arbeiter spannte einen breiten Gurt quer über die Ladefläche und zurrte ihn so fest, dass die Fässer weder umfallen noch verrutschen konnten. Dann sprang er hinab und drückte einen Knopf an der Seitenwand des Fahrzeuges, worauf sich die hydraulisch betriebene Heckklappe beinahe geräuschlos schloss.
Der Direktor sah seinen Geschäftspartner an. „Sie wissen hoffentlich, wie Sie mit dem Material umzugehen haben. Ich muss gestehen, dass der größte Teil der Informationen, die mir unsere Chemiker gegeben haben, für mich völlig unverständlich war. Ich bin kein Mann der Wissenschaft, sondern nur ein verknöcherter alter Bürokrat. Mit Isotopen, Halbwertszeiten, Spontanentzündung oder Gammastrahlung kann ich nichts anfangen. Man hat mir nur gesagt, dass dieses Plutonium nicht hoch genug angereichert ist für den Bau von Atomwaffen – aber auch darüber weiß ich im Grunde nur wenig.“
„Das müssen Sie auch nicht, Direktor, ebenso wenig wie ich. Ich verlasse mich auf Ihre und natürlich auch auf meine Spezialisten. Mir reicht die Zusicherung aus, dass der drei- oder vierwöchige Transport dieser Röhren technisch kein größeres Problem darstellt. Das genügt mir.“
„Nun ja, wir hatten ja bereits darüber gesprochen, dass der Umgang mit diesen Stoffen ein gewisses Risiko birgt. Wir konnten wegen des Gewichts der Röhren, das ein limitierender Faktor ist, eine Bleihülle mit einer Stärke von nur fünf oder sechs Millimetern benutzen. Diese wiederum ist verstärkt mit einer Außenhaut aus anderthalb Zentimeter leichten Aluminiums, das aber kaum Schutz vor der austretenden Strahlung…“
„Sie wiederholen sich, mein Freund. Ich habe Vorkehrungen getroffen, was das angeht. Und ich denke, jetzt fehlt mir nur noch das Polonium“, sagte der kleinere der beiden Männer, die das Treiben beobachtet hatten. Der Angesprochene griff in seine Manteltasche und holte ein Röhrchen mit einer pulvrigen, mattsilbern glänzenden Substanz hervor.
„Dreißig Gramm, wie besprochen. Wir produzieren es gar nicht mehr - das glaubt zumindest der Rest der zivilisierten Welt. Wenn man mich erwischen sollte, dann wegen dieser paar Gramm, deren Fehlen auffallen wird, weil der Stoff so selten ist. Weltweit werden kaum hundert Gramm pro Jahr hergestellt. Von dem Zeug in den Fässern habe ich so viel, dass der Schwund wahrscheinlich erst bei der nächsten Inventur auffallen wird – und die ist Ende Juni.
Sie sollten das Polonium bald verwenden, meine Chemiker haben mir gesagt, dass es eine Halbwertszeit von nur viereinhalb Monaten hat.“
Kuljamin schauderte, als er daran dachte, dass man mit diesem nicht einmal halbvollen Röhrchen Polonium dieses Isotops eine mittelgroße Stadt vergiften konnte, wenn man es nur richtig anstellte; und dass dies auch wahrscheinlich geschehen würde, wenn es nach dem Willen seines Kunden ging.
„Achten Sie darauf, dass es bis zu seiner Anwendung gut verschlossen bleibt, es ist absolut tödlich, wenn es in Ihren Körper gelangt. Ein Bruchteil eines Milligramms genügt, hat man mir gesagt.“
Der Käufer nahm das Röhrchen entgegen und steckte es behutsam ein. Es hatte ihn drei Millionen Dollar gekostet, für das gesamte andere Gift, das sich in den Röhren befand, waren weiterer neun Millionen fällig gewesen.
„Ich werde es schon bald an meinen Kurier weiterreichen und hoffe, dass es in der kurzen Zeit bis zu seinem Gebrauch keinen Schaden anrichtet. Sie haben mir das zugesichert, mein Freund.“
Es behagte dem Direktor nicht, wenn ihn der Ausländer ständig als Freund bezeichnete. Bei seiner ersten Kontaktaufnahme vor sechs Wochen hatte er sich als gebürtiger Libanese mit kanadischem Pass vorgestellt. Das konnte die Wahrheit sein oder auch nicht, im Prinzip machte es keinen Unterschied, solange das Geld wie versprochen floss.
Sein Geschäftspartner besaß einen olivfarbenen Teint und war bis auf einen kleinen Oberlippenbart glatt rasiert. Er besaß eine äußerst gepflegte Erscheinung, trug einen braunen Kaschmirmantel über einem hellgrauen Zweireiher, der in London, Rom oder Paris ein kleines Vermögen gekostet haben musste. Seine teuren Schuhe waren jetzt schmutzig vom Schneematsch und seine Fellmütze aus kostbarem Zobel trug er mit heruntergeklapptem Ohrenschutz, was in Russland bei den vergleichsweise milden Temperaturen als unmännlich galt; Kuljamin ließ es unkommentiert.
Dennoch musste er zugeben, dass der Mann eine beeindruckende Person war, die weder in diese schmutzige Halle noch in diesen so hässlichen und von Menschenhand verseuchten Teil Russlands passte. Dagegen empfand sich der Russe selbst als beinahe schäbig; in seinem zerschlissenen Anzug, den seine Frau schon unzählige Male geflickt hatte, mit seiner gekrümmten Haltung, den tiefen dunklen Ringen unter wässrig blauen Augen, die ihn als willensschwachen Gewohnheitstrinker entlarvten, war er seinem Gegenüber sichtlich unterlegen.
Aber das würde sich ändern, denn mit zwölf Millionen Dollar konnte man den Kopf ein wenig höher tragen; und geflickte Anzüge wären bald auch kein Thema mehr.
„Was werden Sie jetzt tun, Direktor?“
Der Mann, den Kuljamin nur als den Vermittler kannte, versuchte sich zum Abschied noch einmal in Konversation. Es interessierte ihn wenig, was der andere Mann tat - Hauptsache, er ließ sich nicht erwischen, bevor das radioaktive Material außer Landes war. Danach sollte ihn der Teufel holen, wenn der ihn haben wollte.
„Laufen, so schnell und so weit, wie ich es kann. Ich habe weniger als eine Woche Zeit, Russland verlassen. Den größten Teil dieser Zeit werde ich dazu benötigen, nach Moskau zu fahren und mir dort die nötigen Papiere für meine weitere Flucht zu beschaffen.“
In spätestens einer Woche würden sie ihn jagen, mit allem, was sie zur Verfügung hatten. Niemand bestahl eine russische Atomanlage ungestraft.
Er würde die nächsten drei oder vier Stunden noch hier in seinem Büro bleiben und dann direkt zum Bahnhof fahren, wo am frühen Morgen sein Zug nach Samara ging.
„Ich mache einen Umweg, um meine Spur so gut wie möglich zu verwischen. Einen Koffer mit dem Notwendigsten habe in meinem Büro stehen.“
Er lächelte, es war ein kaltes, humorloses Lächeln auf einem teigigen, verlebten Gesicht. „Ich habe meine Frau für ein besonders langes Wochenende zu ihren Verwandten nach Saratow geschickt. Sie wird erst am Mittwochabend zurück sein. Außerdem habe ich nach dem ohnehin freien Wochenende drei Tage Urlaub. Wenn man anfängt, mich zu vermissen, sollte ich längst im Flugzeug nach George Town auf den Cayman Islands sitzen.“
Dass der Mann wusste, wohin Kuljamins Reise ging, ließ sich nicht vermeiden, schließlich hatte der Araber das Konto für ihn eingerichtet und den Judaslohn darauf eingezahlt. Die Spielregeln wollten es, dass der neue Kontoinhaber mindestens einmal persönlich bei der Bank vorsprechen musste, um über sein Geld verfügen zu können. Später sah das anders aus, dann konnte er es von einem beliebigen Ort aus verwalten.
„Ich wünsche Ihnen gutes Gelingen, mein Freund. Mit den Millionen, die Sie nun bald haben, sollte es Ihnen leicht fallen, ein ebenso standesgemäßes wie diskretes Leben zu führen, wo immer Sie das tun wollen.“
Bevor der Direktor antworten konnte, näherte sich der Fahrer des Lastwagens und signalisierte, dass er bereit zur Abfahrt war.
„Schicken Sie mir den Mann so schnell wie möglich zurück. Ich werde auf ihn warten, weil ich wissen muss, ob alles geklappt hat. Und um ihn zu bezahlen.“
„Wenn er in drei Stunden nicht zurück ist, dann ist in der Tat etwas schiefgegangen. Und das möge Allah verhüten!“
Dem Direktor des staatlichen Lagers für spaltbares Material in der riesigen Nuklearanlage Majak am Ural wurde noch einmal überdeutlich bewusst, dass es fanatische, menschenverachtende Terroristen waren, mit denen er dieses Geschäft gemacht hatte. Aber es war zu spät für derlei Skrupel, die dreiste Tat war begangen und es gab kein Zurück mehr. Er verabschiedete sich hastig und ohne Händedruck von dem Mann, der ihn zum Dieb, zum Verräter, zum Heimatlosen und zum vielfachen Millionär gemacht hatte, und er war schon auf dem Weg zu seinem Büro, als dieser den Lastwagen mit der brisanten Ladung auf der Beifahrerseite bestieg.
Obwohl die Scheibenwischer des Lastwagens Beachtliches leisteten, konnte man die Straße kaum erkennen, so dicht fiel inzwischen der Schnee.
Yassir Hossein schaute hinüber zu dem Fahrer, der eine übelriechende Zigarette der Marke Belomorkanal im Mundwinkel hängen hatte, auf deren langem Filter er mit offensichtlichem Genuss herumkaute. Dabei saß er völlig entspannt hinter dem Lenkrad und blinzelte mit fast geschlossenen Augen hinaus in das wilde Schneegestöber.
Die Papiere waren in Ordnung, wie der Direktor es versprochen hatte. Nach einem ehrfürchtigen Blick auf die vielen Stempel, mit denen der Passierschein und die Frachtpapiere versehen waren, hatte die Wache am Haupttor seinen Besucherausweis entgegengenommen und salutierend den Weg freigegeben. Russen hatten ein beinahe erotisches Verhältnis zu behördlichen Stempeln – je mehr von ihnen ein Dokument trug, desto weiter kam man damit.
Die Fahrt dauerte auch unter diesen widrigen Umständen nur wenig mehr als eine Stunde. Von Osjorsk ging es auf einem Sträßchen, das bis vor einigen Jahren ausschließlich militärisch genutzt wurde, zu einem abgelegenen Parkplatz außerhalb der Regionshauptstadt Tscheljabinsk. Dort sollten die Fässer geleert werden. Wenn dies geschehen war, würde sich am Boden eines jeden Fasses ein metallener Zylinder von neunzig Zentimetern Länge und dreißig Zentimetern Durchmesser zeigen, dessen gefährlicher Inhalt Anlass für diese Unternehmung war. Diese neun Bleiröhren würden anschließend im doppelten Boden eines bereitstehenden Lastwagens verschwinden, der offiziell eine unverdächtige Ladung gebrauchter Maschinenteile, Hydraulikpumpen und sonstige Apparaturen transportierte, und dessen Bestimmungsort laut Frachtschein und Ausfuhrerklärung die Stadt Oral kurz hinter der Grenze zu Kasachstan war.
Aber sechs dieser neun Zylinder würden nie in Kasachstan ankommen. Obwohl sie dasselbe Ziel hatten, sollten sie nach wenigen Kilometern ein zweites Mal umgeladen werden und einen anderen Weg nehmen. Drei reisten über die Ukraine und Polen nach Dresden, die Übrigen sollten über Noworossijsk und das Schwarze Meer zunächst nach Athen verschifft werden.
Der Fahrer setzte den Blinker und bog in den einsamen Parkplatz ein. An dessen Ende wartete – unbeleuchtet und mit laufendem Motor - der Lastwagen, der die Ladung übernehmen sollte.
Der ganze Vorgang dauerte keine zehn Minuten. Der russische Fahrer sollte zurück zur Anlage fahren und den Wagen auf seinen Parkplatz stellen, nachdem er die leeren Fässer auf einer Müllhalde abgeladen hatte, die sich außerhalb des Werksgeländes befand.
Für den Vermittler, der weder Libanese noch Kanadier war, sondern ein Kuwaiter, war die lange Reise, die ihn in den vergangenen Wochen durch halb Europa und Teile Mittelasiens geführt hatte, beinahe zu Ende. Es war angerichtet, alles Weitere lag jetzt in den Händen derer, die er sorgfältig für diese Mission ausgewählt hatte.
Die beiden Männer, die diese Ladung übernahmen, waren ganz offenbar mittelasiatischer Herkunft. Sie würden an der Grenze zu Kasachstan nicht auffallen.
Kuljamin hatte ihn darauf hingewiesen, dass die Hüllen der Röhren sich erwärmen würden, was die Folge der Strahlung ihres Inhalts war. Man hatte aber die Mischung von stark, mittel und schwach aktivem Material so gewählt, dass die Erwärmung zu keinem Zeitpunkt sechzig Grad Celsius überschreiten würde.
Das war bei den ersten Grenzübergängen kein Problem; vor der Grenze zu Deutschland allerdings – das hatte der Direktor empfohlen – würde man die Röhren kühlen müssen, weil sie sonst von Wärmesensoren (die hauptsächlich zum Aufspüren von illegalen Grenzgängern benutzt wurden) entdeckt werden konnten. Ein oder zwei handelsübliche Zehn-Kilo-Säcke Eis wären genug, um den Zoll zu überlisten.
Die Überlebenschancen der Fahrer waren mäßig bis gering. Langwellige Strahlung würde mühelos die Hülle der Zylinder durchdringen und über die Atemluft oder durch Berührung in den Körper der Männer gelangen, akute schwere Strahlenkrankheit nach etwa drei bis vier Tagen wäre die Folge.
Der Vermittler, der das wusste, hatte diesem Umstand von Anfang an Rechnung getragen, indem er jeden Transport in mehrere Abschnitte unterteilt hatte; spätestens alle vier bis fünf Tage würden die Fahrer ausgetauscht und bezahlt werden. Dass sie ihren Lohn kaum mehr würden genießen können, stand auf einem anderen Blatt. Es gehörte zu einer solchen Unternehmung und war nicht zu vermeiden. Hätte man mehr Blei für die Herstellung der Röhren verwendet, wären sie so schwer geworden, dass ein einzelner Mann sie nicht mehr hätte tragen können.
Der Araber spielte kurz mit dem Gedanken, Kuljamins Fahrer zu töten und ihn zusammen mit seinem LKW in einem abgelegenen Waldstück verschwinden zu lassen. Aber er besann sich schnell eines Besseren – der arme Teufel hatte das Kennzeichen des anderen Wagens nicht zu Gesicht bekommen, weil es vorsorglich abgedeckt worden war. Die fast verblichene kasachische Plakette am Heck hatte er vielleicht bemerkt, aber mit diesem Wissen konnte er kaum jemandem schaden. Außerdem würde das Fehlen von Laster und Fahrer schnell bemerkt werden und einen Alarm auslösen, und das konnte niemand wollen.
Nachdem die Ladung verstaut war, gab er dem Russen ein Zeichen, dass er verschwinden könne, und wandte sich dann an die beiden anderen Fahrer, um sie nochmals zu instruieren. Sie sollten ihn am Tscheljabinsker Flughafen absetzen und dann auf der Magistrale 1 nach Süden fahren. In einer kurzzeitig angemieteten Garage nahe einer Kleinstadt, etwa sechzig Kilometer von diesem Parkplatz entfernt, war ein weiterer Treffpunkt vereinbart worden. Dort wurde die Fracht endgültig aufgeteilt und auf den langen Weg nach Deutschland gebracht.
Wenn die Fahrer nicht bummelten und sich regelmäßig abwechselten, war es trotz eingeplanter Umwege und auf schlechten Straßen eine Sache von nicht mehr als fünf Tagen, das Land zu verlassen.
Das Röhrchen mit dem Polonium würde der Vermittler selbst nach Moskau mitnehmen, wo er in Richtung Saudi-Arabien umstieg. Am Flughafen sollte ihn sein vierter und letzter Kurier treffen und ein bis zwei Wochen nach der Übergabe mit einem gewöhnlichen PKW in Richtung Finnland aufbrechen, um von dort über Schweden und Dänemark nach Deutschland weiterzureisen. Grigorij Laschtunow hieß der Mann, er hatte angeblich Vorfahren in der finnischen Stadt Lahti, daher auch sein Familienname und sein hellblondes Haar.
Yassir Hossein hatte – ganz in Sinne seines Auftraggebers – redundant geplant. Wenn nur die Hälfte des von ihm bereitgestellten Giftes seinen Bestimmungsort erreichte, war es mehr als genug.
In spätestens vierundzwanzig Stunden würden reichlich einhundertzwanzig Kilogramm radioaktiven Materials – genug für mehrere „schmutzige“ Bomben - sowie ein kleines Röhrchen mit tödlich giftigem Polonium auf vier verschiedenen Routen auf dem Weg nach Frankfurt am Main sein, dem Wohnort eines Bundeswehrsoldaten, der vor acht Wochen einen großen Fehler gemacht hatte, indem er den Amerikanern in Afghanistan den Tipp gab, ein Gebäude zu bombardieren, welches sich später als Schulhaus herausstellte.
Sollte Direktor Kuljamin mit seinem Diebstahl schon in den nächsten drei oder vier Tagen auffliegen, so würde Hossein das erfahren und seine Fahrer alarmieren, bevor sie die Landesgrenzen zu überschreiten versuchten. In einem solchen Fall sollten sie sichere Schlupfwinkel ansteuern und warten, bis der Pulverdampf an den Grenzen sich wieder gelegt hatte. Der tödliche Anschlag auf Frankfurt lief niemandem davon, sie hatten Zeit und konnten sich notfalls wochenlang eingraben und nichts anderes tun als warten.
*
Atomanlage Majak
Noch-Direktor Kuljamin saß am Schreibtisch seinen kleinen Büros, wo er in den vergangenen siebzehn Jahren seine Pflicht erfüllt hatte. Er würde es nicht vermissen; nicht dort, wohin er jetzt ging.
Es war wohl so etwas wie Ironie des Schicksals. Seine Frau hatte ihm in den letzten Jahren mal mehr, mal weniger die Hölle heiß gemacht, weil er nicht zu den Männern gehört hatte, die vom Ende der Sowjetunion profitierten, indem sie in die neu entstehende Privatwirtschaft mit ihren traumhaften Gewinnchancen eingestiegen waren. Wie oft hatte sie ihm vorgerechnet, dass heutzutage eine Sekretärin in Moskau mehr verdiente als er, der sein ganzes Leben im Staatsdienst zugebracht hatte? Hundertmal? Tausendmal?
Und was tat er? Er schwieg, machte ab und zu Schulden, um ihr ein paar ihrer kostspieligen Wünsche erfüllen zu können, wenn sie wieder einmal zu lautstark lamentiert hatte. Dabei litt er leise, aber ausdauernd vor sich hin, träumte von Sonne und Palmen und trank mehr, als für ihn gut war.
Mit seinen fast vierundsechzig Jahren – er war drei Tage vor Stalins Tod geboren – war er Kind seiner Zeit geblieben und in den Denkmustern der alten Sowjetunion gefangen, wo Eigeninitiative und der Mut zum Risiko als sozial auffällig galten und bestenfalls in die innere Emigration führten.
Und dann, an einem frostigen Tag Anfang Januartag, bot sich ihm die einmalige Chance in Person dieses Vermittlers, der aus dem Nichts kam und ihm das anbot, was ein Mensch wie er sich als Paradies auf Erden vorstellte.
Zwölf Millionen Dollar (plus eine halbe für seine Komplizen) für einhundertzwanzig Kilogramm nuklearen Brennstoffes, stark und mittelstark strahlendes Material, das Zeug, das für schmutzige Bomben taugte, und von welchem Kuljamin in diesem mithilfe der Amerikaner erbauten Lager etliche Tonnen verwahrte und vor etwaigen Dieben zu beschützen hatte.
Gegen Diebe von außen, nicht aber von innen, wie sich jetzt zeigte, aber dafür, dass er ihnen das vorführte, bekam er keinen Orden, sondern bestenfalls einen Genickschuss auf irgendeinem nächtlichen Hinterhof, wenn sie seiner habhaft wurden. Sicher würden sie ihn vorher foltern. Eine Gänsehaut durchlief seinen Körper jedes Mal, wenn er daran dachte. Hatte er das alles noch im Griff? Taugten seine Pläne und Vorkehrungen? Hielten seine Nerven diesen Druck lange genug aus? Es würde sich zeigen. In einer Woche war er entweder frei und sehr wohlhabend – oder sie schnappten ihn und er war so gut wie tot.
Um sich abzulenken, nahm er eines der Geldbündel, die ihm sein geheimnisvoller Geschäftspartner heute als zweite Rate mitgebracht hatte. Die erste Anzahlung hatte er größtenteils dafür aufgewandt, diejenigen Mitarbeiter und Wächter zu schmieren, ohne deren Mithilfe oder Wegsehen ein solches Unterfangen nicht möglich war. Er begann, die Hundert-Dollar-Noten zu zählen. Sie waren bankfrisch und fühlten sich gut an in seinen Händen.
Er dachte wieder an seine Frau. Wenn die sehen würde, was er jetzt sah, würde sie einen bühnenreifen Zusammenbruch erleiden. Wie würde sie reagieren, wenn in ein paar Tagen der FSB vor ihrer Tür stand und sie darüber unterrichtete, dass ihr vermeintlich so feiger und phantasieloser Gatte, dieser Versager, eines der größten Schurkenstücke des einundzwanzigsten Jahrhunderts aufgeführt und sie alle geleimt hatte.
Ein Blick zur Uhr, die über dem Porträt des aktuellen russischen Präsidenten hing und die auch schon über dem von Breschnew gehangen haben musste - der Fahrer sollte bald zurück sein.
Kuljamin musste in spätestens einer Stunde mit seiner Dienstlimousine nach Tscheljabinsk aufbrechen, wo um sechs Uhr dreißig sein Zug abfuhr. Er hatte einen normalen Schnellzug gewählt, für den er ein nicht personalisiertes Ticket kaufen konnte; es würde deshalb keinen Beweis dafür geben, dass er diesen Zug benutzt hatte. Bei einem der modernen Expresszüge wäre das anders, denn dort stünde sein Name auf dem Fahrschein und wäre deshalb auch im Computer der Staatsbahn gespeichert.
Eigentlich war es überflüssige Vorsicht, weil er einen Vorsprung von mehreren Tagen haben sollte, aber er fühlte sich besser, wenn er ein paar Schlenker machte und zuerst nach Samara fuhr, von dort nach Smolensk im äußersten Westen Russlands flog und schließlich mit einem weiteren Zug in Moskau ankam, wo er ab übermorgen ein Zimmer im Hotel „Ismailowo“ am Ismailowskij Park gebucht hatte.
Er hatte einen Tipp bekommen, und er hoffte, dass sich dieser als richtig erwies. Er sollte einen echten Reisepass für nicht mehr als achtzehnhundert Dollar bekommen; die Adresse des Fälschers, der ein Angehöriger des tschetschenischen Untergrunds war und der in der Nähe der U-Bahn-Station Kiewskaja in einem Kellerlokal arbeitete, trug er bei sich. Es würde keine dummen Fragen geben, Kuljamin brauchte nur ein Passbild und genügend Geld mitzubringen, die Daten seiner gewünschten neuen Identität auf einen Zettel zu kritzeln und die Hälfte des Preises vorab zu entrichten. Achtundvierzig Stunden später konnte er das Dokument abholen, sein Ticket in die ersehnte Freiheit.
Es war zwei Uhr vierzig und er hörte schlurfende Schritte auf dem Gang. Der Fahrer war zurück. Außer ihm hatte um eine solche Uhrzeit niemand mehr etwas in diesem Teil des Gebäudes zu suchen. Der Direktor sprang auf und empfing den Mann an der Tür, damit dieser die dicken Geldbündel auf dem Schreibtisch nicht zu sehen bekam.
„Vsjo v parjadke?“
„Da, konjeschno.“ Es war alles in Ordnung. Kuljamin atmete auf.
Fünfzig Einhundert-Dollar-Noten wechselten den Besitzer, der Fahrer strahlte übers ganze Gesicht, wobei ein paar faulige Zahnstummel sichtbar wurden. Wer konnte sich heutzutage in Russland noch anständigen Zahnersatz leisten? Ein einfacher Arbeiter bestimmt nicht.
„Spassibo, spassibo bolschoj, Gospodin Direktor!“ Der Fahrer machte allerhand tiefe Verbeugungen.
Nichts zu danken, mein Guter. Lass dir dein Gebiss richten, du armes Schwein, dachte Kuljamin, tätschelte dem Mann die windschiefe Schulter, legte noch zwei Scheine drauf und fragte ihn, ob er die leeren Fässer wie befohlen zur Müllkippe gebracht hatte, bevor er zurück auf das Gelände gekommen war. Das war der Fall und der scheidende Direktor trug dem Mann auf, schleunigst zu vergessen, was er heute Nacht getan hatte.
Mit einer weiteren Geste der Demut verabschiedete sich der Mann und verschwand im Halbdunkel des nächtlichen Korridors.
Jetzt war es an der Zeit für den eigenen Abgang. Der künftige Edelpensionär zog Mantel und Fellmütze an, packte das Geld zurück in den Aktenkoffer, nahm diesen und sein schmales Reisegepäck und ging zur Tür. Im Rahmen drehte er sich nochmals um und blickte zurück.
Ein unbeschreibliches Gemenge aus panischer Angst und irrsinniger Vorfreude vereinigte sich in seiner Brust, er musste einige Male tief Luft holen, um sich wieder zu fangen. Dann zog er ein Schlüsselbund aus der Manteltasche und schloss das Büro ab – es war der letzte Akt eines alles in allem vierzigjährigen Dienstes am Vaterland, das ihm diesen nur schlecht gedankt hatte. Und das hatte es nun davon.
*
In 11.000 Meter Höhe
Der Vermittler nahm einen letzten Schluck des hervorragenden Weines und stellte das Glas auf das kleine Tischchen vor dem Nachbarsitz, der zu seiner Befriedigung frei geblieben war.
Er hatte gelernt, auf Flügen zu schlafen wie in seinem eigenen Bett, und er hatte die Absicht, dies auch auf dem Weg von Moskau nach Riad zu tun.
In der russischen Hauptstadt hatte er seinen letzten Kurier getroffen und ihm auf einer Flughafentoilette das Röhrchen mit dem Polonium zugesteckt; so wenig das auch war, es war genügend Gift, um zum Alptraum einer jeden Stadt zu werden, wenn es in die Nahrungskette oder das Trinkwasser gelangte; und das war schließlich das erklärte Ziel.
Saudi-Arabien war seine vorläufig letzte Station. Von dort aus würde er nach Dubai reisen, wo er im 142. Stock des Burj Khalifa ein großes Appartement bewohnte, in dem sich auch sein Büro befand.
Die USA, wo er zwischen einer Villa in St. Augustine, Florida und einer Wohnung in New York City wählen konnte, würde er nicht wieder aufsuchen. Das war dem jetzigen Stand der Dinge nach zu gefährlich, und deshalb würde er diese beiden Immobilien abstoßen, bevor es in Deutschland zu dem großen Knall kam.
Aber zunächst musste er seinem Auftraggeber – der diese ganze Choreographie des Terrors bezahlte - Rechenschaft ablegen über das, was er in den vergangenen Wochen geleistet hatte; und das war beachtlich gewesen.
Er hatte die vermutlich größte Menge radioaktiver Substanzen beschafft, die je in die Hände einer Privatperson gelangt war. Er hatte vier verschiedene Routen entworfen, auf denen dieses Material nach Deutschland gelangen würde, wo es zur Anwendung kommen sollte.
Er hatte zu diesem Zweck, für Transport, Zwischenlagerung, die Anmietung von Verstecken und für den großen Anschlag selbst etwa fünfundzwanzig Leute angeworben (Informanten nicht mitgerechnet), teils für viel Geld, teils für wenig Geld, und dort, wo Geld nicht zählte, sondern nur der Glaube, mit dem Versprechen einer reichen Belohnung nach diesem Leben.
Er hatte Leute miteinander vernetzt, die sich noch nie begegnet waren und die sich später auch nie wieder begegnen würden, hatte Bankkonten eröffnet, die nur wenige Wochen existieren würden; er hatte E-Mail-Postfächer mit unverdächtigen Adressen eingerichtet, Handys gekauft, die nur einmal benutzt und dann weggeworfen werden würden, und er hatte Einmal-Codes verbreitet, die nicht zu knacken waren und die während der Operation dazu benutzt werden sollten, die Kommunikation zwischen den einzelnen Teams sicherzustellen, sofern sich dies als notwendig erweisen sollte.
Er hatte knapp dreizehn Millionen Dollar ausgegeben, ein Betrag, in dem seine Provision in Höhe von acht Millionen noch nicht inbegriffen war.
Sein Auftraggeber, ein kränkelnder wahhabitischer Eiferer, konnte zufrieden sein, denn sein Vermittler hatte all das geleistet und dabei weniger als die Hälfte des Geldes benötigt, das er für das große Feuerwerk ausgelobt hatte.
Sicher, die New Yorker Anschläge vor etlichen Jahren waren preisgünstiger gewesen, sie waren bis heute ein regelrechtes Lehrstück in Effektivität. Dafür würde aber diesmal der Schaden noch höher sein als damals, sowohl, was die mittelfristige Zahl der Opfer, als auch, was das ökonomische Desaster im Gefolge dieses Terroraktes betraf. Letzteres konnte biblische Ausmaße annehmen und unter seinen Folgen würden die westlichen Volkswirtschaften noch lange zu leiden haben. Angst und Verunsicherung würden die Märkte beherrschen, und beinahe alles Wirtschaften war Psychologie.
Natürlich würde er jede Bewegung seiner laufenden Operation überwachen und notfalls in die Durchführung des Planes eingreifen. Man würde ihm jeden Fortschritt und jede Panne melden und er würde jeweils entscheiden, wie weiter zu verfahren war.
Er klingelte nach der Flugbegleiterin und bat sie, ihm eine Decke und ein Kissen zu bringen und ihn eine halbe Stunde vor der Landung in Riad zu wecken. Kurz darauf klappte er die Rückenlehne seines Sitzes vollständig hinunter, schloss die Augen und war wenige Minuten später eingeschlafen.
*
Fort Meade, Maryland, Zentrale der NSA
Bill Schmittner nahm den Kopfhörer ab und legte ihn auf die Schreibtischplatte. Er hatte mehrere Stunden lang so konzentriert gearbeitet, dass er jetzt leichte Kopfschmerzen hatte und dringend einen Kaffee und eine längere Pause brauchte. Seine Frau hatte ihm Sandwiches mit Schinken und Erdnussbutter eingepackt, und die wollte er jetzt aus seinem Spind holen, sich in den Aufenthaltsraum setzen und beim Essen den Sportteil der „USA Today“ lesen.
Es war Sonntag, und heute schienen die Terroristen tatsächlich einen Ruhetag eingelegt zu haben. Jedenfalls hatte er noch nichts von Belang zu lesen oder zu hören bekommen, so sehr er sich auch abmühte.
Neben ihm schien es seinem Kollegen Bernie Noakes nicht anders zu gehen, wenn er dessen angedeutetes Gähnen richtig interpretierte. Es gab solche Tage, an denen man sich fragte, wozu um alles in der Welt dieser gewaltige Aufwand an Technik und menschlicher Arbeitszeit betrieben wurde. Es war langweilig und frustrierend, Stunde um Stunde dazusitzen, mehr oder weniger auf gut Glück im Äther zu stochern und nach Anzeichen zu suchen, dass sich irgendein Bösewicht am anderen Ende des Planeten anschickte, ein krummes Ding zu drehen.
Aber wenn er sich Noakes anschaute, dann musste er zugeben, dass der den noch schlechteren Part erwischt hatte, denn Bill suchte wenigstens nach echten Terroristen aus Fleisch und Blut, nach Gestalten, die Anschläge planten, die sich dazu verschworen, unschuldige Menschen zu ermorden.
Bernie dagegen hatte den ganzen Tag und so manche Nacht nichts anderes zu tun, als sich die Bewegungen auf Tausenden internationaler Bankkonten von mehr oder weniger Verdächtigen anzuschauen und sich einen Reim darauf zu machen, wohin und zu welchem Zweck das Geld von diesen Konten abfloss und wohin seine Reise ging. So etwas jahrein, jahraus acht Stunden täglich zu tun, musste jeden normalen Menschen in den Wahnsinn treiben. Aber Noakes schien ein beinahe krankhaftes Vergnügen darin gefunden zu haben. Er sagte, was er mache, sei staatlich geförderter Voyeurismus, und damit hatte er natürlich Recht.
„Ich bin dann eine halbe Stunde weg, Bernie.“
Schmittner stand auf und wollte den Raum verlassen, in dem noch dreißig weitere heimliche Lauscher und Informationsdiebe saßen, um ihr Land und den Rest der Welt vor terroristischen Aktivitäten zu warnen. Aber Bernie Noakes pfiff ihn zurück. Er hatte gerade etwas entdeckt, das seine Aufmerksamkeit erregt haben musste.
„Sagt dir der Name Yassir Hossein noch etwas?“
„Kommt mir bekannt vor. Schieß los, was ist mit dem?“
„Unter anderem kanadischer Staatsbürger, und hat darüber hinaus mindestens einen nahöstlichen Pass, ich glaube, jordanisch oder irgendein Golfstaat. Bekommt dreißig Millionen US-Dollar von einem saudischen Prinzen auf ein Verrechnungskonto und überweist davon sofort zwölf an einen Russen, den wir nicht kennen. Soundso Danilow, nie gehört, den Namen. Barclays Bank, George Town, Grand Cayman. Wenn da nichts faul ist, fresse ich einen Besen samt Putzfrau.“
„Okay, lass uns das im Auge behalten; soweit ich weiß, haben wir schon öfters versucht, diesem Knilch etwas anzuhängen - es hat aber nie geklappt. Entweder liegen wir schief oder der Kerl ist wirklich clever. Ich gehe aber jetzt trotzdem erst einmal essen, wenn du nichts dagegen hast.“
„Du bist und bleibst ein Vielfraß.“
„Du mich auch, Amigo mío.“
*
Moskau, Hotel Ismailowo
Die Fähigkeit, in Zügen oder Flugzeugen zu schlafen, war Gennadij Wassiljewitsch Kuljamin nicht gegeben, und so kam es, dass er sich bei seiner Ankunft in Moskau am frühen Abend vor Erschöpfung mehr tot als lebendig fühlte. Er schaffte es mit Mühe, am Weißrussischen Bahnhof, wo er aus Smolensk kommend eingetroffen war, ein Taxi zu ergattern, und wäre dann auf der halbstündigen Fahrt zu seinem Hotel im Nordosten der Stadt beinahe eingeschlafen, weil der Fahrer die Heizung bis zum Anschlag aufgedreht hatte.
Als er beim Einchecken an der Reihe war und der junge Mann an der Rezeption wie üblich seinen Pass verlangte, öffnete er seine Brieftasche, schob ein paar Geldscheine über den Tresen und bat darum, seinen Ausweis behalten zu dürfen, da er diesen für Geschäfte in der Stadt benötige. Es schien keine außergewöhnliche Bitte zu sein, denn der junge Mann steckte das Geld routiniert in die Tasche seiner Uniformjacke und fragte ihn lediglich nach seinem Namen.
Kuljamin nannte ihm den, der in seinem neuen Pass stehen würde; der Hotelangestellte trug ihn anstandslos ein und gab ihm die Schlüsselkarte für sein Zimmer im dreizehnten Stock. So erprobte der Ex-Direktor erstmals und ganz vorsichtig seine neue Identität, und er fühlte sich dabei ein wenig verrucht und bärenstark.
Oben angekommen packte er seinen Reisekoffer aus, hängte die Kleider ordentlich auf Bügel und dann in den Schrank, der kleinere Koffer mit dem Geld – noch fast zweihunderttausend US-Dollar und trotzdem nur ein Bruchteil seines neuen Vermögens – wanderte in den Zimmersafe.
Euphorie überkam ihn trotz aller Müdigkeit und er spielte mit dem Gedanken, sich eine Flasche Champagner und eines der blutjungen Mädchen, die er vor dem Hoteleingang und in der Lobby hatte herumlungern sehen, aufs Zimmer zu bestellen. Warum nicht? Er war ein freier Mann, der niemandem mehr Rechenschaft schuldete.
Aber ehe er noch zu Ende überlegt hatte, ob er dieses Vorhaben ausführen sollte, war er in den Kleidern, in denen er angekommen war, bereits eingeschlafen.
Am nächsten Abend war Kuljamin, der künftig nur noch auf den Namen Alexander Michailowitsch Danilow hören würde, mit sich zufrieden. Er hatte den Mut aufgebracht, die Höhle des tschetschenischen Löwen zu betreten und das beabsichtigte Geschäft abzuschließen. Ganz geheuer war ihm nicht gewesen, als er sich dem Kellerlokal näherte, das man ihm genannt hatte. Schon zwanzig Meter vor dem Gebäude wurde er von zwei grobschlächtigen Kerlen, wahrscheinlich Kaukasiern, gründlich gefilzt und nach seinem Anliegen befragt. Dann wollten sie sein Geld sehen, nahmen ihm dieses zu seiner Überraschung aber nicht weg, sondern ließen es ihn wieder einstecken.
Man hatte ihm weitere vierhundert Dollar abgenommen, weil er es offensichtlich eilig hatte (und wahrscheinlich auch, weil man ihm seine Angst ansehen konnte), aber das kümmerte ihn nicht. Morgen um die Mittagszeit konnte er den neuen Pass abholen, noch in derselben Nacht würde er im „Roten Pfeil“ sitzen, einem Expresszug, der ohne Zwischenhalt die gut siebenhundert Kilometer zwischen Moskau und St. Petersburg in etwa fünf Stunden zurücklegte.
Dort angekommen, vom „Moskauer Bahnhof“ aus, hatte er vier Stunden Zeit, um zum südlich von St. Petersburg gelegenen Flughafen Pulkowo II zu gelangen und seinen Flug nach London zu bekommen. Von England aus konnte er – wenn er wollte - direkt in die Karibik weiterfliegen, wo seine üppige Rente schon auf ihn wartete.
Aber er fühlte sich momentan in seiner neuen Haut so überlegen und so unangreifbar, dass er mit dem Gedanken spielte, noch ein paar Tage in London zu verbringen, wo er nie zuvor gewesen war. Piccadilly Circus, Trafalgar Square, der Buckingham Palace, die Tower Bridge – Sehenswürdigkeiten, die er nur von Bildern her kannte, und von denen er in der trostlosen Einöde seiner zunehmend unglücklichen Ehe immer vergebens geträumt hatte, weil seine Frau das wenige Geld, das er nach Hause brachte, anstatt für Reisen auszugeben lieber in neue Garderobe oder teure Restaurantbesuche investierte, um es „den Nachbarn wenigstens ab und zu mal so richtig zu zeigen“.
Nun aber konnte sich ein von Grund auf erneuerter Kuljamin jedes Fünf-Sterne-Hotel der teuren Stadt an der Themse leisten, und dieser Gedanke erregte ihn ebenso sehr wie der Gedanke an die käuflichen Mädchen vor dem Hotel. Heute würde er nicht einschlafen, das Leben war zu kurz, um jemals wieder eine Gelegenheit zu verpassen. Er griff zum Telefon und bestellte georgischen Champagner und ein paar russische Vorspeisen.
*
Moskau, Zentrale des Inlandsgeheimdienstes FSB
Das Telefon klingelte nicht, sondern signalisierte den eingehenden Anruf nur durch das Blinken eines kleinen Lämpchens.
„Ja.“
„Wir haben ein Problem, das wir mit normalen Mitteln nicht in den Griff bekommen.“
„Moment…so, Sie können sprechen. Die Leitung ist steril. Worum handelt es sich, Adler?“
„Das Lager in Majak ist beklaut worden. Vom eigenen Direktor, wie es vorläufig aussieht. Es geht um große Mengen an kritischem Material. Das Zeug soll das Land verlassen, vermutliches Ziel Westeuropa. Nicht auszudenken, was passiert, wenn das gelingt.“
„Weiß Aljechin schon Bescheid?“
„Ja, er steht hinter uns und verschafft uns oben Deckung, solange wir uns nicht in der Öffentlichkeit erwischen lassen.“
„Bleiben Sie in der Leitung, Adler.“
Ein leises Summen ertönte, während der Koordinator mit seinem Vorgesetzten sprach, einem Oberst und früheren Teilnehmer am erfolglosen Afghanistanfeldzug.
Nach einer Minute war er zurück.
„Code Schwarz, Adler. Ich wiederhole, Code Schwarz. Sie haben alle Vollmachten. Die Softballspieler im Team werden zurückgehalten, solange es geht. Sollte Aljechin seine Meinung ändern, dann wird sofort abgebrochen, verstanden? Der Präsident weiß wie immer von nichts.“
Das Gespräch wurde beendet.
*
Heidelberg, Gelände eines Rangierbahnhofs
Schweiß brannte in seinen Augen, während er versuchte, vor sich etwas zu erkennen. Die Nacht war mondlos und es war fast vollständig dunkel, nur in einiger Entfernung sah man hier und dort Beleuchtung in den Fenstern von Wohnhäusern.
Es waren drei, ihr Alter war schwer zu schätzen, wahrscheinlich Mitte zwanzig bis Ende dreißig. Sie waren mit halbautomatischen Pistolen bewaffnet, mit denen sie auch umgehen konnten, wie er vor ein paar Minuten erfahren musste, als eine Kugel ihn am linken Ärmel gestreift hatte.
Die drei gehörten einer extremen muslimischen Bruderschaft an, hinter der die CIA auf deutschem Boden schon seit langer Zeit her war, weil sie wahrscheinlich Anschläge auf amerikanische Bürger und Einrichtungen plante. Man hatte ihn auf sie losgelassen, weil man den deutschen Behörden seit 2001 nur noch sehr bedingt traute, was die Identifizierung islamistischer Gewalttäter und der Hassprediger hinter ihnen anging. Und dass diese Leute tatsächlich gefährlich waren, hatte die NSA in Fort Meade anhand abgefangener E-Mails und mitgeschnittener Telefonate dokumentieren können.
Mike Benson war ausgebildeter CIA-Außenagent mit etlichen Jahren Einsatzerfahrung auf nahezu allen Kontinenten, momentan aber an die SECURE „ausgeliehen“, die vorwiegend mit der Terrorbekämpfung in Europa betraut war. Die derzeitige amerikanische Regierung hatte Lehren aus dem chronischen Versagen ihrer Geheimdienste gezogen und war deshalb bestrebt, diese Organisationen zur vermehrten Zusammenarbeit zu bewegen. Bensons einjährige Tätigkeit für die in Stuttgart ansässige SECURE war Teil dieses Programmes. Ob es etwas taugte oder nicht, konnte man erst bei der nächsten konkreten Bedrohungslage beurteilen. Benson stand diesem Experiment im Grunde wohlwollend gegenüber, weil er ganze Bücher darüber schreiben konnte, wie Operationen an mangelnder Bereitschaft zur Kooperation und den ständigen Eifersüchteleien zwischen den einzelnen Diensten gescheitert waren.
Er hatte mit einem marokkanischen Informanten aus der gewaltbereiten Szene in einem äthiopischen Restaurant namens Adabar zu Abend gegessen, sie hatten sich ausgetauscht und nach dem Essen getrennt das Lokal verlassen.
Da er selbst äußerst vorsichtig zu Werke gegangen war und sicher sein konnte, dass man ihm nicht zu diesem Treffen gefolgt war, blieb als einzige Erklärung, dass sein Kontaktmann aufgeflogen war und jetzt in höchster Gefahr schwebte.
Vor ihm regte sich ein Schatten, er feuerte zweimal und wurde mit einem erstickten Aufschrei und einem nachfolgenden Fluch belohnt.
Etwa zehn Meter entfernt von dem offenbar Getroffenen sah er Mündungsfeuer und zugleich zischte eine Kugel nur wenige Zentimeter an seinem rechten Ohr vorbei. Er musste seine Position aufgeben und sich einen anderen Unterschlupf suchen, bevor ihn die beiden verbliebenen Männer ins Kreuzfeuer nehmen konnten.
Er musste ohnehin schleunigst weg von hier, die Schüsse hatten wahrscheinlich längst Anwohner aufgeschreckt und es war eine Frage der Zeit, bis die Polizei eintreffen würde. Benson hatte nicht das leiseste Bedürfnis, deutschen Behörden Rede und Antwort zu stehen, denn das würde nur zu Verwicklungen führen, die weder er noch seine Dienststelle gebrauchen konnten.
Er kroch auf allen Vieren zur Seite und richtete sich erst auf, als er sich zwanzig Meter von seinem Versteck entfernt hatte. Wieder fiel ein Schuss, der ihm aber lediglich bewies, dass seine Gegner dieses Manöver noch nicht bemerkt hatten. Er lief tief gebückt weiter, ein Güterwaggon bot ihm provisorischen Schutz. Als er wieder zurück spähte, glaubte er zu erkennen, dass sich die zwei Männer auf das Versteck zubewegten, das er gerade aufgegeben hatte. Er war versucht, auf die Schatten zu schießen, aber aus dreißig Metern Entfernung und bei diesen Lichtverhältnissen war die Aussicht auf Erfolg gering.
Sein Informant musste so schnell wie möglich diese Stadt verlassen, sonst war sein Leben keinen Pfifferling mehr wert. Er hatte die Amerikaner fast vier Jahre lang mit erstklassigen Informationen versorgt, mehr als gut genug, um sich von ihnen jede Hilfestellung verdient zu haben.
Er sorgte dafür, dass zwischen ihm und seinen Verfolgern stets der schützende Waggon war. Dann machte er so rasch und so leise wie möglich, dass er weg kam. In der Ferne vernahm er Polizeisirenen, die schnell näher kamen.
Mike Benson wusste, wann er zu rennen hatte.
*
St. Petersburg, Flughafen Pulkowo II
Sie holten ihn aus Reihe 26 des Airbus 319, als die Flugbegleiterin die Passagiere bereits mit den Sicherheitsvorkehrungen an Bord vertraut machte. Lufthansa-Flug LH 2567 von St. Petersburg über München nach London wurde Sekunden vor dem Start zurückgepfiffen und der Flieger in eine Parkposition gelenkt, aufgrund eines geringfügigen technischen Problems, wie der Co-Pilot lapidar mitteilte.
Sie kamen zu zweit, und der Ältere von beiden bat Kuljamin mit gesenkter Stimme, mitzukommen und den Flieger zu verlassen, ohne Aufsehen zu erregen. Dem brach der Schweiß aus, und um ein Haar hätte er angefangen zu weinen.
Er hatte eigentlich schon an der Sicherheitsschleuse festgehalten werden sollen, aber der Beamte, dem das an alle Flughäfen und Grenzübergänge gefaxte Fahndungsfoto vorlag, hatte eine tageszeitbedingte lange Leitung gehabt (es war noch nicht einmal halb sechs morgens), und der Groschen war bei ihm erst gefallen, als der Gesuchte schon im Flugzeug saß und sich beinahe in Sicherheit wähnte.
Kuljamin alias Danilow war im Grunde seines Herzens ein zutiefst feiger Mensch, und deshalb war es für die Männer vom Föderalen Sicherheitsdienst, der aus der Inlandsabteilung des legendären KGB hervorgegangen war, nicht nötig, ihn psychisch unter Druck zu setzen oder ihn gar zu foltern, denn er gestand schneller als sie ihn befragen konnten. Und als die Ermittler die ganze Geschichte kannten, fingen sie ihrerseits an zu schwitzen.
Wie Kuljamin erfuhr, waren sie ihm schon seit Dienstag auf den Fersen gewesen; genauer, seit der Stunde, in der seine Frau nach einem Streit mit ihrer Schwester früher heimgekehrt war als geplant. Sie vermisste ihn, rief zuerst im Werk an, wo sie ihn zu Unrecht vermutete, und direkt danach bei der Miliz, um ihn als vermisst zu melden. In ihrer überdrehten Vorstellung konnte eine solch eminent wichtige Persönlichkeit wie ihr Göttergatte nur entführt worden sein; dagegen sprach allerdings schon bei oberflächlicher Betrachtung, dass es bis zum späten Dienstagvormittag keine Lösegeldforderung gab. Auch ein etwaiges Bekennerschreiben lag nicht vor.
Aber, und das war wichtiger: Die heulende Gattin musste den Ermittlern des FSB (die den Fall schnell an sich gerissen hatten, weil es sich ganz offensichtlich um ein Problem der Inneren Sicherheit handelte) gestehen, dass der einzige Lederkoffer, den das Ehepaar besaß, verschwunden war, ebenso wie ein Anzug, drei Oberhemden, etwas Unterwäsche, ein Paar Schuhe und unzählige Paar Socken. „Er hat schlimme Schweißfüße“, sagte sie beschämt.
Auch sein Reisepass fehlte, wie sie nach einigem Herumwühlen in den Schubladen seines Schreibtisches feststellte und den Männern voller Angst und mit aufkeimendem Verdacht mitteilte. Das sah nun mehr danach aus, als hätte ihr Mann die Kurve gekratzt und sie einfach sitzen gelassen, eine Interpretation der Geheimpolizisten, der sie energisch widersprechen wollte, es aber nicht konnte, weil ihre Tränen alles erstickten, was sie zu sagen versuchte.
Der folgerichtig nächste Schritt der Agenten war, am Arbeitsplatz des Flüchtigen weiter zu forschen. Zunächst prallten sie dabei auf eine Wand des Schweigens. Niemand wusste etwas, keiner hatte etwas bemerkt oder gar bei etwas Verbotenem mitgemacht. Lediglich die Wache, die in der Nacht von Freitag auf Samstag Dienst gehabt hatte, konnte ihnen sagen, dass der Direktor das Gelände gegen halb vier morgens verlassen hatte, eine höchst ungewöhnliche Zeit für jemandem, der in jahrelanger Routine am Freitagmittag gegen vierzehn Uhr ins Wochenende ging.
Derselbe Wächter erkannte die Zeichen der Zeit und informierte die Männer geflissentlich darüber, dass kurz nach Mitternacht ein Lastwagen das Gelände verlassen hatte, der mit sauberen Papieren Altöl zu einer Recycling-Anlage nach Tscheljabinsk bringen sollte. Er habe das Fahrzeug routinemäßig kontrolliert und es hatten sich wie angegeben neun Fässer darauf befunden, mit entsprechender Etikettierung.
„Altöl-Entsorgung an einem Freitag um Mitternacht, bist du denn völlig bescheuert?“ schrie einer der Vernehmer den konsternierten Wachposten an.
„Aber der Transportschein trug Unterschrift und Stempel des Direktors“, war die kleinlaute Antwort.
„Idiot!“
So wurde am Dienstagnachmittag eine außerplanmäßige Inventur des Lagers durchgeführt. Um ein Haar wäre dabei das Fehlen des Poloniums nicht entdeckt worden, denn der Oberingenieur – der mit fünfzigtausend Dollar geschmierte Alexander Borissowitsch Kunklin – hatte an dessen Stelle eine harmlose, äußerlich aber sehr ähnliche Substanz an die entsprechende Lagerstelle schaffen lassen.
Aber einer der subalternen Ingenieure hatte eine ganze Reihe verdächtiger Lagerbewegungen bemerkt, und zunächst dazu geschwiegen, um es sich nicht mit seinen Vorgesetzten zu verderben. Und das meldete er nun zerknirscht den staatlichen Kontrolleuren. Die waren entsetzt. Es fehlte nicht nur das Polonium, sondern auch unterschiedliche Mengen an Plutonium 239, Strontium, Barium Beryllium, Iridium sowie an den harten Gammastrahlern Cäsium 137 und Kobalt-60, alles in allem ein mehr als einhundertzwanzig Kilogramm schwerer Eintopf mit unterschiedlichen Graden an Radioaktivität und Zerfallszeiten und so vermischt, dass diese Suppe bis zu ihrer weiteren Verwendung maximal mögliche Stabilität behielt.
Das war – so bemerkte einer sarkastisch – mindestens so viel spaltbarer Stoff, wie ihn dieser durchgeknallte Diktator in Pjöngjang besaß - und schon dieser erpresste die halbe Welt mit dem Zeug.
Man nahm sich den leitenden Ingenieur nochmals zur Brust, und der gestand nach kurzem Zögern die Tat, weil er sah, dass er nicht mehr leugnen konnte; er beteuerte aber, nicht zu wissen, wofür das gestohlene Material gedacht war. Der ganze Deal sei Kuljamins Werk gewesen, er selbst habe nur Handlangerdienste in dessen Auftrag geleistet. Von seinem Schmiergeld erzählte er nichts, aber das tat an seiner Stelle der in St. Petersburg festgesetzte ehemalige Direktor, der, als er einmal anfing zu reden, dies mit einer solchen Hingabe und Geschwätzigkeit tat, als erwarte ihn am Ende eine fette Belohnung und ein Orden.
Der Ingenieur hatte Pech. Normalerweise wäre er festgenommen und in einem Eilverfahren unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu fünfzehn Jahren verschärfter Haft verurteilt worden. Aber die Truppe, an die er geriet, tickte anders; diese Kerle machten keine Gefangenen.
Er wurde von drei Männern ohne große Umstände zu einer nahegelegenen Kiesgrube gefahren und dort mit einem Schuss in den Hinterkopf getötet; seine Leiche übergossen sie mit Benzin und zündeten sie an – in ihren Augen konnte man es sich nicht leisten, ihn vor Gericht zu stellen, denn es konnte kaum eine größere Demütigung für die ehemalige Weltmacht geben als das Bekanntwerden der Tatsache, dass sie nicht einmal dazu in der Lage war, auf ihr atomares Spielzeug aufzupassen.
Ein paar wenige brauchbare Informationen enthielt auch Kuljamins wortreiches Geständnis in St. Petersburg. Da war zunächst der Vermittler, den der Direktor genau beschreiben konnte und der mit Sicherheit arabischer oder zumindest „irgendwie nahöstlicher“ Herkunft gewesen war.
Die Höhe des „Kaufpreises“ ließ bei den Verhörspezialisten, die inzwischen hinzugezogen worden waren, keinerlei Zweifel daran aufkommen, dass es sich bei den Kunden nicht um ein paar hungerleidende Mudschaheddin oder Taliban handelte, sondern dass hinter diesem Beschaffungsvorgang potente Geldgeber, privat oder institutionell, stecken mussten.
„Sie sollten sich in nächster Zeit von Deutschland fernhalten, mein Freund“, äffte Kuljamin die Sprechweise des Vermittlers nach.
Gegen Deutschland als Zielort sprach scheinbar die Aussage des alten Fahrers, der sich erinnern konnte, nachts auf dem Parkplatz ein kasachisches Nationalitäten-Kennzeichen am Heck des Lastwagens gesehen zu haben, der die Fracht übernahm.
Die FSB-Leute überlegten hin und her, was dies wohl zu bedeuten hatte, und etwas später wurde ihnen klar, dass selbst dann, wenn das Material den Weg nach Süden nahm, es dennoch für Westeuropa bestimmt sein konnte. Der Weg war kompliziert und langwierig, führte über Kasachstan, Usbekistan, Afghanistan und Pakistan zum Indischen Ozean und von dort aufs Schiff, das alles war mühselig und gefährlich, aber zweifellos machbar.
Vielleicht fühlten sich die Käufer sicherer, wenn sie möglichst schnell „islamischen Boden“ unter die Füße bekamen. In muslimisch geprägten Staaten konnten sie eher auf Hilfe rechnen als in Ost- oder Mitteleuropa, wo sie schon wegen ihres Äußeren in Schwierigkeiten geraten konnten.
Die Aussagen Kuljamins und des Fahrers lösten bei den Geheimen hektische Betriebsamkeit aus. Alle Übergänge von der weißrussischen bis zur chinesischen, von der finnischen bis zur ukrainischen Grenze, besonders aber alle offiziellen und einige weniger offizielle Grenzübergänge zum südlichen Nachbarn Kasachstan wurden alarmiert. Sämtliche Lastwagen und Kleintransporter – dafür musste massenhaft zusätzliches Personal herangekarrt werden – sollten sorgfältig kontrolliert werden; besonders auf doppelte Böden unter den eigentlichen Ladeflächen war zu achten. Gesucht wurden neun hellgraue Metallröhren in einer Aluminiumverkleidung, jede mit einem Gewicht von – grob geschätzt - fünfunddreißig Kilogramm und so warm, dass man sie gerade noch anfassen konnte, ohne sich die Finger zu verbrennen. Die Fahrer des gesuchten Wagens konnten bewaffnet sein, und wenn sie sich gegen eine Festnahme – die grundsätzlich erwünscht war – wehren sollten, sei von der Schusswaffe Gebrauch zu machen. Die besagten Röhren (um was es sich bei ihnen und ihrem Inhalt tatsächlich handelte, verschwieg man aus Gründen der Staatsräson und aus Menschenverachtung gegenüber Zöllnern und Fahndern) durften in keinem Falle geöffnet, sondern sollten nur sichergestellt werden. Diesbezügliche Meldungen waren umgehend an folgende Dienststelle zu richten, und so weiter. Besonders unwohl war den Ermittlern bei dem Gedanken daran, dass die Regierung eingeweiht werden musste, wenn sich kein schnelles Ergebnis einstellte.
Und obwohl beim FSB der Verdacht aufkam, dass es bereits zu spät für all diese Aktivitäten war, gab man die Hoffnung nicht auf, die Täter noch innerhalb der russischen Grenzen fassen und damit ein Überschwappen der ganzen Angelegenheit aufs Ausland vermeiden zu können.
Von Tscheljabinsk bis in die grenznahe Stadt Oral waren es etwas mehr als eintausend Kilometer, und die Übernahme der Fracht hatte vor gut fünf Tagen stattgefunden – der Laster konnte längst über die Grenze gegangen und irgendwo in den Weiten der kasachischen Steppe untergetaucht sein.
Und ab dann wäre es keine Angelegenheit des FSB mehr, sondern fiele in die Zuständigkeit des SWR, des ebenfalls Anfang der Neunzigerjahre aus dem KGB hervorgegangenen Auslandsnachrichtendienstes, der bis jetzt über dieses himmelschreiende Debakel noch nicht einmal informiert worden war.