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Zweites Kapitel
ОглавлениеDubna, Region Moskau, Kernkraftanlage
Iossif Wladimirowitsch Weksler, sechsundsiebzig Jahre alt, kerngesund und rüstig wie ein gut erhaltener Endfünfziger, saß in seinem kleinen Büro neben dem Reaktorraum des Kraftwerkes und versuchte, das Online-Kreuzworträtsel einer großen Moskauer Tageszeitung zu lösen. Er tat dies seit zwanzig Jahren an jedem Freitag und er fand, dass es seinen grauen Zellen gut tat. Die Arbeit, die er hier seit seiner Pensionierung vor elf Jahren verrichtete, war nicht dazu geeignet, geistig rege zu bleiben; man musste sich andere Herausforderungen suchen, um nicht völlig zu verblöden.
Aber er war der Letzte, der sich über seinen Job beklagt hätte, bekam er doch in diesem Laboratorium, wo er fünfunddreißig Jahre lang seinem Beruf als Ingenieur nachgegangen war, sein Gnadenbrot und durfte jeden Tag für einige Stunden herkommen und kleinere Büroarbeiten am PC verrichten, anstatt in seiner Wohnung einsam vor sich hin und seinem Ende entgegen zu vegetieren. „Zuhause sterben die Leute“, pflegte er zu sagen, und er mied sein Bett wie der Teufel das Weihwasser, wie das viele ältere Menschen taten.
Als Wissenschaftler brauchte man ihn in dieser Anlage freilich schon lange nicht mehr, und – wenn er ehrlich war – hatte er auch nie sonderlich viel auf dem Kasten gehabt, wenn er es am manchmal erdrückenden Lebenswerk seines Vaters maß, des berühmten Wladimir Iosiffowitsch Weksler, der in den Fünfziger- und Sechzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts als Direktor dieser Anlage tätig gewesen war und in dieser Zeit die Verantwortung für den Bau eines der weltweit ersten Ringbeschleuniger trug.
Er hatte sein wissenschaftliches Genie allerdings nicht an seinen einzigen Sohn weitergereicht, was daran liegen mochte, dass er diesen kaum einmal zu Gesicht bekam; sein Vater ruinierte bei der Arbeit seine Gesundheit und starb mit nur neunundfünfzig Jahren an purer Erschöpfung.
Seine Begabung für die Wissenschaften legte eine Pause von zwei Generationen ein und zeigte sich erstaunlicherweise erst wieder bei seinem Urenkel Igor, der momentan am Institut für Theoretische Physik der Universität Frankfurt promovierte und ein vielversprechender junger Gelehrter war - wenn er seinen manchmal bodenlosen Leichtsinn irgendwann in den Griff kriegen würde, dachte sein Großvater, der sich mehr Sorgen machte als seine beiden Enkel ahnen mochten. Doch er wusste auch, dass Sorglosigkeit ein Vorrecht der Jugend war und beließ es – wenn er ihn einmal zu sehen bekam oder ihm schrieb – bei milden Ermahnungen.
In der Familie Weksler war seit vielen Generationen Deutsch gesprochen worden (eigentlich seit Ausgang des 18. Jahrhunderts, als es einen Balthasar Wechsler mit seiner Familie von Augsburg an die Wolga zog), was es seinen beiden Enkeln leicht gemacht hatte, aus der russischen Provinz auszubrechen und in Deutschland Fuß zu fassen. Er gönnte es ihnen von Herzen, und er wusste, dass sie richtig gehandelt hatten – hier in dieser Einöde gab es kaum eine Perspektive für einen begabten Physiker oder eine talentierte Designerin wie Igors Schwester Katja, und Moskau war ein Moloch, der seine Kinder fraß.
Seine Enkelin arbeitete nun schon fast ein Jahr lang im Büro eines Frankfurter Architekten mit internationaler Reputation und verdiente dabei so gut, dass sie mit ihrem Gehalt ihren chronisch klammen Bruder jeden Monat mit einem gewissen Betrag unterstützen konnte, Hilfe, die dieser auch dringend benötigte, weil er in aller Regel nach der Hälfte des Monates nichts mehr zu beißen hatte oder seine Miete nicht bezahlen konnte, weil er sich einmal mehr auf irgendein windiges Geschäft eingelassen hatte, das stets und zuverlässig in die Binsen ging.
Weksler trug gerade die Lösung eines langen Wortes senkrecht in das Rätsel ein, als ein Piepen ihm den Eingang einer E-Mail anzeigte.
Er brauchte einige Sekunden, um zu merken, dass diese Nachricht nicht für ihn bestimmt war, sondern für den hiesigen Bonzen des FSB, und zwar streng geheim, wie die Titelleiste besagte.
Solche Irrläufer kamen häufiger vor, da die Mitarbeiter dieses Komplexes, vom Direktor bis zu den Physikern, von den Ingenieuren bis zu den Hausmeistern, der Verwaltung und sogar den Sicherheitskräften Mailadressen besaßen, die ähnliche Ziffernfolgen enthielten. Er selbst hatte eine 159, und er bekam mindestens einmal im Monat Irrläufer, die eigentlich für den ehemaligen KGB (195) oder für das Materiallager (158) gedacht waren.
Eine streng geheime Nachricht hatte er allerdings noch nie erhalten, und nun kratzte er sich nun am Kinn und überlegte, ob er diese Mail wie gewöhnlich ungelesen an den richtigen Adressaten weiter leiten oder ob er einen winzig kleinen Blick in das Dokument wagen sollte. War es Neugier (die bekanntlich der Katze Tod war) oder war es Langeweile (eigentlich eine Todsünde in seinen Augen), später konnte er es nicht mehr sagen – er tat den fatalen Doppelklick und bekam bereits nach den ersten Sätzen, die er las, heftiges Herzklopfen.
Der Text war bestimmt für alle FSB-Standorte, in deren dienstlicher Umgebung mit radioaktiven Stoffen gearbeitet wurde, und er forderte die jeweiligen Niederlassungen auf, stante pede eine umfassende Inventur alles spaltbaren Materials zu veranlassen und etwaige Fehlmengen, vor allem bei Plutonium und Strontium, aber auch bei Cäsium und zwei oder drei anderen Stoffen an diese und jene Adresse durchzugeben.
Das Pamphlet enthielt wohlweislich keinen Hinweis auf Polonium, denn das durfte es in der Anlage Majak aufgrund internationaler Abkommen schon seit ein paar Jahren nicht mehr geben. Es wurde offiziell nur noch in geringen Mengen von etwa 100 Gramm pro Jahr in der Anlage Sarow gewonnen und nach Kanada und die USA exportiert, wo es zu industrieller Anwendung kam.
Hintergrund für die angeordnete Inventur war – so die Nachricht weiter - der höchst unverschämte Diebstahl einer großen Menge radioaktiver Substanzen aus einem streng bewachten Atomkomplex am Ural, was aber absolut vertraulich sei und was der Empfänger dieser Botschaft unbedingt diskret zu behandeln habe, ansonsten drohe ihm eine Anklage wegen Hochverrats.
An dieser Stelle begann Weksler zu schwitzen und er bedauerte es aufrichtig, das Dokument auch nur geöffnet zu haben. Dennoch las er weiter, wie unter Zwang.
Der Föderale Sicherheitsdienst, wie er sich verniedlichend nannte, hatte den Dieb gerade noch erwischt, als er ein Flugzeug ins Ausland bestiegen hatte, und man hatte ihn umfassend verhört; nach einer vorläufigen Analyse hielt man es für ziemlich sicher, dass das Material von islamistischen Fanatikern gekauft worden war und dazu benötigt wurde, in Frankfurt am Main für Terrorzwecke eingesetzt zu werden; und zwar als Rache für den Beschuss einer afghanischen Schule durch einen amerikanischen Kampfbomber, der von einem deutschen Nachrichtenoffizier fehlgeleitet worden war.
Im Anhang, den der alte Weksler öffnete (er war, als er Frankfurt als möglichen Anschlagsort las und dabei an seine Enkel dachte, unvorsichtig genug, auch das zu tun), befand sich lediglich der Scan eines unausgefüllten Musterformulars für Inventuren.
Gestohlenes Plutonium? Cäsium? Strontium? Kobalt? In Frankfurt? Das war Wahnsinn!
Ohne recht zu wissen, was er tat, schob Weksler einen SD-Chip in den entsprechenden Schlitz seines Rechners und kopierte Mail und Anhang. Der Junge würde die Brisanz dieser Angelegenheit sofort erkennen, aber Weksler wagte es nicht, ihm die schreckliche Nachricht als E-Mail zu senden oder ihn gar anzurufen, denn dann wäre der Aufenthaltsort seines Enkels für die Schnüffler vom FSB nur zu leicht herauszufinden.
Aber es gab einen anderen Weg.
Er konnte ihm die Speicherkarte mit den Informationen per Eisenbahn schicken, mit der Hilfe eines Moskauer Zugschaffners, der für gutes Geld so ziemlich alles nach Deutschland (und umgekehrt von Deutschland nach Russland) schmuggelte, was es zu schmuggeln gab. Einen Brief würde er für zehn oder zwölf Dollar mitnehmen, was nicht billig war, aber stets sehr zuverlässig. Der Mann hatte einen Ruf zu verteidigen.
Weksler – ein russischer Großvater, der das Wohl seiner Enkel im Sinn hatte und nur Schaden von ihnen fernhalten wollte – entnahm dem PC den SD-Chip, vergaß unverzeihlicher Weise, die ursprüngliche E-Mail an den eigentlichen Empfänger weiterzuleiten, fuhr den Computer herunter und begab sich schnellen Schrittes zum „Dom Kulturij“, einer Art Verbindungshaus für Physiker, Chemiker, Ingenieure und sonstige Mitarbeiter der Atomanlage Dubna, wo er einen jungen Mann aufsuchen wollte, der mit seinem Enkel Igor studiert hatte und der jeden zweiten Nachmittag nach Moskau fuhr, weil er dort eine Freundin hatte.
*
Frankfurt-Sossenheim
Katarina („Katja“) Alexejewna Achmatowa steckte jedes Mal in einem Dilemma, wenn ihr Telefon tagsüber klingelte. Wenn sie nicht abhob, dann ließ sie möglicherweise ihren väterlichen Freund im Stich, der sie kurzfristig besuchen wollte. Ging sie aber an den Apparat, dann lief sie in Gefahr, dass es ihr Bruder Igor war, und dann war sie in Erklärungsnot, wenn er fragte, warum sie nicht im Büro sei und was sie mitten in der Woche zuhause mache. Meistens murmelte sie dann etwas wie „freien Tag genommen“ oder „leichte Erkältung, aber nichts Dramatisches“, und er gab sich damit zufrieden. Ewig würde das nicht mehr gutgehen, und sie nahm sich vor, sich in nächster Zeit ein Telefon mit einem funktionierenden Anrufbeantworter anzuschaffen, denn der jetzige war seit Monaten kaputt.
Sie würde vor Scham im Erdboden versinken, wenn ihr jüngerer Bruder eines Tages herausfand, woher das Geld stammte, das sie ihm Monat für Monat zusteckte.
Sie wunderte sich schon seit einiger Zeit darüber, dass er ihr noch nicht auf die Schliche gekommen war. Er müsste sich an den fünf Fingern einer Hand abzählen können, dass das Gehalt, das sie für ihren Job im Büro bezog, nicht immer wieder aufs Neue für eine solch großzügige Unterstützung ausreichen konnte.
Aber Igor war ein Bruder Leichtfuß, der solche Berechnungen gar nicht erst anstellte, eine unverbesserliche Frohnatur, die voller Vertrauen durchs Leben stürmte und keinen Gedanken an morgen oder gar übermorgen verschwendete, was für einen angehenden Wissenschaftler allerdings ein recht merkwürdiger Charakterzug war.
*
Oral, Kasachstan
Sie waren um zwei Uhr morgens aufgebrochen. Schon vor knapp einer Woche hatten sie die kasachische Grenze ohne Zwischenfall überschritten. In Oral, der ersten größeren Stadt auf ihrem Weg, saßen sie lange Zeit über wegen schlechten Wetters fest; ein Aufenthalt, der nicht geplant war, aber es wäre zu riskant gewesen, auf den nicht geräumten Nebenstraßen weiterzufahren, die der „Mann mit dem vielen Geld“, wie sie ihn untereinander nannten, für sie ausgesucht hatte. Dieser Mann, der alles zu wissen schien, ging davon aus, dass man in Kasachstan nach ihnen fahnden würde, das aber nur auf den wenigen großen Magistralen, die durch das riesige Land führten.
Sie fuhren jetzt durch eine Gegend, die im Sommer Sumpflandschaft war, und in der es dann unerträglich heiß werden konnte; wo die Moskitos einen schier auffraßen, wenn man nicht Gesicht, Arme und Beine dick mit Diesel aus dem Tank des Lasters einschmierte, was als einziges Mittel half, was einem aber die Haut kaputtmachte, wenn man es zu oft tat.
Jetzt gab es hier nur tote, gefrorene Einöde, von einem Horizont bis zum anderen. Kein Tier war zu sehen, nichts verschaffte dem Auge Abwechslung.
Die beiden Fahrer, Kasachen, aber keineswegs fanatische Muslime, machten diese Fahrt für Geld und nicht, um Allah und seinem Propheten zu gefallen. Sie wussten nicht Bescheid über die gefährliche Last, die man ihnen aufgebürdet hatte, und der Vermittler hatte ihnen eingeschärft, die Röhren auf keinen Fall zu öffnen. Andernfalls würden sie bestraft werden und kein Geld bekommen. Und sie hielten sich daran, denn wer ihnen zehntausend Dollar pro Mann für fünf oder sechs Tage Arbeit (nun, es war eine längere Wartezeit dazugekommen) bezahlte, der hatte immer Recht.
Dennoch hatten sie sich die drei Bleiröhren natürlich angeschaut, sie auch einmal aus ihrem Versteck hervorgeholt und sie aus Neugierde geschüttelt. Aber das hatte nichts gebracht, der Inhalt dieser Röhren blieb für sie ein Rätsel und sie fürchteten sich ein wenig vor der Wärme, die sie abstrahlten.
Als es jetzt hell wurde, übernahm der zweite Fahrer das Steuer und sein Kollege, der das Fahrzeug sechs Stunden lang durch die Nacht gesteuert hatte, aß ein Stück Fladenbrot, ein wenig Ziegenkäse und ein paar eingelegte Oliven, spülte mit kräftigen Schlucken Wasser nach und kroch dann in die winzige Kabine hinter dem Fahrersitz, um ein Weilchen zu schlafen, sofern das auf dieser holprigen Strecke möglich war.
*
Moskau, Weißrussischer Bahnhof
Arkadij Petrowitsch Wilenkin bahnte sich rücksichtslos seinen Weg durch die Menschenmenge auf dem Vorplatz des „Belorusskij Voksal“, desjenigen der neun Bahnhöfe Moskaus, von dem aus die Züge nach Weißrussland, Polen und Deutschland fuhren.
Es war kurz vor halb eins nachts und er hatte nur noch knapp fünfzehn Minuten bis zur Abfahrt des Zuges nach Frankfurt.
In den späten Nachmittagsstunden war er noch in Dubna gewesen, einhundertzwanzig Kilometer nördlich von Moskau, und hatte vorgehabt, am Abend ein paar Stunden an einem Zigarettenkiosk zu arbeiten und etwas Geld zu verdienen. Aber das hatte er dem alten Weksler zuliebe zurückstellen müssen.
Es war das traurige Schicksal von jungen Wissenschaftlern in der „Neuen Zeit“, sich mit solchen Jobs über Wasser halten zu müssen – gut bezahlte Arbeit im Wissenschafts- oder Technikbereich gab es praktisch nicht mehr, allenfalls Geologen und Ingenieure kamen noch bei den großen Öl- und Gasgesellschaften unter.
Weksler war aufgeregt gewesen, als er ihm die Speicherkarte gegeben hatte. Er zitterte am ganzen Leib, wie es der Junge noch nie zuvor bei dem alten Mann erlebt hatte. Mit heiserem Flüstern hatte er ihn beschworen, mit dem heutigen Nachtzug nach Deutschland einen ungeheuer wichtigen Brief mitzuschicken.
Gemeinsam hatten sie im Wissenschaftsclub einen neutralen Briefumschlag gesucht und zuletzt auch gefunden, danach musste Arkadij aufbrechen, da die letzte „Elektritschka“ in die Hauptstadt gegen achtzehn Uhr abfuhr; es war eine Fahrt von fast vier Stunden wegen der vielen Haltestellen, die das Bähnchen - eine Mischung aus Straßenbahn und Nahverkehrszug - langsam machten.
Auch in der Stunde nach Mitternacht war vor und in dem riesigen Bahnhof eine Menge los. Er musste durch ein endloses Spalier von alten Mütterchen hindurch, um zu den Bahnsteigen zu gelangen. Diese Frauen standen gottergeben den ganzen Tag und die halbe Nacht hier draußen in der Kälte und verkauften alles, was der Reisende brauchen mochte, von selbstgebackenem Brot, echtem Kwass, scharf gewürzter Salami und geräuchertem Fisch, Schnittblumen, selbstgestrickten Mützen und Socken bis zu silbernen Kerzenhaltern und Kinderspielzeug, für das die eigenen Enkel zu groß geworden waren.
Endlich war er in der Halle und versuchte sich zu orientieren. Der Express nach Frankfurt ging von Gleis eins, dem vom Eingang aus am weitesten entfernten Bahnsteig ab. Im letzten Wagen des Zuges, der schon seit Stunden bereitstand, war das Abteil des Schaffners untergebracht. Als Arkadij den Waggon erreichte, war dort ein munteres Treiben im Gange. Gerade wuchteten zwei junge Männer – Studenten wahrscheinlich wie er selbst – sechs große Kartons hinauf zu Viktor, der sie annahm und ins Innere des Zuges schaffte. Arkadij fragte den einen der Männer, was in den Kartons sei. „Bücher. Mehrsprachige Fachlexika“ antwortete der Junge. „Die kosten bei uns nur ein paar Rubel, sind aber in Deutschland sehr teuer. Ein Freund verkauft sie dort an Buchhandlungen, Universitäten und Bibliotheken. Ein gutes Geschäft für alle.“
„Aha.“
Fünf Minuten vor Abfahrt des Zuges hatte Viktor seine Geschäfte abgewickelt. Man erzählte sich unter der Hand, dass er auf einer einzigen Fahrt nach Deutschland und wieder zurück mehr als tausend Dollar verdiente. Das war etwa das Sechsfache dessen, was er im Dienste der Staatsbahn an monatlichem Gehalt erhielt. Er schmuggelte alles, was ihm unterkam, von Krimsekt bis zu wertvollen Ikonen, vom roten und schwarzen Kaviar bis zu antiken Handfeuerwaffen für deutsche Sammler, die man gelegentlich auf Moskauer Flohmärkten kaufen konnte und die im Ausland einen hohen Gewinn erzielten. Und auf dem Rückweg brachte er Dinge mit, die in Deutschland preiswert, dafür in Moskau aber fast unerschwinglich waren, hochpreisige Parfums zum Beispiel, die neuesten Geräte von Apple oder Samsung, Computerzubehör, oder schwer zu beschaffende Ersatzteile für was auch immer.
Bei der Bahn war er jetzt seit neunzehn Jahren, und in dieser Zeit hatte er es zu solchem Wohlstand gebracht, dass er im Sommer mit einem hellblauen Mercedes Cabrio durch die Straßen Moskaus fuhr. Jedenfalls munkelte man dies in seinem Kundenkreis - gesehen hatte es noch keiner.
Viktor war stets guter Laune, so auch jetzt, da er mit dem Zählen eines dicken Bündels Geldscheine fertig war und Arkadij erblickte, der respektvoll gewartet hatte, bis dieser sich ihm zuwandte. In seiner grauen Uniform und der Schirmmütze mit dem roten Stern auf der Stirnseite sah er aus wie ein kleiner General: er war allerdings auch mit dieser Mütze auf dem Kopf kaum größer als einen Meter sechzig.
„Nur ein Briefchen heute, Viktor Mosejewitsch“, sagte Arkadij, „es wird bei Ankunft des Zuges abgeholt, der Empfänger weiß Bescheid. Was schulde ich dir?“
„Gib mir fünf Dollar“, erwiderte Viktor und nahm den Brief entgegen. Er musste einen ziemlich guten Tag gehabt haben.
„Vielen Dank, das ist sehr freundlich. Der Brief ist wichtig, bitte achte gut auf ihn.“
Das hätte er besser nicht gesagt, denn der Schaffner runzelte die Stirn und fragte, ob er schon jemals nicht gut auf etwas achtgegeben hätte. Arkadij errötete, aber die peinliche Situation währte nur kurz, denn die große Bahnhofsuhr Uhr zeigte jetzt null Uhr vierzig an.
Viktor zückte seine Pfeife, ließ einen durchdringenden Pfiff ertönen und winkte theatralisch mit seiner Kelle. Es konnte losgehen. Vierunddreißig Stunden bis Frankfurt.
Gott mochte wissen, wie Viktor es schaffte, all seine Konterbande über drei Staatsgrenzen zu schaffen, ohne je von Zöllnern drangekriegt zu werden. Es war zu vermuten, dass er sie mit allerlei kleineren Geld- oder Sachgeschenken fürs Wegsehen belohnte, aber auch das wusste niemand so genau.
Arkadijs Job jedenfalls war getan, er konnte, wenn es auch spät war, zu seiner Freundin fahren, die letzte Metro fuhr in wenigen Minuten.
Er hatte keine Ahnung, was auf dem SD-Chip, der jetzt unterwegs nach Deutschland war, Weltbewegendes sein mochte. Auf seine Frage hatte der alte Weksler ihn nur mit den durch seine dicken Brillengläser grotesk vergrößerten Augen angestarrt und geflüstert (obwohl kein Mensch in der Nähe war), es sei besser für ihn, wenn er das nicht wisse. Hätte er den Alten nicht seit frühester Kindheit gekannt, dann hätte er ihn für übergeschnappt gehalten. Aber er respektierte den Großvater seines besten Freundes und schwieg deshalb, trotz des unguten Gefühls, das er dabei hatte.
*
Frankfurt am Main
Igor hasste es, wenn er vormittags aufstehen musste, seine beste Zeit waren die Abende und die Nächte, was ihn gelegentlich in Schwierigkeiten brachte, ob es nun an der Uni war, wo er Termine einhalten musste; oder in einem seiner schnell wechselnden Jobs oder haarigen Geschäfte und Geschäftchen.
Aber die Mail seines Freundes Arkadij hatte nach einem echten Notfall geklungen, wenn er auch kein Wort über den Inhalt des Briefes – der von seinem Großvater in Dubna war – hatte verlauten lassen. War der liebe alte Mann etwa ernsthaft erkrankt? Er war weit jenseits der Siebzig und in diesem Alter konnte man nie so recht wissen, was die eigene Biologie einem als Stolpersteine in den Weg legte. Dennoch hätte es ihn gewundert, denn sein Großvater war vital und kerngesund gewesen, als er ihn im vergangenen Sommer besucht hatte.
Jetzt war es elf Uhr und er tastete blind nach seinem Wecker, der die hässliche Angewohnheit besaß, jedes Mal nach fünf Minuten wieder aufs Neue zu klingeln, wenn man die Mühe scheute, sich aufzusetzen, das Licht anzumachen und ihn komplett auszuschalten.
Mit einem resignierten Seufzer schwang er seine Beine aus dem Bett, drehte dem quengelnden Biest den Saft ab und streckte sich. Duschen oder nicht duschen? Er entschied sich dafür, zog seinen Schlafanzug aus und band sich ein Handtuch um die Hüften.
In dem Studentenwohnheim im Stadtteil Hausen gab es nur Etagenduschen, aber die geringe Miete, die er hier zu zahlen hatte, machte dieses Manko wieder wett. Er duschte fünf Minuten lang abwechselnd heiß und kalt, trocknete sich ab und ging zurück zu seinem Zimmer, um sich anzuziehen.
Er hatte Hunger, aber nichts im Kühlschrank, und so beeilte er sich, zum Bahnhof zu kommen, wo er ein Schinkenbrötchen oder Croissant bekommen würde.
Linie sechs brachte ihn zur Hauptwache und er stieg dort um in eine S-Bahn Richtung Hauptbahnhof; es war zwölf Uhr fünfzehn, als er dort ankam, es blieb ihm reichlich Zeit für ein kleines Frühstück, denn der Zug aus Moskau, fahrplanmäßige Ankunft um zwölf Uhr einundvierzig, hatte eine Verspätung von circa zwanzig Minuten, wie ihm die elektronische Anzeigetafel verriet.
*
Bei Nowgorod, Russland, an der Magistrale 10
Laschtunow hielt am Seitenstreifen und breitete eine Landkarte auf seinem Schoß aus. Er war bis kurz vor Nowgorod gekommen und wollte dort übernachten. Er hatte die Wahl gehabt zwischen dem Hotel Intourist und dem Park Inn by Radisson, und er hatte Letzteres gebucht, obwohl die Übernachtung dort fast dreimal so viel kostete. Er hatte – den Rückweg eingerechnet – noch mehr als viertausend Kilometer zu fahren, und er wurde für diese Reise so gut bezahlt, dass er sich einen gewissen Luxus erlauben konnte. Ein wenig Angst machte ihm die auf seiner Tour notwendige Fährverbindung, denn er fühlte sich auf Schiffen nie besonders wohl. Das musste er in den Genen haben, denn sowohl seinen Vater als auch seinen Großvater hatte niemand jemals auf ein Schiff bekommen, woran vor langer Zeit einmal ein Auswandern der Familie nach Amerika gescheitert sein sollte.
Er hätte fliegen oder den kürzesten Weg von Moskau nach Frankfurt nehmen können, mit seinem winzigen Röhrchen Polonium wäre er sehr wahrscheinlich durch jede Zollkontrolle gekommen.
Aber dieser Vermittler („Sehen Sie in mir einfach einen Vermittler, der im Auftrag einer hochgestellten Persönlichkeit handelt.“), der ihn für das bezahlte, was er tat, hatte seinen eigenen Kopf gehabt und darauf bestanden, dass Laschtunow die umständliche Route über die Ostsee und die skandinavischen Länder benutzte; warum, das mochte der Teufel wissen. Aber es war nicht seine Sache, darüber nachzudenken. Der Araber – oder was immer er sein mochte – bezahlte die Musik, also durfte er auch erwarten, dass nach seiner Pfeife getanzt wurde.
Sein Auftraggeber hatte ihn so viel wissen lassen, dass der Inhalt dieses unscheinbaren, versiegelten Reagenzgläschens durchaus dazu in der Lage war, ein paar tausend Menschen zu vergiften, und obwohl Laschtunow schon seit langem nicht mehr im Wissenschaftsbetrieb tätig war, hatte er von dieser Materie aus seiner Zeit als Laborant am Moskauer Kurtschatow-Institut doch eine ziemlich genaue Vorstellung; und die ließ es glaubhaft erscheinen. Es gab solche Gifte (und ein bestimmtes Polonium-Isotop gehörte definitiv dazu), von denen schon ein paar Milli- oder gar Mikrogramm furchtbare Vergiftungen verursachten.
Aber auch das war nicht sein Problem, das Zeug in dem Röhrchen sah aus wie normale Asche, vielleicht ein wenig heller als diese, aber die Konsistenz stimmte. Es konnte an den Grenzen, die er zu überschreiten hatte, durch Messgeräte des Zolls nicht aufgespürt werden, und für den unwahrscheinlichen Fall, dass man es in seinem Auto finden und ihn danach fragen würde, hatte er eine plausible Erklärung bereit: Er war Chemiker und wollte einer finnischen (später schwedischen, dann dänischen und zuletzt deutschen) Firma ein Patent zur nahezu rückstandslosen Verbrennung von Plastikmüll zum Kauf anbieten, das er kürzlich angemeldet hatte. Diese Firmen gehörten zu den europäischen Marktführern für den Bau von Müllverbrennungsanlagen und waren an seiner Erfindung interessiert. Die Einladungen zu einer Präsentation vor Ort, die er in vier verschiedenen Versionen in seiner Brieftasche mitführte, waren beinahe echt, eine Kopie des Patentantrages sowie weitere hilfreiche Dokumente hatte er parat.
Er hatte eine Menge Zeit. Der Vermittler, der ihm fünfzigtausend US-Dollar für seine Fahrt bezahlte, hatte ihm in Grenzen freigestellt, wann er fuhr. Es gab eine Deadline, die lag in der zweiten Märzhälfte, ansonsten konnte er planen, wie er wollte.
Morgen sollte er es nach Wyborg und von dort auf dem Landweg nach Helsinki schaffen, unter Vermeidung einer Überfahrt über die „Finnische Pfütze“ (wie Russen das Baltische Meer etwas despektierlich nannten).
*
St. Petersburg, Untersuchungsgefängnis des FSB
Kuljamin saß auf der schmutzigen Pritsche in seiner winzigen Zelle und ließ den Kopf hängen. Seit fast drei Tagen hatte niemand mehr mit ihm gesprochen, er bekam morgens eine dünne Suppe, einen Kanten harten Brotes und einen kleinen Krug Wasser, das nach Seife schmeckte. Abends war es dasselbe, was ihn aber nicht weiter störte, denn er hatte ohnehin nur sehr wenig Hunger oder Durst. Er registrierte, dass ihm seine Häscher selbst heute, am Vorabend von Väterchen Stalins Todestag, nicht einmal ein Stückchen Kuchen oder ein kleines Gläschen Wodka gönnten. So war es auch vorgestern gewesen, an seinem eigenen Geburtstag - niemand hatte ihm gratuliert, und er hatte eine Menge Zeit für nutzloses Grübeln gehabt.
Seine Gedanken wanderten ruhelos in seiner Vergangenheit umher, rührten hier und da an nicht Erreichtem, dann wieder suchten ihn Bilder einer Zukunft heim, in der er am Strand einer karibischen Insel in der Sonne lag und dunkelhäutige Kellnerinnen ihm köstliche Cocktails servierten. Das wäre seine Zukunft gewesen (was ein Konjunktiv Plusquamperfekt war, wusste er noch aus fernen Schulzeiten), und diese Zukunft war vorbei, bevor sie angefangen hatte.
„Sie wollten uns also Ihre Frau und Ihre Tochter hierlassen? Ohne ihnen auch nur einen einzigen Rubel von Ihren Millionen zu gönnen? Gratuliere, Sie sind ja ein Pfundskerl.“
Ihr hättet ihnen doch sowieso alles wieder weggenommen, hatte er sagen wollen, es aber dann lieber für sich behalten, obwohl doch ohnehin nichts mehr zu retten war.
Der Vernehmer war ein widerlicher Kerl, wäre Kuljamin nicht schon immer so feige gewesen, hätte er ihm das breite Grinsen aus dem Gesicht geprügelt. Diese Drecksäcke brachten einen dazu, sich als der miese Hund zu fühlen, der man - in seinem persönlichen Fall - wohl auch war.
Seltsamerweise schlugen sie ihn nicht und verschonten ihn von jeglicher anderer Folter, aber Kuljamin argwöhnte, dass es noch zu früh war, darüber zu frohlocken.
Sie kamen in tiefster Nacht, gegen halb vier morgens, und leuchteten ihm mit einer starken Taschenlampe ins Gesicht.
Kuljamin hatte wach in der Dunkelheit seiner Zelle gelegen, unfähig, einzuschlafen, und als er ihre Gesichter sah, glaubte er zu wissen, was nun folgen würde, denn war es nicht seit uralten Zeiten so, dass sie nachts kamen, um einen zu holen?
Seltsamerweise war seine größte Sorge, dass er sich bei seiner Hinrichtung in die Hose machen würde. Sein eigener Tod war etwas zu Abstraktes, er konnte sich ihn ebenso wenig vorstellen wie eine Welt, aus der er einfach wegretuschiert worden war. Er würde gleich ohne große Umstände eine Kugel oder den Strick bekommen. Für Leute wie ihn hatten sie immer nur Kugeln oder Stricke.
Er irrte sich gewaltig.
Sie gaben ihm seinen Anzug und seine Schuhe (samt Hosengürtel, Krawatte und Schuhbändern) zurück und forderten ihn auf, ihnen zu folgen. Über einen Hinterausgang ging es hinaus auf einen unbeleuchteten Parkplatz, wo einer der Männer einen altersschwachen Schiguli aufschloss. Sie wiesen ihn an, einzusteigen, und als er auf der Rückbank saß, ängstlich und im Unklaren darüber, was aus dieser Aktion werden sollte, fuhren sie los, durch die nächtlichen, beinahe menschenleeren Straßen St. Petersburgs.
Nach zwanzig Minuten erreichten sie den Flughafen, eben denjenigen, der Kuljamin vor ein paar Tagen zum Verhängnis geworden war. Nachdem sie den Wagen auf einem Langzeitparkplatz abgestellt hatten, nahmen sie ihn in ihre Mitte und steuerten auf die Abflughalle zu, in der trotz der frühen Stunde reges Treiben herrschte. Einer seiner Bewacher verschwand für ein paar Minuten und überreichte dem verdutzten Ex-Direktor bei seiner Rückkehr eine Bordkarte für einen Aeroflot-Flug nach London.
„Wir machen einen Kurzurlaub, Genosse Meisterdieb. Oder dachtest du, wir sind so reich, dass wir zwölf Millionen Dollar auf einem Konto verrotten lassen?“ Der Geheimdienstmann lachte ein meckerndes Lachen, als hätte er einen guten Witz gemacht.
Sie schoben ihn sanft in Richtung der Sicherheitsschleuse, die sie nach dem Zücken ihrer Dienstausweise unkontrolliert passieren durften.
Kuljamin konnte es nicht glauben. Sie wollten mit ihm nach Grand Cayman fliegen und sich sein Geld unter den Nagel reißen. Waren diese Männer von allen guten Geistern verlassen? Und… war das vielleicht eine winzige Chance, wenigstens mit dem nackten Leben davonzukommen?
Er wusste, dass er in den Händen professioneller Killer war, und die würden nicht zögern, ihn abzuservieren, wenn er zu fliehen versuchte. Allerdings erst, wenn sie das Geld hatten, oder nicht? Der Ex-Direktor begann fieberhaft nachzudenken. Vielleicht konnte er auf dem langen Flug über den Atlantik das Bordpersonal bitten, die Polizei von George Town zu benachrichtigen und sich nach der Landung dann von dieser in Schutzhaft nehmen lassen. Einfach Lärm schlagen und beten, dass die Geheimdienstler das Licht der Öffentlichkeit zu sehr scheuten, um sich an ihm zu vergreifen, solange andere Menschen in der Nähe waren. Man würde sehen, die Chancen standen schlecht, aber nicht mehr so schlecht wie vor kurzer Zeit noch in seiner kalten Zelle.
Sie begaben sich zum Flugsteig und Kuljamin, der vor Müdigkeit fröstelte und Angst vor dem Fliegen hatte, machte gute Miene zum bösen Spiel und lächelte, was das Zeug hielt.
*
Dubna, Region Moskau
Ein Telefonat zwischen dem Absender der heiklen Mail und dem beabsichtigten Empfänger brachte schnell ans Licht, dass die bewusste Nachricht irregeleitet worden war.
„Wahrscheinlich wieder ein Tippfehler, wir werden gleich herausfinden, wo dieses Ding gelandet ist. Wir hatten schon in der Vergangenheit ein paar Kandidaten, die dafür in Frage kommen.“
„Beeilt euch, diese Meldung darf auf keinen Fall die Runde machen, man reißt uns sonst die Rübe ab.“
Sie fanden nach einem Einbruch in seinen Rechner schnell heraus, dass der alte Weksler nicht nur die Nachricht empfangen und geöffnet hatte, sondern auch, dass sie auf irgendein Speichermedium kopiert worden war. Der Regionsvorsteher des FSB bekam einen Wutanfall und schickte sofort drei seiner Schläger zum unweit gelegenen Büro des Alten.
Der hatte in der Zwischenzeit derlei Verdruss kommen sehen und die Mail samt Anhang von seinem Computer gelöscht. Aber seine Vorsicht kam zu spät, was er realisierte, als seine Bürotür sich öffnete, ohne dass sich jemand die Mühe gemacht hätte anzuklopfen. Die drei Männer, die eintraten, kannte er zwar nicht persönlich, aber die Art ihres Auftretens sprach für sich. Sein Herz begann schneller zu schlagen.
„Sie haben nur zwei Möglichkeiten, Iossif Wladimirowitsch, und ich rate Ihnen dringend zur ersten. Die lautet: Reden Sie.“
Weksler wusste es nicht, aber sie hatten den Auftrag, ihn mit Rücksicht auf sein Alter und den berühmten Namen, den er trug, zuvorkommend zu behandeln. Sollte er sich aber weigern, mit ihnen zu kooperieren, so hatten sie freie Hand, in eigenem Ermessen Druck auszuüben, bis er ausspuckte, was er mit der fraglichen Mail gemacht hatte. Der Vorsteher meinte damit vielleicht ein paar Maulschellen, eine Kopfnuss oder eine kleine Daumenschraube, aber seine Männer dachten in völlig anderen Maßstäben.
Was Weksler ebenfalls nicht wusste, weil er sich nur wenig mit solchen Ungeheuerlichkeiten wie Folter befasst hatte: Er würde reden, so wie bisher noch jeder geredet hatte.
Und so kam es zunächst, dass er ihnen trotzig in die Augen blickte und fürs Erste stumm blieb wie ein Fisch. Es blieb einige Sekunden still, dann flüsterte der Älteste der Männer ein einziges Wort.
„Mitkommen.“
Einer der drei Agenten riss ihn hoch und bugsierte ihn in Richtung Tür. Er sollte sein Büro niemals wieder betreten.
Der Weg zu dem Kellerverlies war kurz, einen im Halbdunklen liegenden Gang entlang, dann zwei Treppen hinunter und noch ein paar Schritte nach rechts in einen neuen, noch dunkleren Gang, in dem es nach Moder und Urin roch.
Der Wortführer des Trios zog einen Schlüsselbund aus der Manteltasche und schloss eine Tür auf. Der kleine Raum dahinter sah wenig einladend aus. Als erstes fiel Weksler auf, dass es kein Kellerfenster gab und der Raum auch im Winter nicht geheizt wurde. Es war feucht und bitterkalt.
„Ausziehen, aber dalli!“
Allmählich wurde dem Alten klar, in welcher Lage er sich befand. Er begann zu zittern. „Aber…“
Er bekam eine Ohrfeige, worauf ihm ein wenig schwarz vor Augen wurde und sein linkes Ohr zu pfeifen begann. Aber er kam der Aufforderung nach und fing an, sich umständlich auszuziehen. Als er bis auf Unterhose und Unterhemd nackt war, schaute er die Männer an. Genug? fragte er mit den Augen.
„Weitermachen! Alles runter!“
Es gab einen Tisch mit mehreren Stühlen sowie einen gusseisernen Lehnstuhl, der frei in der Mitte des Raums stand. Auf diesem schnallten sie ihn fest.
Kurios, dachte Weksler, diese Kerle bringen mich um wegen einer E-Mail. Lasst mich in Ruhe, ich habe nichts Verwerfliches getan!
Und als ob er diesen Gedanken gelesen hätte, fragte der Älteste seiner Häscher: „An wen haben Sie die Mail weitergegeben, Väterchen? Sie werden sich besser fühlen, wenn Sie es uns sagen. Viel besser, ich verspreche es Ihnen.“
Weksler starrte ihn an und biss sich einstweilen nur auf die Unterlippe.
„Gut.“ Der Boss des Trios gab dem Mann, der hinter ihm stand, ein Zeichen. Dieser befestigte eine Metallklammer, die am Ende eines dünnen Kabels hing, am Hodensack des alten Mannes. Dann reichte er seinem Boss ein kleines Gerät, das an die alten Trafos erinnerte, mit denen früher Modelleisenbahnen gesteuert wurden.
Weksler quollen die Augen über, als er erkannte, was nun folgen würde. Der Mann dreht einen Knopf leicht im Uhrzeigersinn. Weksler schrie.
„Das waren weniger als zehn Prozent, Väterchen.“ Er drehte erneut, und der Gefolterte rutschte in seinen Fesseln hin und her wie ein ekstatischer Rock’n‘Roll-Tänzer auf Speed. Als es vorbei war, begann er zu wimmern.
„Fünfzehn Prozent. Sollen wir unterbrechen?“
„Ich weiß nicht, wovon Sie reden. Ich habe diese Mail gelöscht, weil sie nicht für mich bestimmt war.“
„Falsche Antwort, mein Freund. Wir haben Ihren Computer gecheckt. Die fragliche Nachricht, die Sie bekommen haben, wurde kopiert. So etwas kann man herausfinden, Väterchen. Ach ja, und so fühlen sich zwanzig Prozent an.“
Wekslers Schreie hallten von den nackten Wänden wider, Ader- und Sehnenstränge traten an seinem dürren Hals hervor, dann begann er leise zu weinen.
„Wir können dafür sorgen, dass Sie in Würde abtreten, Weksler, ohne den großen Namen Ihres Vaters öffentlich zu beschmutzen.“ Der Alte verstand nicht gleich, was sein Peiniger meinte. Er starrte ihn nur verständnislos und mit Tränen in den Augen an.
„Sie geben uns den oder die Namen und sterben dafür ohne weitere Schmerzen. Leben lassen können wir Sie jedenfalls nicht angesichts dessen, was sie angerichtet haben, das verstehen Sie doch sicher.
Sie hinterlassen ein Schreiben, das wir auf ihrem Computer aufsetzen. Darin teilen Sie der Nachwelt mit, dass Sie an einer unheilbaren und mit Sicherheit tödlich verlaufenden Krankheit leiden und Schluss machen, um den zu erwartenden Qualen zu entgehen. In gewisser Weise ist Letzteres ja nicht einmal gelogen.“
Igors Großvater gerann das Blut in den Adern, als ihm schließlich dämmerte, dass er diesen Raum nicht mehr lebend verlassen würde.
Aber er wollte sie nicht auf Igors Fährte bringen, wenn die Schmerzen bis zum Schluss auch nur irgendwie erträglich wären. „Gehen Sie zum Teufel, Sie Ungeheuer!“
Sein Gegenüber lächelte freundlich. „Das werde ich gewiss eines Tages tun, aber zuerst sind Sie dran. Ich glaube, wir überspringen die fünfundzwanzig Prozent. Sergej, stopf ihm ein Tuch ins Maul, damit er uns nicht die Ohren vollplärrt. Wenn er uns ein Signal gibt, dass er reden will, kannst du es wieder entfernen.“
Der Gehilfe des Monsters trat zu dem Folterstuhl und steckte dem Alten einen zusammengeballten Stofflappen in den Mund, der nach Benzin oder Putzmitteln roch. Dann trat er einige Schritte zurück, um das nun folgende Schauspiel zu genießen.
Der nächste Schlag war mörderisch, die Schmerzen unbeschreiblich. Er verlor beinahe das Bewusstsein, ein tiefer Friede wollte ihn überkommen und er hatte das Gefühl, loslassen zu können. Aber dann erhielt er zwei kräftige Ohrfeigen und wurde wieder ins Leben zurückgerissen.
„Das waren vierzig Prozent. Wollen wir jetzt ernsthaft miteinander reden?“
Weksler nickte oder glaubte wenigstens, es zu tun. Er konnte nicht mehr.
„Mein Enkel Igor. Er ist Physiker und lebt in Frankfurt. Ich wollte ihn warnen, damit er von dort verschwinden kann.“
„Name und Adresse, dann können wir Sie erlösen. Oder gibt es noch andere, die etwas wissen?“
Der Alte schüttelte den Kopf. Dann sagte er seinen Peinigern, was sie wissen wollten. Die Existenz seiner Enkelin Katja verriet er ihnen nicht.
„Sehen Sie, das war doch gar nicht so schwer.“ Der Chef dieser Verbrecher griff in seine Tasche und beförderte eine kleine Dose ans Licht, die er öffnete, um ihr eine längliche Kapsel zu entnehmen.
„Sergej, geh auf den Flur und hol unserem Gast ein Glas Wasser.“
Sechs Minuten und dreißig Sekunden später war Iossif Wladimirowitsch Weksler, Sohn eines hochdekorierten Physikers aus der Zeit des Kalten Krieges und Großvater zweier Enkel, die er in Deutschland in großer Gefahr wusste, nicht mehr am Leben.
*
Krasnodar, Südwest-Russland
Der Vermittler hatte sie darauf vorbereitet, ihnen Geduld gepredigt; aber den beiden Fahrern fiel das Warten dennoch schwer.
Obwohl sie einen Umweg von mehr als fünfhundert Kilometern gemacht hatten, waren sie bereits vor ein paar Tagen in Krasnodar angekommen, waren von dort auf das letzte Teilstück der Strecke nach Noworossijsk gegangen und wurden sechzig Kilometer vor der Hafenstadt am Schwarzen Meer, wo ihre drei Röhren auf ein Schiff verfrachtet werden sollten, durch einen Anruf ausgebremst.
Ihre Route war von ihrem Auftraggeber erdacht worden, der annahm, dass die direkte Strecke von Tscheljabinsk nach Noworossijsk ebenso wie alle anderen Fernverbindungen unter besonderer Beobachtung von Miliz, Militär und Geheimdienst stünde, sobald der Diebstahl aufgeflogen war. Und er war aufgeflogen, daran gab es keinen Zweifel mehr.
Es hieß nun zu warten, bis sich die Lage beruhigt hatte, alle offiziellen Grenzübergänge des riesigen russischen Reiches waren für den Warenverkehr dicht, und das betraf eben auch solche Fracht, die auf dem Schiffsweg das Land verlassen sollte. Die Weiterfahrt musste verschoben werden, bis Entwarnung kam, es blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich in Geduld zu fassen. Dafür wurden sie gut bezahlt, worauf ihr Auftraggeber sie ausdrücklich hingewiesen hatte.
Sie mussten ihre Neugierde gewaltig zügeln, denn der Vermittler hatte ihnen nicht verraten, was sich in den Röhren befand; dass es sich um etwas Gefährliches handelte, war ihnen aber ebenso klar wie die Tatsache, dass sie etwas Verbotenes taten. Die Wärmeentwicklung in den Zylindern war ihnen nicht entgangen, auch wenn sie sie nicht plausibel erklären konnten. Naja, und der exorbitante Lohn für diese vergleichsweise bescheidene Aufgabe sprach seine eigene Sprache.
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Frankfurt am Main
Igor weinte haltlos am Telefon. Am anderen Ende der Leitung konnte auch Katja ihre Tränen kaum unterdrücken.
Ihr geliebter Großvater, der ihnen über viele Jahre die Eltern ersetzt hatte, war tot. Gestorben von eigener Hand, wenn man der Verwaltung in Dubna glauben wollte – und das tat Igor, der am Vortag eine alarmierende Nachricht des Verstorbenen erhalten hatte, keine Sekunde lang.
Angeblich hatte es einen Abschiedsbrief gegeben, den er an seinem Computer verfasst hatte. Deshalb gab es keine Unterschrift, anhand derer man die Echtheit des Schreibens hätte nachprüfen können.
Das Traurigste für sie war, dass sie nicht einmal zu seiner Beerdigung nach Dubna fliegen konnten, denn – wie man ihnen in bester Amtssprache mitteilte – der Leichnam des alten Mannes war bereits am Vortag nach einer gründlichen Untersuchung eingeäschert und die Urne auf einem Friedhof beigesetzt worden, dessen Namen sie nicht einmal erfuhren.
*
Riad, Saudi-Arabien
Yassir Hossein, der Vermittler, unterdrückte den Wunsch nach einer Zigarette. Er saß im Wohnzimmer seines Auftraggebers, wobei der Ausdruck Zimmer eigentlich eine Beleidigung für den einem Kirchenschiff ähnlichen Raum war, in dem eine Fußballmannschaft hätte trainieren können. Der Alte duldete keinen Zigarettenrauch in seinen Gemächern.
„Es sind geringfügige Schwierigkeiten aufgetreten, Prinz. Aber es ist nichts, was nicht absehbar gewesen wäre. Die Russen haben natürlich panikartig ihre Grenzen geschlossen; aber das halten sie nicht länger als zwei Wochen durch. Danach werden die Übergänge wieder durchlässig. Außerdem ist unser erster Transporter bereits seit einer Woche in Kasachstan und bewegt sich jetzt auf Nebenstraßen auf die usbekische Grenze zu. Es ging bisher nur langsam voran, aber auch das wussten wir. Die Jahreszeit lässt keine höhere Geschwindigkeit zu.“
„Welche Auswirkungen wird es haben, wenn wir einen oder zwei dieser Transporte verlieren?“
Hossein lächelte sein stets auf Hochglanz poliertes Lächeln.
„Eigentlich nichts, wir haben großzügig geplant. Schon wenn drei dieser neun Röhren tatsächlich ankommen, zuzüglich des Poloniums, dann wird es in Frankfurt Chaos und Verderben geben.“
„Wie hoch schätzen Sie den ökonomischen Schaden, den unsere Aktion anrichten wird?“
Der Saudi konnte seine Zweifel am Erfolg dieser Aktion nicht unterdrücken. Er war sterbenskrank und seine Ärzte hatten durchblicken lassen, dass es in weniger als vier Monaten zu Ende sein konnte - nein, würde. Der Anschlag, der den feigen Kindesmördern von Kunduz galt, war sein Vermächtnis an die Muslime dieser Erde.
„Denken Sie an eine hohe Ziffer mit zehn Nullen, versehen mit einem Dollarzeichen. Vielleicht sogar ein wenig mehr.“
„Beim Barte des Propheten!“
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George Town, Grand Cayman
Nachdem sie ihre Bankgeschäfte erledigt hatten, blieben den Mitarbeitern des Geheimdienstes und dem von ihnen entführten Kuljamin noch drei Tage Zeit, die es totzuschlagen galt, bevor sie die Heimreise antreten durften (oder mussten, je nach persönlichem Gusto), denn es gab für ihre Buchung keine frühere Verbindung nach Moskau.
Am ersten Tag sprachen sie – mit Kuljamin als Frontmann – bei der Barclays Bank in George Town vor und der ehemalige Direktor veranlasste eine Überweisung in Höhe von etwas über elfeinhalb Millionen Dollar auf das Konto einer russischen Spedition bei einer Genfer Bank. Diese Spedition war eine uralte, noch aus KGB-Zeiten stammende Tarneinrichtung, der sie sich jetzt bedienten, um sich Kuljamins Geld anzueignen.
Weil nach dieser Transaktion auf dem Konto in George Town noch immer einiges an Geld übrig war, hoben sie fünfzigtausend Dollar in bar ab und verprassten in diesen drei Tagen so viel davon wie möglich.
Zu ihren Ausgaben gehörten die Anmietung einer Stretch-Limousine mit Chauffeur und einer gutsortierten Bar an Bord; eine Nacht mit vier einheimischen Prostituierten für den gehobenen Geschmack in der Senior Suite eines Luxushotels; kostbar aussehender Schmuck als Entschädigung für ihre daheim gebliebenen Ehefrauen stand ebenfalls auf der Einkaufsliste. Und am letzten Tag vor ihrem Rückflug mieteten sie eine hochseetaugliche Jacht, mit der sie zum Angeln hinaus zum Riff fuhren, vor dem die großen Fische warteten.
Kuljamin war erleichtert, er hatte an all den teuren Vergnügungen teilnehmen dürfen und dabei beinahe das Gefühl gewonnen, wirklich dazu zu gehören. Seinen Vorsatz, auf dem Flug hierher Alarm zu schlagen und die Aufmerksamkeit anderer Passagiere oder des Kabinenpersonals auf sich zu ziehen, hatten seine neuen Freunde schon vor dem Abheben der Maschine zunichte gemacht. Kaum hatten sie sich angeschnallt, zückte einer der Agenten eine Einwegspritze und rammte sie Kuljamin in den Unterarm. Der war binnen kürzester Zeit völlig weggetreten und erst wieder zum Sprechen fähig, als sie ihn kurz vor der Landung auf der Karibikinsel kräftig schüttelten.
Wie dem auch sei, er fühlte sich gut und seinem tödlichen Schicksal schon beinahe entronnen, bis es am letzten Tag hinaus aufs Meer ging und sich seine Angst wieder meldete, ohne dass er hätte sagen können, warum.
Champagner und Wodka floss in Strömen und ab und zu fingen sie wirklich einen Fisch, wobei es sich meist um Goldmakrelen handelte, die sie - begleitet von lautem Grölen - wieder ins Meer warfen, weil sie nichts mit ihnen anzufangen wussten.
Allmählich fragte sich Kuljamin, was sie mit den drei Eimern blutiger Köder vorhatten, die bestialisch stinkend in der prallen Sonne standen, aber er wagte nicht danach zu fragen.
Die Antwort dämmerte ihm, als er sich über die niedrige Reling beugte und knapp unterhalb der Wasseroberfläche die mächtigen Schatten sah, die das Schiff umkreisten. Sein Herz machte ein paar stolpernde Zwischenschläge und ihm wurde mit einem Male schlecht.
„Na, Sie Auswanderer, genießen Sie unseren kleinen Ausflug?“ Der Chef seiner Entführer kam mit einem Drink in der Hand und einem seiner Schlägertypen im Schlepptau zu ihm hinüber. Er schaute ebenfalls ins Wasser und der zitternde Kuljamin wusste, was der andere sah.
„Sind das Haie?“ Die Stimme des Ex-Direktors klang, als hätte er reines Helium eingeatmet.
„Oh ja, die gibt es hier in rauen Mengen, wir haben uns schlau gemacht; Zitronenhaie, harmlose graue Riff-Haie, aber auch Blau- und Tigerhaie, die sich für unser kleines Spielchen besser eignen.“
Er gab seinem Handlanger ein Zeichen, und dieser kam mit einem der Eimer an die Reling und schüttete die blutigen Fischreste über Bord. Sofort kam Bewegung in das Wasser unter ihnen, mehrere Haie stürzten sich auf die Köder, als hätten sie seit Wochen nichts mehr zu Fressen bekommen. Kuljamin schrie vor Entsetzen auf, er glaubte, sich übergeben zu müssen, und seine Knie wollten nachgeben.
„Sie haben nicht ernsthaft erwartet, dass wir Sie zurück nach Hause mitnehmen würden? Was erwartet Sie dort schon außer einem Genickschuss oder lebenslanger Lagerhaft? Auf unsere Art hatten Sie immerhin noch ein paar schöne Tage, nicht wahr? Nehmen Sie es sportlich, Mann!“
Der muskulöse Schläger kam auf Kuljamin zu und drückte ihn gegen die alles andere als stabile Reling. Der Alte wollte um Gnade winseln, aber sein Hals war wie zugeschnürt und er brachte keinen Ton mehr heraus. Die Augen quollen ihm beinahe aus den Höhlen und er hob die Hände zu einer schwachen Gegenwehr, die ihm freilich nichts nutzte. Das Gesicht seines Mörders war jetzt nur noch Zentimeter von ihm entfernt und er konnte eine widerliche Mischung aus Schweiß, Knoblauch und Wodka riechen. Dann packte ihn der Mann an den Hüften, hob ihn scheinbar mühelos hoch und warf ihn ins Wasser.
So hartgesotten diese Killer auch waren, das Schauspiel, das sich ihnen jetzt bot, wollten sie lieber doch nicht mit ansehen und deshalb drehte die Yacht bei und fuhr zurück in Richtung Hafen, noch bevor die Haie mit dem alten Mann fertig waren.