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Kapitel 2

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1 Aspen, Colorado

Das Handy klingelte ihn wach, er hatte den Wecker in der vergangenen Nacht gestellt, um den Makler frühzeitig anzurufen. Es wäre zu schade gewesen, wenn ihnen jemand zuvorkam.

Lisa drehte sich noch einmal um, und Cord schlüpfte aus dem Bett, setzte Kaffee auf, ging ins Bad und duschte mit der gebotenen Vorsicht.

Der Kaffee war fertig und Lisa schien der Duft munter gemacht zu haben. Sie stand bei der Kaffeemaschine und war dabei, zwei Tassen zu füllen.

Sie rauchten eine Zigarette, schlürften das heiße, dünne Gebräu und machten Pläne.

„Wir werden einige Sachen brauchen, bevor wir heute dort oben ankommen. Aspen liegt fast zweieinhalbtausend Meter über dem Meeresspiegel, unsere Lodge sogar ein paar hundert Meter höher. So hoch im Gebirge kann es auch Anfang September schon richtig kalt werden.“

„Du hast Recht. Am besten suchen wir uns ein größeres Einkaufszentrum, in dem wir Klamotten, Vorräte und alles andere kriegen, was wir für diese Woche brauchen. Ich werde mehr Verbandszeug brauchen, Schmerztabletten für die Nächte - und das Fläschchen mit dem Jod ist auch schon fast leer.“

Sie bekamen die Lodge, obwohl der Makler spürbar befremdet war über die Dringlichkeit, die diese Angelegenheit offenbar hatte.

„Ich habe völlig unverhofft eine Woche Urlaub nehmen können“, sagte Cord. „Und da meine Lebensgefährtin furchtbar gerne im Gebirge wandert, haben wir uns über Nacht dafür entschieden, dass wir nach Colorado wollen. Es ist eine spontane Sache.“

Der Mann war offenbar zufrieden mit dieser Erklärung, denn er kam schnell zum geschäftlichen Teil des Gespräches. Cord gab ihm die Nummer seiner Kreditkarte (der zweiten von drei, die er besaß), und der Vorgang wurde bestätigt, noch während sie am Telefon miteinander sprachen.

„Der Verwalter heißt Denver… Was? Ja, das ist kein Witz, er heißt Denver und wohnt in Aspen. Bill Denver. Rufen Sie mich in etwa fünfzehn Minuten an, ich kläre das mit ihm ab. Wann wollen Sie denn dort eintreffen?“

„Am späten Nachmittag, wäre siebzehn Uhr für Sie in Ordnung?“

„Das sage ich Ihnen, wenn ich den Mann erreicht habe. Bis gleich dann. Fünfzehn Minuten.“

Lisa blickte ihn fragend an und er hob den Daumen. „Wenn der Verwalter mitspielt, sind wir schon beinahe dort.“ Sie lächelte, wühlte in ihrem Koffer nach einem frischen Slip und marschierte ins Bad. Er hörte, wie sie die Dusche andrehte und eine ihm unbekannte Melodie summte. Cohen vielleicht, dachte er, aber einer von den späteren Songs.

Er war erleichtert darüber, dass seine Kreditkarte noch nicht gesperrt worden war. Lisa hatte bei ihrem letzten Gang zur Bank eine hohe Summe auf das Kartenkonto eingezahlt, und der Verlust des Geldes würde sie spürbar treffen, wenn auch bei weitem nicht ruinieren. Aber sie wären zunehmend auf Bargeld angewiesen, wenn seine Karten nach und nach aufflogen; bei hohen Beträgen konnte das zu einem Problem werden.

Vielleicht waren ihre Verfolger doch nicht so allmächtig, wie er aufgrund der Geschehnisse der letzten Tage unterstellt hatte. Es würde sich herausstellen, sobald sie einmal mehrere Tage am selben Ort blieben. Er hoffte, dass ihre Lodge wirklich so professionell gesichert war, wie es die Beschreibung versprach.

„Geht klar, Sir!“ brüllte ihm der Makler ins Ohr. „Dieser Mister Denver war ein wenig verschnupft, weil er heute etwas anderes vorhatte, aber er wird heute zwischen siebzehn und achtzehn Uhr in der Hütte auf Sie warten. Sollte es bei Ihnen länger dauern, dann rufen Sie ihn bitte rechtzeitig an. Er wirkt zwar meistens etwas schlecht gelaunt, ist aber kein schlechter Kerl. Ich arbeite seit langem mit ihm zusammen, er betreut auch ein paar andere Objekte, die ich im Auftrag ihrer Besitzer vermiete.“

„Danke, wir werden uns Mühe geben, ihn nicht warten zu lassen. Geben Sie mir bitte seine Nummer.“

Geschafft!

Sie hatten einen Rückzugsort für eine volle Woche. Es würde ihnen fremd vorkommen, morgens aufzustehen und nicht sofort packen und weiterfahren zu müssen; sie würden sich stattdessen ein ausführliches Frühstück leisten können. Gute Ernährung fiel unterwegs immer als Erstes unter den Tisch, und ständige Angst war ein Appetitkiller.

Sie packten ihre Sachen, trugen sie zum Auto, und Cord fuhr die wenigen Meter zur Rezeption, wo er der Frau des Besitzers die Zimmerschlüssel zurückgab. Sie dankte ihm und wünschte ihnen gute Fahrt.

„Nächster Halt: Ein Walmart in Denver“, sagte er lächelnd zu Lisa, als sie den Highway erreichten und er den Kickdown betätigte. Seine Beifahrerin fand einen Sender, der aus irgendeinem Grund die größten Hits von Creedence Clearwater Revival spielte, die richtige Musik für die Straße. Und diese war heute Vormittag praktisch leer; dennoch ermahnte er sich, nie den Blick in den Rückspiegel zu vergessen.

Was sie taten, hatte Lisa vor ein paar Tagen sehr nüchtern als Fahren, Saufen und Ficken bezeichnet. Er hätte es vielleicht nicht ganz so krass ausgedrückt, aber im Großen und Ganzen hatte sie Recht; was sonst blieb ihnen denn auch zu tun in den Nächten, wenn ein strapaziöser Tag sie aufgewühlt hatte und sie in ständigem Alarmzustand waren; sie mussten abends schnellstmöglich abschalten, um am Morgen wieder reisetauglich zu sein. Alkohol und Sex halfen dabei, so einfach war das.

Einmal hielt sich eine graue Limousine eine ganze Zeitlang keine hundert Meter hinter ihnen, fiel nicht zurück, holte aber auch nicht auf. Cord spielte ein wenig mit dem Gaspedal, zog das Tempo bis auf neunzig Meilen die Stunde an, aber es änderte sich nichts. Er reduzierte die Geschwindigkeit auf unter siebzig Meilen, der Abstand blieb der gleiche, der Fahrer des anderen Wagens hatte es vielleicht auf sie abgesehen.

Kurz entschlossen verließ Cord die Interstate an der nächsten Ausfahrt und fuhr zu einer Tankstelle in einer halben Meile Entfernung. Niemand war mehr hinter ihnen.

Paranoia? Nein, aber höchste Vorsicht. Der Fahrer des anderen Wagens war vielleicht nur müde gewesen und hatte jemanden gebraucht, an dessen Stoßstange er sich hängen konnte. Aber ein Vielleicht war in ihrer Situation nicht befriedigend.

Er hatte sich beim Verlassen des Highways Farbe und Modell des Wagens gemerkt, und er würde sich im weiteren Verlauf der Fahrt nach ihm umschauen. Träfen sie ein zweites Mal auf ihn, wäre es wahrscheinlich kein Zufall mehr.

Sie tranken im Stehen einen Kaffee, kauften ein paar Dosen eines dieser gefährlich aussehenden blauen Energydrinks und zwei Schokoriegel, plauderten, um die Straße noch eine Zeitlang beobachten zu können, ein wenig mit dem Tankstellenpächter und fuhren dann weiter.

Nach zwei Stunden erreichten sie die Umgebung von Denver, und schnell füllte sich die Autobahn. Sie wechselten von der I-25 auf die I-76 westwärts und hielten Ausschau nach einem größeren Einkaufszentrum. Schnell fanden sie eines, das ausreichend groß für ihre Zwecke war, und sie stellten den Wagen auf einen Parkplatz, der größer war als sechs Fußballfelder.

Sie neigen gelegentlich zum Übertreiben, diese Amis!

Cord, der Einkaufen hasste, bekam eine Lektion in Geduld und Toleranz, und als sie nach gut zwei Stunden wieder bei ihrem Wagen ankamen, hatten zweitausendfünfhundert Dollar den Besitzer gewechselt. Noch vor kurzem hätte er angesichts einer solchen Rechnung einen leichten Schlaganfall erlitten. Aber man gewöhnte sich schnell an solche Summen. Er war jetzt seit zwei Wochen unterwegs und hatte fünfundvierzigtausend Dollar ausgegeben, allerdings schloss das die beiden Autos mit ein, die er gekauft hatte. Dieses Geld war von Dieben gestohlen und es konnte ihr Leben retten. Sein anfangs schlechtes Gewissen wurde von Tag zu Tag leiser. Auch daran, Unrecht zu tun, gewöhnte man sich schnell, wenn die Umstände es mit sich brachten. Für ihn war es eine neue Erfahrung.

Sie kauften Thermo-Hemden, Pullover mit Norweger-Muster, zwei gefütterte Lederjacken, warme Stiefel, Medikamente, zwei Stangen Zigaretten und Essen und Getränke für einen halben Winter.

Ihr Kofferraum war randvoll gepackt, als sie wieder losfuhren. Es war fast ein Uhr mittags - noch etwa drei Stunden bis Aspen, weitere zwanzig Minuten hinauf zu ihrer Lodge. Ihre Vorfreude nahm zu, Lisa sang mit zur Musik, die von einem lokalen Oldie-Sender mit vier Buchstaben ausgestrahlt wurde. Sie besaß eine wundervolle Stimme, immer ein wenig heiser, aber äußerst bluesig und verdammt sexy.

Help me make it through the night!

Sie schien ihm oft abwesend zu sein, konnte stundenlang schweigen und aus dem Fenster sehen, und selten wusste er, an was sie gerade dachte. Aber das schien sie nicht zu stören, und ihm machte es auch nicht viel aus, weil auch er auf langen Fahrten gerne seinen Gedanken nachhing.

Er hatte vor einigen Tagen versucht, sie darauf anzusprechen, aber sie hatte nur gesagt, er solle sie nicht zum Sprechen drängen. Sie genieße es, einmal nicht ständig gehorchen zu müssen, oder zu etwas genötigt zu werden, was sie nicht wollte. „Ich werde mit dir reden, wenn ich soweit bin. Ich bin dir dankbar für die Chance, die du uns gibst, aber ich brauche Zeit.“

Dazu gab es nicht viel zu sagen. Und er musste zugeben, dass trotz ihres ausdauernden Schweigens ihre Beziehung an Nähe und Vertrautheit gewann. Es fehlten nur die Worte, aber die wurden oft genug überschätzt. Manche Menschen redeten nur, weil sie Angst vor Stille hatten; er kannte mehr als genug von ihnen.

Aber ab und zu lag er nachts für längere Zeit wach, lauschte ihren regelmäßigen Atemzügen und erinnerte sich dabei an ein Sprichwort, das er vor langer Zeit einmal gehört hat. Es ging ungefähr so: Auch wenn zwei Köpfe auf demselben Kissen ruhen, müssen sie noch lange nicht dieselben Träume haben. Das war wohl gut beobachtet.

2 Frankfurt am Main

Er wagte es lange nicht, das Lokal zu verlassen und nach Hause zu gehen. Fieberhaft suchte er nach einer Erklärung für das, was geschehen war.

Zur Polizei konnte er nicht gehen, die würde ihn zunächst einmal einlochen, wegen Verlassens eines Tatortes, wegen Diebstahls - und vielleicht sogar wegen des Verdachts auf Beihilfe zu einem zweifachen Mord.

Wenn das geschah (selbst, wenn er straffrei aus dieser Nummer herauskam), dann würde seine Ex-Frau dafür sorgen, dass er die Kinder höchstens noch zweimal im Jahr und das auch nur von weitem zu sehen bekam. Sie würde es mit seiner Verantwortungslosigkeit begründen, und er hätte angesichts seiner unpassenden Handlungsweise am heutigen Tag einen schweren Stand damit, sie zu widerlegen. Wer einem Kapitalverbrechen beiwohnte und wem danach nichts Besseres einfiel, als die noch warmen Leichen zu bestehlen, konnte keinen guten Einfluss auf ein sieben- und ein fünfjähriges Kind ausüben, und so weiter.

Wer war wer in diesem Schlamassel? Seinen Albino hatte er im Zoo nicht gesehen. Also wer war der Kardinal, wer waren die beiden Attentäter? Worum ging es hier?

Er dachte nach, aber schon nach kurzer Zeit musste er seine Anstrengungen aufgeben – es gab zu viele Unbekannte in dieser Gleichung. Diebe, Agenten, die Mafia; der Möglichkeiten gab es viele, zu viele für seinen müden Verstand.

Woher wussten die Attentäter die genauen Koordinaten dieser Übergabe? Sie mussten schließlich schon vor Ort gewesen sein, als der Bulgare ankam. Hatten sie ein Telefonat belauscht, in denen Papst und Kardinal sich verabredeten? Wenn ja, warum konnten sie das so einfach tun?

Der Gang zur Polizei schien ihm immer weniger erfolgversprechend. Er war in etwas hingeraten, das mindestens eine Gewichtsklasse zu hoch für ihn war. Er hätte die Finger von der Sache lassen sollen. Er hätte es wissen können. Er hätte nach den Schüssen abhauen sollen, wie jeder geistig gesunde Mensch es getan hätte. Wer bezahlte schon sechstausend Kröten für ein paar Fotos?

Konnte er gefahrlos nach Hause zurückgehen? Hatte sein Auftraggeber den Inhalt des Koffers gekannt? War er scharf darauf gewesen? Würde er jemanden schicken, damit er ihm das Geld wieder abjagte?

Damit war zu rechnen.

Und was war mit dem Notebook? Enthielt es brisantes Material? Gab es zwischen diesem Material und dem Inhalt des Koffers einen Zusammenhang? Wahrscheinlich war das so, die beiden Männer hatten wild gestikulierend auf den Bildschirm gezeigt und über etwas gestritten, kurz bevor sie aufstanden und die Schüsse fielen.

War das Geld vielleicht nicht das einzige Motiv für dieses Blutbad gewesen? Andererseits waren sechs Millionen durchaus ein Motiv, Laptop hin oder her.

Der Alkohol begann, sein Denken zu verlangsamen; er hatte heute Morgen nicht einmal gefrühstückt.

Er blickte auf die Uhr und staunte darüber, in welch kurzer Zeit er es geschafft hatte, sein unscheinbares, aber halbwegs geordnetes Leben gegen die Wand zu fahren; seit dem Anruf des verrückten Iren waren noch keine vier Stunden vergangen. So etwas nannte man wohl Effizienz.

Er packte den Laptop zuoberst auf das Geld und die Wertpapiere, und der Koffer ließ sich gerade noch schließen. Noch hatte er das Geld nicht angerührt, er hatte vielleicht sogar die Chance, es dem Albino (oder wer auch immer der Besitzer war) zurückzugeben. Aber würde man ihn verschonen, soweit, wie Cord sich in seiner grenzenlosen Weisheit in Angelegenheiten eingemischt hatte, die ihn nichts angingen?

Du bist fast dreiundvierzig, mein Freund, dein Konto ist chronisch schwindsüchtig, und es ist keine Änderung in Sicht. Was meinst du, wann du das nächste Mal sechs Millionen Dollar zu Gesicht bekommen wirst?

Mit einem Vermögen wie diesem konnte man weit kommen. Es musste umsichtig genutzt und vielleicht ein bisschen gewaschen werden, damit es nicht mehr so sehr nach Verbrechen roch, aber danach konnte man sich ohne weiteres zur Ruhe setzen und auf einer Insel im Südpazifik mit einem Cocktail in der Hand den Sonnenuntergang genießen. Es war verlockend.

Aber der Weg dahin war steinig und gefährlich, ein einziger Fehler, und er würde nirgends mehr die Sonne sehen, weder morgens noch abends. Und um ganz ehrlich mit sich zu sein, die Südsee oder die Karibik würden ihn schnell langweilen, und außerdem wäre es dann endgültig vorbei damit, seinen Kindern nahe und ihnen beim Heranwachsen ein Freund zu sein, auf den sie bauen und auf den sie stolz sein konnten.

Er rief die Kellnerin an seinen Tisch und bezahlte die Getränke - mit seinem eigenen Geld, worauf er trotzig Wert legte.

Draußen sprangen ihn die gleißende Helligkeit und die Mittagshitze an wie ein übellauniges Raubtier mit Mundgeruch. Er blickte sich um und sah am Straßenrand ein Taxi, aus dem gerade ein Fahrgast ausstieg. Er winkte den Fahrer heran, ließ sich samt des Koffers auf die Rückbank fallen, und nannte dem Fahrer sein Ziel; der schaltete den Taxameter ein, wendete und fuhr los. Es war wenig Verkehr auf den Straßen der Stadt, die Hitze fesselte die Menschen an ihre schattigen Wohnungen oder Büros, und wer konnte, war im Schwimmbad oder hatte die Stadt in Richtung Taunus verlassen, wo es nicht ganz so heiß und schwül war.

Er ließ den Taxifahrer fünfzig Meter entfernt von seinem Haus halten, bezahlte und stieg aus; vor Anspannung hätte er beinahe vergessen, den Koffer mitzunehmen.

Er konnte von weitem sehen, dass die Stühle und Bänke der Kneipe neben dem Haus leer waren; zumindest dort schien niemand auf ihn zu warten. Er kam zur Eingangstür und eine Nachbarin, die gerade ihre Post aus dem Briefkasten fischte, grüßte ihn unfreundlich. Sie wusste von seiner Scheidung und nahm sie ihm übel, ohne die Hintergründe zu kennen. Es sei denn, seine Ex-Frau hatte sie mit Tratsch aus ihrer Ehe auf ihre Seite gezogen, was er neuerdings nicht mehr ausschließen konnte.

Er ignorierte den ungnädigen Tonfall, grüßte übertrieben freundlich zurück und fuhr mit dem Aufzug nach oben. Immerhin schien niemand bei ihr geklingelt und nach ihm gefragt zu haben; in seiner Lage war man auch für Kleinigkeiten dankbar.

Aber dass hier etwas passiert war, merkte er, als er im vierten Stock den Aufzug verließ und an seine Wohnungstür trat.

Die Tür war nur angelehnt!

Er hatte sie mit Sicherheit nicht offen gelassen, als er heute Vormittag aufgebrochen war. Er war in Eile gewesen, aber so etwas passierte ihm nicht.

Ihm wurde heiß, er stand regungslos da und versuchte, seinen Atem zu kontrollieren. Es war nichts zu hören. Was, wenn sie den Lift gehört hatten und ihn drinnen erwarteten? Die Tür mussten sie professionell geöffnet haben, er sah keine Kratzer am Schloss und auch keine anderen Anzeichen gewaltsamen Eindringens.

Er wartete zwei volle Minuten und hielt immer wieder kurz den Atem an, um zu lauschen. Außer den gedämpften Lauten der Straße war nichts zu hören. Er tippte die Wohnungstür mit dem Zeigefinger an und öffnete sie einen Spaltbreit. Zu wenig, um etwas sehen zu können. Er nahm die ganze Hand und drückte die Tür ein großes Stück weit auf. Im Flur war nichts zu sehen… oder doch?

Er tat einen Schritt in die Wohnung und hielt erneut inne. Schon von hier aus konnte er sehen, dass seine Besucher nicht gekommen waren, um bei ihm aufzuräumen. Sie hatten seine Garderobe untersucht, seine beiden Jacken und sein Mantel lagen auf dem Boden.

Er machte sich auf Schlimmeres gefasst und betrat die Küche. Niemand da, nur die Schranktüren standen offen.

Das Wohnzimmer sah gut aus, denn sie hatten lediglich die Sofakissen verschoben, und die Türen der geschmacklosen Schrankwand (die seine Frau dort gegen seinen Willen hatte einbauen lassen) waren aufgerissen worden. Beschädigungen waren auf den ersten Blick nicht zu erkennen.

Er schlich weiter zu seinem Büro, dessen Tür offenstand; inzwischen konnte er davon ausgehen, allein in der Wohnung zu sein. Die Einbrecher hatten ihn verpasst.

Das Arbeitszimmer hatte am schlimmsten gelitten; vermutlich waren sie wütend geworden, weil sie weder den Geldkoffer noch das Notebook gefunden hatten. Herausgerissene und auf den Boden geworfene Schreibtischschubladen, die Tischplatte war leergefegt, ein Aktenschrank aufgebrochen, sein Inhalt auf dem Boden verstreut. Dann stockte ihm der Atem.

Sein Computer war weg!

Das war zweifellos der größte Verlust. Da drinnen befand sich sein halbes Leben, beruflich wie privat. Online-Banking, Kreditkarten, Urlaubs-Blogs, Fotogalerien, Korrespondenz, vieles davon ungesichert, anderes mit so einfachen Passwörtern versehen, dass sie für Fachleute kaum ein ernsthaftes Hindernis darstellen würden. Wenn sie mit diesem Rechner fertig waren, wussten sie mehr über ihn als er selbst.

Er wühlte in den Papieren und fand wenigstens seine aktuelle Karte mit den Tans für Banküberweisungen, ging ins Wohnzimmer an den Bücherschrank und suchte in dem Roman Der Idiot von Dostojewski die Passwortliste, die er für eine solche Situation dort versteckt hatte. Seinerzeit hatte er es lustig gefunden, diese Liste ausgerechnet in diesem Titel zu verstecken. Sie war noch da, er stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Vielleicht war noch etwas zu retten von seiner elektronischen Existenz.

Im Schlafzimmer hatten sie die Matratzen umgedreht, einen Teil seiner Kleidung auf dem Boden verstreut und dabei eine kleine Rolle mit Notgeld übersehen, die er unter seinen Boxer-Shorts versteckt hatte. Im angrenzenden Badezimmer schien alles unberührt zu sein.

Er ging zurück in die Küche, holte einen Hocker und kehrte zurück ins Schlafzimmer. Oben auf dem Schrank stand ein Schuhkarton, in dem sich seine 38er Automatik befand. Die Gangster hatten sie ebenfalls entdeckt, sie aber an Ort und Stelle gelassen; der Staub auf dem Karton war weggewischt worden.

Er überlegte, ob er sie mitnehmen sollte, legte sie aber zurück an ihren Platz. Er wollte niemanden erschießen, nicht einmal damit drohen. Die Waffe hatte drei oder vier Jahre dort oben geruht – so lange lagen seine letzten Schießübungen zurück. Cord war nicht einmal sicher, dass sein Waffenschein noch gültig war.

Ziellos und ohne nachzudenken warf er Rasierzeug, Duschgel und Zahnbürste in sein Necessaire, ging damit ins Schlafzimmer und begann, die ihm verbliebene Reisetasche zu packen (die beiden Koffer hatte seine Frau beim Auszug mitgenommen, ohne ihn zu fragen). Zwei paar Hosen, zwei T-Shirts, knitterfreie Hemden, Socken und Unterwäsche, eine leichte Windjacke, das war‘s. Er musste weg von hier, bevor ihn diese Leute ein weiteres Mal aufsuchen würden.

Aber wohin? Er konnte niemanden mit dieser Geschichte zur Last fallen, das wäre zu gefährlich. Wenn sie seinen Computer filzten, hätten sie seine Freunde und Bekannten schnell identifiziert.

Ein Hotel? Wer wusste, wonach er suchen musste und über ein paar Kontakte verfügte, würde ihn auch doch in kürzester Zeit aufspüren.

Also raus hier, auf die Straße, unter Menschen!

Und dann sollte er schleunigst aus der Stadt verschwinden; das war vermutlich sein einziger Schutz.

Er hatte es immer wieder verschoben, sich einen Laptop zuzulegen; zu teuer, unnötig, hatte er argumentiert. Jetzt hätte er einen gebrauchen können.

Aber ich habe doch einen!

Er lag zuoberst in dem geklauten Aktenkoffer. Wenn er aus diesem Ding schlau würde, wäre einiges gewonnen. Er konnte seine Passwörter ändern, vorausgesetzt, es war nicht zu spät.

Im Flur stopfte er noch ein paar Ersatzschuhe in seine nur zur Hälfte gefüllte Tasche und verließ die Wohnung. Er würde sie nicht mehr wiedersehen, sein Schicksal sollte ein anderes sein.

3 Constanta, Rumänien

Das geschäftige Treiben in dem neuen großen Frachthafen Agigea vor Constanta, im rumänischen Teil des Schwarzen Meeres gelegen, klang dumpf bis hoch in die Messe des Schiffes, wo Kapitän Jannis Metaxas saß und eine Schale Obst verzehrte, die der Schiffskoch ihm zubereitet hatte. Viel mehr als Obst und Brei konnte er zuletzt kaum noch zu sich nehmen. Er hatte Probleme mit einer chronischen Entzündung der Bauchspeicheldrüse, und ein schwerer Leberschaden hatte seiner Haut und seinen Augen eine nicht mehr zu übersehende gelbliche Färbung verliehen.

Obwohl er tatsächlich einer war, stellte man sich einen alten Seebären anders vor. Er trug keinen weißen Vollbart, sondern war glattrasiert. Auch hatte er keinen gemütlichen Bierbauch vorzuweisen, im Gegenteil: Er war mager bis auf die Knochen, eine Folge seiner Erkrankung, die ihn früher oder später (eher früher) umbringen würde. Selbst das Obst, das er gerade zu sich nahm, enthielt viel zu viel an aggressiven Säuren und tat ihm nicht gut.

Die Zollbeamten hatten das Schiff verlassen, bevor er sie vollends betrunken machen konnte; in einer halben Stunde konnten sie ablegen und ihre Fahrt in Richtung Varna fortsetzen, dem nächsten Etappenziel einer langen Reise, die ihm und seiner Mannschaft bevorstand.

Er hatte große Mengen an Kunstdünger gebunkert, die er in Namibias Tiefseehafen von Walvis Bay löschen sollte (Anscheinend wollte sich dort jemand mit einem respektablen Sinn für Humor daran machen, die Wüste zum Blühen zu bringen.).

Hätte der Kapitän nicht die zwei Zollbeamten, die er seit vielen Jahren kannte, so großzügig für ihre vorübergehende Erblindung entlohnt, wäre ihnen sicher ein anderer Teil der Fracht aufgefallen, der sie hätte staunen lassen. Im Unterdeck des Frachters waren einhundertsechzig übergroße Holzkisten verstaut, die verplombt waren und das Siegel der rumänischen Armee trugen. Und wenn man genauer hinsah, entdeckte man auf längst vergilbten Aufklebern, die einst an die Kisten gepinnt worden waren, dass diese schon vor fünfzehn Jahren verschlossen und eingelagert worden waren, bis sie nun plötzlich wieder zu neuem Leben erwachten.

Jannis wusste nicht einmal genau, für wen all dieses Gerät letztlich gedacht war (irgendein kongolesischer Rebell, vermutete er, aber es interessierte ihn auch nicht sehr).

Er würde noch ein paarmal anlegen, und dann diese Ladung ein Stück die Kongomündung hinauf löschen. Der Empfänger zahlte Unsummen für diese Waffen, und der Kapitän würde seinen Anteil daran erhalten. Es waren nur Strolche, die sich gegenseitig massakrierten, und würde er ihnen diese Waffen nicht bringen, täte es ein Anderer.

Wäre sein Reeder nicht so ein knausriger Dieb, hätten seine Angestellten so etwas nicht nötig gehabt. Aber er war nun mal einer, und das hatte dazu geführt, dass sich seine Schiffsführer bereits seit vielen Jahren dazu genötigt fühlten, sich ein zweites Standbein zu schaffen. Das war kriminell, aber beinahe jeder tat es, und das beruhigte nach und nach das eigene Gewissen.

Er hatte drei Söhne, und wenn er ehrlich zu sich war, dann waren alle drei handfeste Taugenichtse, was er auch dem Umstand zusprach, dass ihr Vater elf Monate im Jahr auf See gewesen war, während sie aufwuchsen. Die beiden Ältesten waren inzwischen verheiratet und hatten ihm – bis jetzt - drei Enkel beschert, die sie sich nicht leisten konnten; der Jüngste wohnte noch zuhause und hatte nicht einmal eine Freundin. Seine Frau und er hatten schon den Verdacht geäußert, dass er vielleicht schwul sein könnt; aber sie hatten es nie gewagt, ihn darauf anzusprechen. Der Junge war cholerisch und ging viel zu oft und viel zu schnell an die Decke. Aber egal, er war ihr Junge, sie befürchteten nur, und zwar zu Recht, dass er es in einer griechischen Kleinstadt auf dem Peleponnes nicht leicht haben würde, wenn er sich eines möglichst fernen Tages zu seiner Homosexualität (zu seiner möglichen Homosexualität, sie hofften immer noch das Beste) bekennen sollte.

Drei Kinder, die zu schnell wuchsen und eine Mutter, die nicht arbeiten gehen konnte, weil er kaum zuhause war – das erklärte, warum er nach dreißig Jahren auf See nicht einen einzigen Cent für seinen Ruhestand zur Seite gelegt hatte. Und das würde sich jetzt auch nicht mehr ändern lassen.

Sein Arzt hatte ihn bei der letzten Untersuchung skeptisch angeblickt und gesagt, er solle Schluss machen mit dieser Arbeit, dann würde er vielleicht, mit der Hilfe von starken Medikamenten, noch zwei oder drei halbwegs angenehme Jahre haben. Wenn nicht… er musste diesen Satz nicht vollenden.

Es hatte aus diesem Grund auch nur geringer Überzeugungsarbeit bedurft, ihn dazu zu bewegen, sich auf ein solch krummes Geschäft einzulassen. Er schätzte aus Erfahrung, dass er eine siebzigprozentige Chance hatte, diesen Auftrag erfolgreich auszuführen, und das war Argument genug. Wenn sie ihn erwischten, konnte er zwar im Gefängnis landen; aber angesichts seiner schweren Erkrankung konnte ein guter Anwalt vielleicht Haftverschonung für ihn herausholen. Wo also gab es ein Risiko?

Er würde für diese Fahrt zweihunderttausend Euro erhalten, und er hatte die Hälfte dieser Summe als Vorauszahlung verlangt, für den Fall, dass etwas ohne sein Verschulden schief ging. Dieses Geld lag jetzt je zur Hälfte in einem Schuhkarton im Keller seines Häuschens und bei einem seiner Cousins in Athen. Letztere Summe war als letzte Heuer und als Abfindung für seine Crew gedacht, und es war wenig genug für die jahrelange schlecht bezahlte Plackerei auf hoher See.

Nach Varna in Bulgarien waren es etwa neunzig Seemeilen, und da die alte Vanessa nicht mehr als vierzehn Knoten machte, waren es etwa sechseinhalb Stunden Fahrt dorthin.

Dort, im Schutze der Dunkelheit, würde er das Herzstück seiner Fracht an Bord nehmen, zigtausende Maschinengewehre mit mindestens anderthalb Millionen Schuss Munition, alter Kram aus ausgemusterten Beständen der Armee, wie seine Auftraggeber ihm gesagt hatten. Ihn hatte es zuerst gegruselt bei dieser Vorstellung, aber sie sagten ihm Friss oder Stirb! …und er hatte sich fürs Fressen entschieden. Sterben würde er bald genug.

Seine Mannschaft bestand aus sechs Filipinos, zwei Griechen und einem senegalesischen Koch.

Wenn Jannis auf die eine oder andere Art ausschied, würden auch sie sich einen neuen Job suchen müssen. Sein Reeder jammerte seit Jahren darüber, dass dieser alte Kahn ihn nur Geld koste und dass er ihn bald stilllegen müsse. Das war in auffälliger Weise immer nur dann ein Thema, wenn Jannis wegen einer höheren Bezahlung für sich und die Crew vorstellig wurde.

Dieser blöde Hund hatte fünf Schiffe im Mittelmeer herumschippern, und die sahen allesamt nicht besser aus als seine Vanessa. Aber ihm gehörten eine halbe Ägäis-Insel, zwei Häuser, eine luxuriöse Wohnung mitten in Athen, und er und seine Frau fuhren Porsche und Mercedes. Wahrlich ein armer Teufel!

Um neun Uhr ablegen, um vier Uhr morgens mit dem Beladen in Varna beginnen; dies würde gut drei Stunden dauern. Er konnte also kurz nach Sonnenaufgang schon wieder auf hoher See sein. Das klang gut, allerdings stand dem noch der bulgarische Zoll im Wege. Er kannte die dortigen Jungs, sie waren noch ein wenig gieriger als die in Rumänien, sie mussten allerdings dieses Mal auch noch gründlicher wegsehen als sonst. Es würde teuer werden.

Er würde falsche Papiere für diese Ladung mitführen, aber die würden keiner echten Überprüfung standhalten. Sie waren auch nur als Provisorium gedacht, damit er es bis nach Italien schaffte. Dort, vor der Küste Siziliens, würde ein Schnellboot zu ihm hinauskommen und ihn mit den endgültigen Dokumenten ausstatten; mit echten amerikanischen Frachtbriefen, ausgestellt von der Behörde eines Außenhandelsbeauftragten und mit vielen schönen Stempeln versehen, die dem Inhaber der Papiere nahezu freie Fahrt auf allen Weltmeeren und mit welcher Ladung auch immer ermöglichten. Außerdem sollte er ein Sternenbanner erhalten, mit dem er nach Durchfahren der Straße von Gibraltar unter neuer Flagge fahren würde.

Der Kapitän wollte zunächst weiter hinaus auf den Atlantik fahren als es aus navigatorischen Gründen nötig war. Je weiter er von der Küste weg blieb, desto unwahrscheinlicher war es, dass er angehalten und kontrolliert wurde. Auch die amerikanische Beflaggung war sinnvoll. Sein Schiff war damit amerikanisches Hoheitsgebiet und jeder mögliche Kontrolleur tat besser daran, dies zur Kenntnis zu nehmen. Die Amis waren schnell verschnupft, wenn ihre Schiffe belästigt wurden. Jeder wusste das und deshalb geschah es auch selten. Er würde trotzdem zur Sicherheit seine Ortungssysteme ausschalten, sobald er auf dem Atlantik war.

Der Kapitän stellte sein Geschirr in den Abguss und kletterte die Treppe hinauf zur Brücke. Selbst das war schwer genug. Es war Zeit, der Wahrheit ins Auge zu sehen und nach dieser Fahrt endgültig das Handtuch zu werfen. Er hatte genug von alledem, und sein hinfälliger Körper verzieh ihm buchstäblich nichts mehr.

Seine Instrumente zeigten ihm an, dass mit dem Schiff alles in Ordnung war, sie konnten ablegen. Zehn Stunden noch, dann würde er wissen, ob und wie der Hase lief. Varna konnte alles vermasseln, denn ohne die dortige Ladung würde er gar nicht ablegen müssen, es lohnte nicht die Mühe und den weiten Weg. Er dachte an Maria, seine Frau, betete kurz für sie und gab dann Befehl, die Leinen loszumachen.

3 Berlin

Am Frankfurter Hauptbahnhof war die Hölle los. Wegen der großen Hitze spielten die Klimaanlagen der Fernzüge reihenweise verrückt, etliche Züge fielen aus, und das verursachte auf den Bahnsteigen ein großes Gedränge und eine ebenso große Aggressivität unter den Reisenden. Lautsprecherdurchsagen baten (erfolglos) um Verständnis und leierten ununterbrochen Ersatzverbindungen herunter, sofern denn welche vorhanden waren. Es wurde geschimpft, geflucht und gerempelt. Dieses Wetter machte die Menschen fertig, die Gemütslage der Gestrandeten war explosiv.

Cord hastete die Gleise entlang, ohne zu wissen, was er eigentlich wollte. Es sollte ein Zug sein, der ihn weit weg von hier brachte; das war alles, die Richtung war unwichtig. Es war kurz vor vier Uhr nachmittags, ein ICE stand an Gleis 9 bereit, er sollte laut Anzeige in ein paar Minuten nach Berlin abfahren, aber es war unklar, ob er es auch tatsächlich tun würde.

Er war von zu Hause aus mit Aktenkoffer und Reisetasche zur nächstgelegenen Straßenbahnhaltestelle gehastet und zum Bahnhof gefahren. Er hatte sich immer wieder umgedreht, um zu sehen, ob man ihn verfolgte. Eine junge Frau, die nach ihm die Bahn betreten hatte (und die ihn im Verlauf der zehnminütigen Fahrt nicht aus den Augen ließ), fiel ihm nicht auf. Sie stieg gemeinsam mit ihm aus und folgte ihm im Abstand von einigen Metern.

Der Detektiv sah einen Schaffner, der offenbar zu diesem Zug gehörte. „Fahren Sie oder fahren Sie nicht?“ Der Mann zuckte die Achseln und blickte auf die Uhr. „Bisher sieht es noch gut aus, in drei Minuten werden wir’s wissen.“

„Ich habe noch keinen Fahrschein. Ist es okay, wenn ich trotzdem einsteige?“ Der Zugbegleiter hatte nichts dagegen. „Wenn’s nichts Schlimmeres ist. Bleiben Sie in der Nähe des Bordbistros, ich komme dann zu Ihnen.“

Cord ging zur Mitte des Zuges und stieg ein. Die Gänge waren voll mit Passagieren, denen es nicht mehr gelungen war, einen Sitzplatz zu bekommen. Er würde ein Ticket für die erste Klasse lösen, um sich ein solches Schicksal zu ersparen; er musste die vierstündige Fahrt nutzen, an seinem neuen Notebook zu arbeiten. Es gab eine Menge zu tun. Und, zum Teufel, er war im Besitz von umgerechnet etwa achtzigtausend Euro Bargeld, und er hatte Bankobligationen im Wert von mehreren Millionen Dollar. Er konnte den ganzen Waggon kaufen, wenn er es wollte.

Der Zug fuhr an, und natürlich sah Cord nicht die junge Frau aus der Straßenbahn, die auf seiner Höhe am Gleis stand, schon beim Schließen der Türen ihr Handy zückte und hastig eine Nummer wählte. Cord atmete durch und wartete auf den Zugbegleiter.

Der ICE 596 fuhr von Frankfurt nach Berlin und bot sechs Zwischenstopps, bei denen er hätte aussteigen können. Aber nachdem er sein Ticket bis zur Endstation nachgelöst hatte und in einem ansonsten leeren Erste-Klasse-Abteil saß, verlor er bald jedes Zeitgefühl. Zu seinem Glück ließ sich das Lenovo-Notebook des ermordeten Bulgaren starten, und es enthielt auch keine erkennbaren Sperren oder Passwörter; er benötigte nur dringend ein Akkukabel, sobald er irgendwo ankam.

Es dauerte allein anderthalb Stunden, bis er seine sämtlichen Passwörter zurückgesetzt und seine Accounts durch schwer zu erratende neue Kennwörter und Sicherheitsabfragen nahezu wasserdicht gemacht hatte. Danach gönnte er sich eine Dose Bier und schloss für eine Weile die Augen. Er würde gegen halb neun am Abend in Berlin eintreffen, er war müde, hatte aber noch kein Hotel gebucht und hatte auch keine Ahnung, wohin das Ganze eigentlich führen sollte.

Normalerweise hätte er heute Abend Taekwondo-Training gehabt, dachte er beiläufig. Er würde zum ersten Mal seit der Geburt seiner jüngsten Tochter fehlen, ohne vorher abgesagt zu haben.

Er hatte als Kind ein frühes Erweckungserlebnis gehabt, das ihn dazu antrieb, nach und nach verschiedene Kampfsportarten zu erlernen. Es hing mit seinem Vater zusammen, der ein ziemlich radikaler Linker gewesen war und der keine Demonstration, kein Sit-In, keine Blockade oder was auch immer ausgelassen hatte, solange er noch gesund genug dazu gewesen war.

Auf einer dieser Demos – Cord war zu dieser Zeit noch keine zehn Jahre alt – passierte es: Eine militante Nachfolgeorganisation der längst verbotenen faschistischen Wehrsportgruppe Hoffmann fiel an diesem Tag über ein kleines Grüppchen friedlicher Demonstranten her, die gerade gegen irgendetwas protestierten, was Cord inzwischen vergessen hatte.

Seinen Vater erwischte es besonders schlimm, denn sie knüppelten ihn vor den Augen seines kleinen Sohnes nicht nur zu Boden, sondern traten ihn mit ihren schweren Springerstiefeln noch zwei oder dreimal gegen den Kopf, wonach er ins Koma fiel und erst nach vier Tagen in der Universitätsklinik wieder zu sich kam.

Noch am Krankenbett schwor sich ein kleiner wütender Cord, dass ihm so etwas nie, nie, nie im Leben passieren würde, und als sein Vater wieder zuhause war, bekniete er beide Elternteile so lange, bis sie ihn zu seinem ersten Judo-Kurs anmeldeten.

Der Rest war Geschichte, in seinem anhaltenden Zorn und seiner immer weiter glühenden Wut verbrachte er Jahre damit, immer neue Kampfstile zu erlernen, bis er zu Beginn seines Studiums bereits vier verschiedene Gürtel besaß und auf Länderebene zu Wettkämpfen antrat.

Aber er sollte jetzt an andere Dinge denken. Gegen die Kugel eines Attentäters konnte er mit all seinen Kampfkünsten nichts ausrichten. Deshalb waren jetzt auch nicht Mut oder Verwegenheit gefragt, sondern höchste Achtsamkeit und strategisches Denken.

Während er erschöpft für einen Moment wegdämmerte, sich in der Halbwelt zwischen Wachen und Schlafen befand, zogen Bilder vor ihm auf, Bilder von seinen Kindern, wie sie irgendwo am Wasser spielten, wie sie lachten und sich gegenseitig ihre Eimerchen voll Wasser über dem Kopf ausschütteten; er sah seine Ex-Frau, die ihnen mit gerunzelter Stirn dabei zusah und ihm einen bösen Blick zuwarf, weil er nicht einschritt. Aber vom Wasser driftete sein Verstand unversehens zu Haien, die von oben gesehen nur Schatten unter der Wasseroberfläche waren, aber er wusste ganz bestimmt, dass es Haie waren. Die Szenerie wechselte erneut und er sah seine Frau mit ihrer jüngsten Tochter auf der Aussichtsplattform des Empire State Building stehen, sein Verstand protestierte dagegen, weil das Bild nicht real war. Sie hatten das einmal geplant, vor gar nicht langer Zeit, aber sie hatte es ihm mit dem Hinweis auf ihre angespannte finanzielle Lage ausgeredet. Zu Recht - oder auch nicht. Wer konnte das am Ende sagen?

Er setzte sich ruckartig auf und war wieder ganz im Hier und Jetzt seiner elenden Lage. Es waren kaum fünf Minuten gewesen, die er geschlafen hatte, aber er hatte das Gefühl von etwas sehr Wichtigem mitgenommen, wenigstens schien es ihm jetzt so. Aber was war es gewesen?

Die Kinder, die Haie und New York…

Amerika!

Er könnte sich für eine Weile in die USA absetzen, morgen schon, wenn er nach Berlin durchfuhr und einen Flug fand. Er kannte sich dort aus, war oft genug mit Mietwagen durchs ganze Land gereist und hatte mehr davon gesehen als der durchschnittliche Amerikaner je sehen würde.

Und – Amerika war groß, sogar sehr groß. Er würde sich dort eine Zeitlang verstecken können und hoffen, dass die Leute, die hinter ihm her waren, eines Tages das Interesse an ihm verloren.

Der Zug hielt für ein paar Minuten in Leipzig, und seine Sehnsucht nach einer Zigarette war so groß, dass er sein Abteil für kurze Zeit verließ und aus dem Zug stieg. Dabei konnte er durch das Fenster des Waggons sein Gepäck im Auge behalten.

Er besaß aus dem letzten Jahr noch eine ESTA-Erlaubnis zum visafreien Antritt einer Reise in die Vereinigten Staaten. Sie war zwei Jahre gültig und war Überbleibsel vom vergangenen Dezember, als er für sich und die Familie in der Vorweihnachtszeit einen Städte-Trip nach New York geplant hatte. Die Mädchen bekamen für diese Reise sogar ihre ersten richtigen Reisepässe, aber zuletzt scheiterte die ganze Sache eben am Geld.

Aber dieser damals vertanen Gelegenheit nachzutrauern war jetzt nicht die Zeit. Sein kurzer Traum hatte ihm vielleicht ein Stichwort geben wollen. Er stieg zurück in den Zug und begann nach Flügen zu suchen. Eigentlich eine Schnapsidee, aber angesichts des Unfugs, den er heute schon angestellt hatte, kam es darauf nicht mehr an.

Erst eine halbe Stunde vor der Ankunft in Berlin kam er dazu, sich um den eigentlichen Inhalt des Notebooks zu kümmern. Er klickte hier und da, er las Excel-Dateien und Mails, fand Gesprächsnotizen und einiges mehr. Er stocherte wahllos herum, und sein Mut sank von Minute zu Minute. Absurd, sogar surreal, in was er da hineingeraten war. Wenn er die Dinge nach oberflächlicher Lektüre richtig verstand, ging es bei dem blutigen Anschlag im Zoo um ein Waffengeschäft zwischen einem Warlord im Osten des Kongo und… ja, wer war eigentlich die andere Seite?

Der Detektiv fand eine ganze Reihe von Mails, in denen Dinge besprochen wurden, die er nur teilweise verstand. Orte wie Plovdiv in Bulgarien, Häfen wie Varna und Constanta am Schwarzen Meer wurden erwähnt, ebenso wie der kleine sizilianischer Hafen von Syrakus, wo etwas übergeben werden sollte. Und immer ging es um Waffen, die Art der Verschiffung dieser Waffen, um Geld und um Diamanten, teilweise von Natur aus blau und rosa eingefärbte Diamanten, die angeblich seltener und teurer waren als gewöhnliche Edelsteine.

Auch deren Transportwege wurden diskutiert und verworfen, Mittelsmänner namentlich oder mit ihren Spitznamen (die offenbar jeder an dieser Sache Beteiligte kannte) erwähnt, eine Hafenstadt in der Kongo-Mündung war Ziel von etwas, das gelegentlich auch nur als Ware bezeichnet wurde. Dokumente waren erstellt, ausgedruckt, eingescannt und archiviert worden. Es ging um die ganze Wertschöpfungskette bei diesem Geschäft, vom afrikanischen Rebellen, der eine Diamantmine in der Nähe des Kivu-Sees kontrollierte, bis hin zu Diamantschleifern in Antwerpen, Amsterdam, London und New York, die nur halblaute Fragen nach der Herkunft der Steine stellten.

Und es ging immer wieder um Geld. Bestechungsgeld hier, Geld für den Transport dort, Geld überall. Als Cord kurz vor Berlin erschöpft aufgab und den Laptop ausschaltete, wusste er in allergröbsten Zusammenhängen Bescheid. Aber er hatte bisher nur an der Oberfläche gekratzt, das ließ sich schon jetzt sagen.

Er war bei einem kriminellen Waffendeal zwischen die Zahnräder einer längst laufenden Maschinerie geraten; was er an Bargeld und Wertpapieren bei sich trug, war wohl als Provision für die sogenannten D.C.-Leute gedacht; um wen es sich da genau handelte, konnte er noch nicht sagen, aber eines der Dokumente trug den digitalen Stempel eines ihm unbekannten Ministeriums oder Institutes der Vereinigten Staaten. Das alles war rätselhaft und beunruhigend. Die Leute, deren Geld er gestohlen hatte, drehten ein ziemlich großes Rad, und sie waren dabei nicht zimperlich.

Als der Zug mit einigen Minuten Verspätung in den Berliner Hauptbahnhof einfuhr, stieg ein von den Ereignissen des Tages mitgenommener Cord Hennings aus. Er sehnte sich nach einem Bett und einer Nacht erholsamen Schlafes, die er aber kaum bekommen würde.

Das Ladekabel nicht vergessen!

Er war auf das Notebook, das ihm nicht gehörte, angewiesen, und vor wenigen Minuten, kurz vor Ankunft des Zuges, war sein Ladestatus bei unter zehn Prozent gewesen. Er ging vom Gleis aus direkt zu einem Informationsschalter, wo ihm eine hilfsbereite Dame nach ein paar Anrufen zwei Elektro- bzw. Computerläden nannte und den kurzen Weg dorthin beschrieb.

Um halb zehn besaß er ein neues Kabel und hatte einen halben Döner gegessen, den er mit Dosenbier herunterzwang; Aufregung und die Hitze schlugen auf seinen Appetit, selbst um diese Stunde war es noch fast dreißig Grad warm, wie das Thermometer über dem Eingang einer Bank behauptete. Aber Cord würde schwerlich noch irgendwo hinkommen, wenn er nicht wenigstens ab und zu etwas aß. Essen war Energie, und Schlaf war wichtig, damit er klar denken konnte.

Er setzte sich auf die oberste Stufe der Steintreppe einer Kirche und überlegte. Es gab mehrere Möglichkeiten, in die USA zu reisen, den besten Flug schien Delta anzubieten. Von Berlin Tegel über Paris Charles de Gaulle nach Miami. Morgen Nachmittag gegen halb sechs Ortszeit konnte er sicheren Boden unter den Füßen haben - falls es so etwas für ihn noch gab.

Er war früher gelegentlich mit Air Berlin von Düsseldorf nonstop nach Fort Myers im Südwesten Floridas geflogen, aber diese Verbindung gab es nach der Pleite der Airline nicht mehr in dieser Form. Aber Miami klang auch gut. Wenn überhaupt noch Platz in der Maschine war, denn für eine Online-Buchung war es zu spät; er würde sein Glück am Flughafen versuchen müssen. Einen Mietwagen konnte er erst bestellen, wenn sein Reiseziel feststand; das musste also warten bis zum Morgen.

Er wollte gegen sechs Uhr am Delta-Schalter sein, der Flug startete um kurz vor zehn. Jetzt noch in ein Hotel zu gehen lohnte sich nicht mehr, deshalb nahm er ein Taxi und fuhr, vorbei an Moabit und dem Wedding, direkt zum Flughafen. Es war eine Fahrt von fünfzehn Minuten, und nachdem er eine gutgemeinte Frage des älteren Taxifahrers nur knapp beantwortet hatte, schwieg dieser. Der Fahrgast wollte seine Ruhe haben, und das war sein gutes Recht.

In Tegel angekommen betrat Cord die Abflughalle und hielt Ausschau nach einem Platz, an dem er für eine Zeitlang ausruhen konnte. Das kleine Abendessen hatte ihn nicht wieder munterer gemacht, im Gegenteil, jetzt fühlte er sich schwer und war todmüde. Er fand einen fast leeren Wartesaal, in dem nur eine Großfamilie aus Indien oder Bangladesch saß, setzte sich so weit wie möglich entfernt von den völlig überdrehten Kindern, stellte seinen Handywecker auf fünf Uhr dreißig und schlief fast augenblicklich ein. Er hatte vor dem erhofften Einchecken noch ein paar Dinge zu erledigen, vor allem, was das Bargeld in seinem Gepäck anging. Und es gab noch eine Transaktion, die er unbedingt vornehmen wollte.

Gegen drei Uhr morgens schrak er hoch und wusste zuerst nicht, wo er sich befand. Seine Glieder schmerzten vom unbequemen Sitzen.

Draußen im Abflugbereich fuhren Kehrmaschinen hin und her, er war ausgetrocknet und sehnte sich nach einem Kaffee; aber zunächst nahm er Aktenkoffer und Reisetasche und ging nach draußen, um vor dem Gebäude zu rauchen. Es wurden schließlich drei Zigaretten, denn er hatte noch eine Menge Zeit zu überbrücken. Er hielt Ausschau nach einer Bank oder Wechselstube und fand eine Sparkasse, die aber erst um sechs Uhr öffnen würde.

Kein Problem.

Und er bekam sein Ticket nach Miami, auch wenn die Dame am Delta-Schalter verstört darauf reagierte, dass er in bar bezahlen wollte. Sie sprach mit einer Kollegin darüber und kam nach einer Minute zurück. „Tut mir Leid, das haben wir hier nicht mehr oft.“ Er murmelte etwas, das wie eine Entschuldigung klingen sollte. „Check-In ist ab sechs Uhr vierzig. Delta Airlines wünscht Ihnen einen angenehmen Flug.“

Erleichtert und dankbar nahm er sein Business-Class-Ticket entgegen. Man musste auch einmal Glück haben. Diesem Glück hatte er allerdings mit seinem ersten Sündenfall nachgeholfen, denn er hatte Geld aus dem Aktenkoffer dafür verwendet. Es war kein besonders erhebendes Gefühl, aber die Gefahr und das einsetzende Reisefieber verdrängten die Scham in eine Abstellkammer seines Gewissens.

Um kurz nach halb sieben betrat er die Bank, zählte dem Kassierer zehntausend Euro vor und autorisierte eine Überweisung an seine Ex-Frau. Wer wusste schon, wann er wieder in der Lage sein würde, den Unterhalt für seine Mädchen zu bezahlen?

Er hatte in einem der Geldbündel aus dem Koffer gut zwanzigtausend US-Dollar gezählt, wusste aber, dass er Bargeldbeträge, die über zehntausend Dollar hinausgingen, bei der Einreise auf seiner Zollerklärung würde angeben müssen. Das wollte er nicht, er musste versuchen, die Anzahl an Fragen, die man ihm am Zoll in Florida stellen konnte, so gering wie möglich zu halten.

Wie es sich mit den anderen Währungen verhielt, wusste er nicht. Er würde sie in seiner Reisetasche zwischen der Wäsche verstecken und hoffen, dass diese nicht von den Zöllnern geöffnet wurde. Falls doch, würde er einiges zu erklären haben.

Er tauschte die überzähligen Dollar gegen Schweizer Franken in großen Scheinen ein und verließ die Bank. Noch fast drei Stunden bis zum Abflug. Sollte ihm immer noch jemand folgen, so wäre er hinter dem Security Check besser aufgehoben als davor. Man brauchte eine Bordkarte, um dorthin zu durchgelassen zu werden. Also verzichtete er zunächst auf ein Frühstück und ging ein zweites Mal zum Check-In-Schalter von Delta, um sein Gepäck aufzugeben und seine Bordkarte entgegenzunehmen.

*

Etwa um diese Zeit hatten Cord Hennings Verfolger in einem schäbigen Hotelzimmer in der Frankfurter Bahnhofsgegend den Computer, den sie aus seinem Arbeitszimmer entwendet hatten, sorgfältig untersucht. In den frühen Morgenstunden zählten sie aufgrund dessen, was sie fanden, eins und eins zusammen.

Er war erstens – das hatte ihnen ihre kleine Späherin gemeldet - in einen Zug nach Berlin gestiegen, und er war zweitens ein ausgesprochener USA-Fan, was seine zahlreichen Reiseblogs unterstrichen.

„Chef, er ist wahrscheinlich bis nach Berlin durchgefahren und will vielleicht von dort aus in die Staaten.“

„Wen haben wir in Berlin?“

„Niemanden zurzeit. Aber der fette Ollie ist in Potsdam, soweit ich weiß.“

„Mist, verdammter! Weckt ihn, macht ihm Beine! Er soll die Flughäfen abklappern und sich bei den Fluggesellschaften durchfragen. Er soll mit Geldscheinen wedeln, wenn sein Charme versagt. Wenn wir wissen, wohin der Kerl unterwegs ist, alarmiere ich unsere Partner drüben. Wir dürfen den Kerl kein zweites Mal verlieren.“

„Ach ja, Chef, wir sollten ihn aus sicherer Distanz erledigen. Seine Wohnung ist voll von Pokalen, Medaillen und Urkunden; er hat ein paar schwarze Gürtel in Kampfsportarten, die ich nicht einmal richtig aussprechen kann.“

„Auch das noch…!“

5 Manassas, Virginia

Der Secret Service hatte Tag und Nacht ein Auge auf ihn, denn als Sicherheitsberater des Präsidenten hatte er natürlich Anspruch auf lückenlosen Personenschutz, auch wenn der manchmal lästig, und seit einiger Zeit sogar gefährlich für ihn war. Er musste einiges an Chuzpe aufwenden, um da und dort einmal unter dem Radar seiner Leibwächter auszufliegen.

Er hatte sich seit Beginn seiner außerehelichen Aktivitäten einige Manöver angeeignet, um sich frei bewegen zu können. So hatte er sich beispielsweise eine glühende Begeisterung für alte Kinofilme zugelegt, die unter allen Beteiligten für erhebliches Stirnrunzeln gesorgt hatte (er konnte sich schließlich über jeden Streaming-Dienst tausende Filme beschaffen, ohne einen Fuß vor die Tür zu setzen). Aber er sagte ihnen, das sei nicht dasselbe wie das echte Kinoerlebnis, und man hatte das Ganze nach und nach als seine ganz persönliche Macke akzeptiert und sich daran gewöhnt. Und Gewohnheit war sein bester Schutz, weil sie stets mit nachlassender Wachsamkeit einherging.

Sein Trick bestand darin, sich lange Spielfilme auszusuchen und das Kino während der Vorführung durch den Notausgang zu verlassen, während sein Handy, das dem Secret Service bekannt war, an seinem Platz liegen blieb, damit es wie immer geortet werden konnte und nahelegte, sein Besitzer säße im Zuschauerraum. Das hatte bisher immer geklappt, auch, weil er seine Leute ausdrücklich anwies, sich im Foyer aufzuhalten und von dort aus mögliche Bedrohungen von ihm fernzuhalten. Sie lamentierten eine Zeitlang, gaben aber irgendwann auf, denn er konnte sehr überzeugend sein. Überzeugend und bösartig.

Sobald er draußen und hinter dem Gebäude war, rief er mit seinem zweiten Handy, das nirgends registriert war, ein Taxi herbei und fuhr, wohin auch immer er wollte. Er musste nur vor Ende des Filmes wieder auf seinem Platz sitzen. Und das war nicht schwierig, da Sex schnell und schmutzig sein musste, um ihn zu befriedigen; zumeist war er nach ein paar Minuten damit durch.

In den ersten Jahren besuchte er einige der teuren Etablissements, die keine Werbung für ihre exklusiven Dienste machten und deren Anschrift man nur durch Mundpropaganda bekam. Diese Häuser waren bekannt für bedingungslose Diskretion, die ihr größtes Kapital darstellten. Er musste keine Entlarvung befürchten, so lange er gut bezahlte (was er stets tat) und die Frauen gut behandelte (was er nicht ganz so oft tat).

Zu Beginn hatte er noch reifere Frauen bevorzugt, solche, die Erfahrung hatten und die ihn führen konnten. Er hatte nur wenig Übung in diesen Dingen, weil er viel zu früh geheiratet hatte und der Sex mit seiner Frau nur in den ersten Monaten ihrer Ehe stattfand und erschütternd fantasielos ablief (bevor er schnell ganz versiegte).

Aber nach einer Weile schlich sich das Gefühl ein, dass diese Frauen ihn nicht akzeptierten, oder dass sie sich sogar über ihn lustig machten. Das konnte er nicht belegen, und vielleicht lag es auch nicht an den Frauen, sondern an seinen überschaubaren körperlichen Vorzügen, vom wichtigsten Teil seiner Männlichkeit ausgehend über seinen sichtbaren Bauch und dem schütteren schwarzen Haar, das seinen Kopf nur noch halb bedeckte. Sie mussten einfach über ihn lachen.

Seine Froschperspektive gegenüber erwachsenen Frauen führte bald dazu, dass die Huren, die er auswählte, jünger und jünger wurden, bis irgendwann der Tag kam, an dem er Minderjährige haben wollte, am liebsten Negermädchen oder kleine Latinas im Alter von maximal fünfzehn Jahren, für die er der Onkel war, der ihrer Mama viel Geld dafür gab, dass er ihnen ein bisschen wehtun durfte. Und obwohl er ein ausgesprochener Rassist war, wurde die ihm Widersprüchlichkeit seiner Empfindungen kaum einmal bewusst.

Als er gegenüber der Chefin seines letzten Bordells derlei Wünsche äußerte, wurde diese ungewohnt deutlich.

Verpiss dich, du Schwein!

Sie hatte es nicht wörtlich gesagt, aber sinngemäß war es das. Er hatte sich also verpisst und war auch nicht mehr wiedergekommen. Und wenn er von Zeit zu Zeit an das kurze, unfreundliche Gespräch mit ihr dachte, bekam er rote Ohren und Bluthochdruck.

Er hatte sich einen zweiten Laptop besorgt und hatte auf diesem im Darknet zu stöbern begonnen, was ihm als Sicherheitsberater nicht fremd war. Viele der ganz bösen Jungs verkehrten dort, verabredeten sich zu Straftaten, dealten mit Waffen und Drogen, und selbstverständlich gab es dort Foren für Männer mit besonderen Vorlieben wie den seinen.

Er war immer sehr umsichtig gewesen, denn er wusste, dass das, was er tat, zutiefst unmoralisch und vor allem illegal war. Waren diese Mädchen nur einen Tag jünger als achtzehn Jahre alt, dann machte er sich der Vergewaltigung schuldig, wenn er auch nur an ihnen roch. Die Gesetzbücher des Staates Virginia, wie auch die des District of Columbia, gaben da mit Sicherheit keinen Interpretationsspielraum.

Und jetzt hatte ihn jemand erwischt und ließ ihn völlig ausbluten, denn auf den brillanten Schwarzweißfotos in A4-Größe war er zweifelsfrei zu erkennen, da würden sich die Geschworenen schnell einig sein. Heute war die letzte Rate fällig, das versprach er sich, auch wenn es Bullshit war. Was sollte er denn tun?

Um den Kerl, der ihn erpresste, in eine Falle zu locken und zu töten, war er bei weitem zu feige. Wenn er Blut auch nur sah, wurde ihm übel, weshalb er auch noch nie ein Steak gegessen hatte, das nicht mindestens medium gebraten war. Er konnte seinem Boss Kriegshandlungen empfehlen, die tausende Soldaten oder Zivilisten das Leben kosteten; denn dieses Blut sah er nicht, es war abstraktes Blut, weit weg von den USA, weit entfernt von Washington und weit weg auch von seinem Schreibtisch und seinem Gewissen.

Für das Geld, das dieser Bandit von ihm forderte, konnte man auch einen professionellen Killer haben; nur konnte er nicht gleichzeitig den Erpresser und einen Auftragsmörder bezahlen, denn solche Leute wollten Cash sehen, man konnte ihnen keinen Scheck andrehen.

Den Killer seine Arbeit machen zu lassen, und ihm als Lohn diese letzte Rate von fünfzigtausend Dollar anzubieten, klang besser, das schien ihm eine reale Möglichkeit zu sein.

Es war sicherlich nicht schwer, jemand Qualifizierten für solch eine „nasse“ Operation, wie die Russen es so treffend nannten, im Netz zu finden. Er musste dazu nicht einmal sein Arbeitszimmer verlassen. Eine Zeitlang gefiel ihm dieser Gedanke, aber bald dämmerte ihm, dass auch das kein Königsweg war.

Der Erpresser würde die Fotos nicht bei sich tragen, und er wusste nicht, wer sonst über sie Bescheid wusste. Oder was geschah, wenn der Mörder die Fotos doch bei ihm fand, sie behielt und ebenfalls an der Idee Gefallen fand, ihn damit zu erpressen? Dann kam er vom Regen in die Traufe.

Er verdrängte all diese unschönen Dinge, setzte sich an den Schreibtisch und begann zu suchen. Nach einer Stunde ungeduldigen Navigierens wurde er fündig. Er schränkte seine Auswahl auf zwei Kandidaten ein, einen mit einem serbischen oder kroatischen Namen, der andere war zweifelsohne italienischer Herkunft. Er schrieb beide an, machte die Sache dringend und wartete, mit einem Glas Bourbon in der einen und einer Zigarre in der anderen Hand. Zeit verstrich, zu viel für seinen Geschmack, morgen Abend sollte die letzte Rate beglichen werden, er würde das Geld ab morgen früh bereitliegen haben, wie immer in einer kleinen Geldtasche, die man am Gürtel einhaken konnte. Ein halbes Dutzend dieser Taschen hatte er bereits verbraucht, aber diese hier war die Letzte, so oder so.

Er wollte schon aufgeben, da meldete sich der User mit dem Nutzernamen Osijek120. Er musste bei Wikipedia nachsehen, um festzustellen, dass Osijek eine Stadt im Osten Kroatiens war, die Nachricht kam tatsächlich von dem Mann, den er mit Ex-Jugoslawien in Verbindung gebracht hatte.

Er schilderte in wenigen Sätzen sein Anliegen, froh, dass in diesem Netz alles, was er von sich preisgab, umgehend wieder gelöscht wurde. Er glaubte den Mann schon an der Angel zu haben. Es sei machbar, sagte er, beschwerte sich aber über die Kurzfristigkeit des Auftrages. Es gab nur vierundzwanzig Stunden zur Vorbereitung, so etwas mache er nur ungern. Aber okay, mit einem Bonus von fünfzig Prozent sollte der Anschlag über die Bühne gehen.

„Fünfzig Prozent wovon“, fragte der Sicherheitsberater nervös, und erhielt die Antwort „fünfzig Prozent meiner üblichen Gage von sechzigtausend. Nicht verhandelbar!“

Das war‘s, der Berater beendete frustriert den kurzen Dialog. Sechzigtausend plus fünfzig Prozent hatte er nicht und er konnte sie auch nicht auftreiben, so sehr er sich auch strecken mochte. Er hatte die fünfzig Riesen und keinen einzigen Dollar mehr.

Das Warten ging weiter, und sein Mut sank.

Und dann klingelte das Telefon und eine vertraute Stimme sagte: „Wir sind ein bisschen am Arsch, Mann! Die Geldübergabe in Frankfurt ist geplatzt. Es gab zwei Tote und irgendein Knilch ist mit dem ganzen Zaster abgehauen. Sie sind hinter ihm her, aber das kann dauern.“ Sein Partner legte auf.

Dem Nationalen Sicherheitsberater des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, Michael K. Ashbourne, wurde zuerst schwindlig, und dann wurde ihm schlecht. Er schaute sehnsüchtig auf die geladene 22er, die ihn aus der offenen Schublade seines Schreibtischs angrinste.

Und er überhörte fast das leise Piepsen seines Computers, der ihm den Kontakt zu einem gewissen Fratelli17 meldete. Noch war er nicht ganz verloren, er schöpfte neue Hoffnung, umso mehr, als dieser Itaker ihm schrieb, dass er nach diesem Job Fratelli18 heißen würde. Es klang nach einem Versprechen.

6 Miami, Florida

Sein Flug verlief ruhig, abgesehen von ein paar kaum nennenswerten Turbulenzen, als das Flugzeug vom Nordatlantik kommend auf die nordamerikanische Kontinentalmasse traf und die Flugbegleiter den Bordservice für eine Viertelstunde unterbrechen mussten. Als Vielflieger kannte er das und es machte ihm nichts aus. Wer es nicht vertrug, sollte zuhause bleiben oder mit dem Schiff fahren.

Er hatte bewusst auf die Beengtheit in der Economy Class verzichtet und viel Geld für einen Business Seat bezahlt, um sich ungestört um das immer noch mysteriöse Notebook kümmern zu können. Er musste herauskriegen, wen er bestohlen hatte, denn davon hing ab, wer ihm an den Fersen klebte. Waffenschieber, die Mafia, smarte Geschäftsleute mit willigen Killern in der Hinterhand, oder korrupte Politiker, die sich in ihrer Freizeit etwas dazu verdienten. Er wurde nicht richtig schlau aus der Sache, auch wenn einige der Dokumente, die er las, in letztere Richtung deuteten. Er hatte schließlich Stempel gesehen, unter anderem einen derzeitigen amerikanischen Außenhandelsbeauftragten im Rang eines Ministers; es hatte jemand für diesen in Vertretung unterschrieben.

Er vermutete, dass man angesichts der Höhe der gestohlenen Geldsumme und der klar erkennbaren Brisanz der Belege, die er bei sich trug, keine Anfänger auf seine Fährte setzte. Er konnte hoffen, dass er in Miami noch einen kleinen Vorsprung hatte – das würde sich in weniger als zwei Stunden zeigen.

Er hatte vor dem Check-In bei Hertz einen Wagen bestellt, einen Ford Taurus mit allen Meilen inklusive und mit ausreichendem Versicherungsschutz. Das war teuer, weil er im allerletzten Moment gebucht hatte, und weil in den Staaten erst in einer Woche Labour Day war und mit ihm der Schlusspunkt der diesjährigen Feriensaison.

Auf der Zollerklärung, die er während des Fluges ausfüllte, gab er an, dass er die meldepflichtige Höchstgrenze von zehntausend Dollar in bar unterschritt. Aber selbst, wenn sie ihn filzten und fragten, hatte er an sich wenig zu befürchten. Seine Airline hatte den amerikanischen Behörden bereits vorab mitgeteilt, dass dieser Reisende mehr als acht Wochen im Land bleiben wollte, was durch sein Rückflugticket zu belegen war. Er würde sagen, dass er Kreditkarten nicht mochte und nur dann einsetzte, wenn es gar nicht anders ging. Das war vielleicht ein bisschen schrullig, aber letztlich seine Sache und zumindest nicht ganz illegal. Er würde sich doof stellen und das Beste hoffen.

Er hatte keine feste Route im Sinn, wollte zunächst auf dem schnellsten Weg raus aus Miami, nach Norden, die erste Tankfüllung leerfahren und dann schauen, worauf es hinaus lief. Er kannte den größten Teil der USA, etliche Teile davon sehr gut. Den Südwesten mochte er am meisten, all diese leeren Straßen durch ebenso leere Wüstenlandschaften waren immer eine Art Wahlheimat für ihn gewesen. Das Radio eingeschaltet, oder eine CD mit Rockmusik in den Player geschoben, und er konnte endlos fahren, sich die Gegend ansehen, träumen, meditieren, ja, er hatte schon Tage gehabt, an denen er sieben- oder achthundert Meilen gefahren war, und es machte ihm nicht das Geringste aus; er merkte es erst, wenn er schließlich bei einem Motel, das er Stunden zuvor online gebucht hatte, ankam und sich mit steifen Knochen aus dem Fahrersitz schälen musste.

Der Westen war verlockend. Er konnte nicht ewig weglaufen, aber im Augenblick war es das Beste, in Bewegung zu bleiben, bis ihm etwas Vernünftigeres einfiel. In einem Kriminalfilm hatte er einmal den Satz gehört, nach dem die Mafia niemals etwas vergaß. Das klang deprimierend, und er hoffte mit wenig Überzeugung, dass seine spezielle Mafia eine Ausnahme für ihn machte und ihn irgendwann von ihrer Liste nahm.

Nun, sie kannten ihn schon jetzt sehr gut, nachdem sie – vermutlich - seinen Computer auseinandergeschraubt hatten. Er durfte sich keine Illusionen machen, denn er stand mit dem Rücken zur Wand.

Sie konnten schon auf ihn warten, wenn er gelandet war. In Frankfurt hatte er sich mit eigenen Augen davon überzeugen müssen, dass diese Leute brutal und völlig humorlos agierten, wenn sie etwas wollten oder ihnen etwas gegen den Strich ging. Besseres als eine Kugel in den Kopf konnte er von ihnen nicht erwarten, wer immer sie waren.

Die letzten Getränke und Erfrischungstücher auf diesem Flug wurden gereicht und er schaltete das Notebook aus. Unten am Boden tauchte die Küstenlinie Floridas auf, der Pilot hatte bereits den Sinkflug eingeleitet, in zwanzig Minuten würden sie landen.

Cord Hennings schloss die Augen und wiederholte lautlos und mehrmals den Satz: Ich werde zu meinen Kindern zurückkehren, denn ich werde diese Sache überleben…

*

Nach der Landung ging alles sehr schnell. An den Einwanderungsbehörden kam er beinahe als Erster vorbei und sie ließen ihn anstandslos passieren. Kein Wunder, er war weiß, nicht vorbestraft, er war schon etliche Male in den Staaten gewesen, und er hatte sich dabei nie etwas zuschulden kommen lassen. Der Officer fragte lediglich „Tourist oder Geschäfte?“, und er sagte, er sei im Urlaub. Es war ein Tanz auf der Rasierklinge. Denn wenn sie seinen Aktenkoffer mit den sechs Millionen öffneten, wäre er fällig.

Spannend wurde es nach der Gepäckausgabe, als er am Zoll vorbei musste. Einiges von seinem Bargeld trug er am Körper, aber einen größeren Betrag (zusammen etwa fünfunddreißigtausend Euro und Franken) hatte er in seiner Reisetasche verstaut und es würde Fragen aufwerfen, wenn man sie fand.

Er hatte sich eine ziemlich lahme Erklärung ausgedacht; er sei Immobilienmakler und von Schweizer Geschäftsleuten darum gebeten worden, sich in Florida einige Objekte anzuschauen, weil sie auf der Suche nach einem Alterswohnsitz waren. Diese Leute trauten den Banken seit dem Finanzcrash von 2008 nicht mehr, sie machten sich Sorgen um ihr Geld und hatten ihm Bargeld mitgegeben, damit er für sie eine Anzahlung an einen eventuellen Verkäufer tätigen konnte.

Lahm. Verdammt lahm!

Sie mussten ihn nur nach Namen und Adresse dieser Leute fragen und schon stünde er splitternackt im warmen Regen Floridas. Außerdem waren da noch die Wertpapiere; wollte er vielleicht ganz Disneyland kaufen?

Am Band gehörte seine Reisetasche zu den ersten Gepäckstücken, die ausgegeben wurden. Er wartete, bis ihm eine kleine Gruppe von sichtlich angeheiterten Franzosen auffiel, die offenbar in Paris zugestiegen waren und sich auf dem Zehnstundenflug von innen angefeuchtet hatten. Auf dem Weg zum Zoll lachten sie und redeten lautstark durcheinander.

Instinktiv reihte Cord sich direkt hinter ihnen ein, denn er wusste, dass die Zöllner hierzulande nur wenig Spaß vertrugen. Wer übermütig wurde, dem stutzten sie gerne einmal die Flügel. Und so kam es auch zu Cords großer Erleichterung. Die Gruppe wurde auf der Stelle an einen großen Tisch an der Seite der Halle beordert, wo sie ihre Koffer aufmachen mussten. Drei der vier Beamten machten sich über das Gepäck her, der einzig Verbliebene winkte Cord ungeduldig durch. Es war kurz vor sieben Uhr abends, als er mit Reisetasche und Aktenkoffer den Shuttlebus zum Rental Car Center des Flughafens bestieg, der für diese Strecke nur fünf Minuten brauchte.

Wenn alles gutging, würde er in einer halben Stunde am Steuer seines Mietwagens sitzen und Miami im Rückspiegel kleiner werden und bald darauf ganz verschwinden sehen.

Er hatte seit der Landung des Flugzeuges nicht mehr an seine Verfolger gedacht, war zu sehr auf die Einreise fokussiert gewesen. Jetzt, als er sich dem Schalterraum von Hertz näherte, kam die Angst zurück. Er musste machen, dass er von hier weg kam.

Wie üblich, wollte ihm die Frau am Counter alle möglichen Zusatzversicherungen verkaufen, und er ließ es geschehen, weil sie hartnäckig war und er endlich wegwollte. Versicherungen! Er wusste nicht einmal, ob er morgen früh noch leben würde. Endlich hatte er den Wagenschlüssel, und ein paar Minuten später stellte er die Rückspiegel seines neuen Wagens ein - er würde sie mehr als sonst benötigen.

Bei Google Maps suchte und fand er den schnellsten Weg aus der Stadt hinaus. Er wählte die I-95, die in einiger Entfernung zur Küste bis hinauf nach Maine und zur kanadischen Grenze führte.

Nach vier Stunden zügiger (aber nicht halsbrecherischer) Fahrt näherte er sich St. Augustine, einem Touristenstädtchen kurz vor Jacksonville im Nordosten von Florida; dort verließ er den Highway. Er hatte den Tank seines Wagens zu drei Vierteln leergefahren, und außerdem hatte er Hunger.

Er tankte nach, parkte und ging die paar Schritte hinüber zu einem Burger King; es war sein erstes Junkfood seit Wochen. Weil die Kinder dieses Zeug nicht essen sollten, hatten sie stets einen riesengroßen Bogen um jeden McDonalds gemacht, und damit waren sie gut gefahren; die Zwerge waren schlank und fit. Der Tag, an dem sie nach Big Macs süchtig wurden, würde unvermeidlich kommen; die Ansteckung würde über die Schule erfolgen. Aber man konnte diesen Tag so lange hinausschieben, wie es ging.

*

„Er ist uns durch die Lappen gegangen, aber wir haben den Wagen auf dem Schirm, der ist mit GPS zu orten. Das wird uns bei der Suche helfen. Äh…Boss…ich hab das Mäuschen bei Hertz mit hundert Mücken schmieren müssen; die würde ich gerne wiederhaben.“ – „Setz‘ sie auf die Spesenrechnung. Wohin ist dieser Scheißkerl unterwegs?“

„Er ist auf der I-95 in Richtung Norden unterwegs und inzwischen gut dreihundert Meilen gefahren.“

„Das hatte ich vermutet. Er wäre bescheuert, wenn er auf die Keys führe. Das ist eine Sackgasse, aus der er im Ernstfall nicht mehr rauskäme. Bleibt an ihm dran. Ich will ein stündliches Update.“

Bis etwa zehn Uhr an diesem Abend studierte ihr „Mäuschen“ bei Hertz den Kurs des Mietwagens, in dem der Deutsche zügig nach Norden fuhr. Die beiden unangenehmen Typen, die ihr einen Hunderter für ihre Mühe zugesteckt hatten, boten weitere fünfhundert Dollar, wenn sie die Nacht hindurch bleiben und sie auf dem Laufenden halten würde.

Aber ihr wurde das Ganze unheimlich und sie lehnte nicht nur ab, sondern warnte auch ihre Kollegin, die die Nachtschicht übernehmen würde.

„Nein, nichts zu machen. Wir dürfen das überhaupt nicht.“ Damit war der Kontakt zu dem Mann, zu seinem Auto und zu dem, was er bei sich trug, vorläufig abgerissen.

*

Ein paar Stunden davor hatte der fette Ollie bei den infrage kommenden Airlines in Tegel Klinken geputzt und war zu dem Schluss gelangt, dass ihr Mann mit einiger Sicherheit den Morgenflug nach Florida genommen hatte. Er teilte seinen Befund einem Boss mit, den er noch nie gesehen hatte, und dem persönlich berichten zu dürfen schon ein besonderer Gunstbeweis war.

„Danke“, sagte dieser nur, legte auf und tippte kurz darauf eine lange Telefonnummer in sein Handy ein; wer die Ländervorwahl und die Städtecodes der USA kannte, wusste, dass sich der Anschluss für diese Nummer in Fort Lauderdale, Florida, befand. Und wer den Flugplan der eingehenden Flüge für den heutigen Tag am Airport von Miami kannte, wusste auch, dass der fette Ollie zwar richtig geraten, aber etwa anderthalb Stunden zu spät geliefert hatte.

*

Es war nicht einfach, einen Mann in einem Auto zu verfolgen, ohne dass dieser es bemerkte. Der Deutsche würde vorsichtig sein und es merken, wenn sich ein anderes Fahrzeug an seine Stoßstange heftete. Er war Detektiv und schon deshalb nicht zu unterschätzen.

Es war besser, mehrere Teams auf ihn anzusetzen, die sich abwechselten. Nur, woher sollte er die so schnell nehmen? Wenn er die Italiener mit ins Boot nahm, würden sie ihren Anteil an dem Geld fordern. Andererseits lieferten sie auch stets saubere Arbeit ab, wenn man sie um Hilfe bat.

Die „Besorgten Patrioten“ verfügten über eine große Schar an Freiwilligen für solche Jobs, aber unter diesen Kerlen gab es eine Menge an ungeschulten Blindgängern. Das paramilitärische Training für ihre fanatischsten Anhänger steckte noch in den Kinderschuhen und war für hier und jetzt nur sehr bedingt einsatzbereit.

Einzig eine Waffe dürfte der Deutsche nicht besitzen, sonst hätte er nicht so schnell den Zoll passieren (geschweige denn den Security Check in Deutschland) überstehen können.

Aber auch das war nur eine Frage der Zeit. Die beiden Killer in Frankfurt hatten beim Durchwühlen der Wohnung einen Revolver Kaliber .38 gefunden und daraus geschlossen, dass er zwar unbewaffnet unterwegs war, aber wahrscheinlich mit einer Waffe umgehen konnte.

Jeder Idiot konnte in den USA an eine Schusswaffe kommen; er musste nur laut genug danach rufen und genügend Bares anbieten. Deshalb mussten sie davon ausgehen, dass er, wenn sie ihn nicht bald schnappten, ihnen schnell genug bewaffnet gegenübertreten würde.

Der Mann, der den Kongo-Deal als Einziger kannte und vollständig überblickte, kämpfte mit einem logistischen Problem. Er brauchte mindestens vier Autos und acht Mann, um diesen verdammten Detektiv einzufangen. Sie wollten das Geld, und sie wussten, dass er wahrscheinlich alle Einzelheiten über das große Waffengeschäft kannte; dass er ihnen dadurch gefährlich werden konnte, lag auf der Hand. Schließlich waren Leute an diesem schmutzigen Deal beteiligt, die eine Menge zu verlieren hatten. Das reichte bis in hohe Regierungskreise, dorthin, wo die Luft dünn war und wo man sich keine Fehler erlauben durfte.

Ausgerechnet einer dieser schwachsinnigen Politiker war aber nun zu ihrer Achillessehne geworden. Wenn dieser Kerl nicht aufhörte zu jammern, würde man zu einer Lösung für ihn kommen müssen - und die würde niemandem Freude bereiten.

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Beim Frankfurter Morddezernat, das in einem mysteriösen Doppelmord im Zoologischen Garten zu ermitteln hatte, herrschte Ratlosigkeit.

Die bislang einzige brauchbare Spur lieferte eine teure Spiegelreflexkamera, die ein potentieller Mittäter (oder auch nur Zeuge) beim Verlassen des Tatortes verloren hatte; die Kassiererin hatte diese Kamera in der Nähe des Ausgangs entdeckt, an sich genommen und wenig später den herbeigeeilten Polizeibeamten ausgehändigt.

Kommissar Schuchardt wartete bereits ungeduldig auf die Analyse der Kamera bzw. ihres Speicherchips.

„Chef…“

„…na, endlich! Gibt es etwas Brauchbares?“

„Ja, wir konnten den Besitzer ermitteln. Er hat die Kamera auf der Service-Seite des Herstellers registrieren lassen. Es handelt sich um einen Cord Hennings, Privatdetektiv aus Frankfurt, wohnhaft in Bockenheim, die Anschrift haben wir. Es ist direkt bei mir um die Ecke. Bis vor ein paar Jahren war in dem Haus eine Buchhandlung, die aber inzwischen geschlossen wurde. Daneben gibt’s eine Kneipe, deren Namen ich vergessen habe. Er wohnt dort im vierten Obergeschoss, allein, wie wir inzwischen herausgefunden haben.

Was er im Zoo verloren hatte, wissen wir nicht, der Chip in seiner Kamera war jedenfalls leer.“

„Habt ihr eine Telefonnummer?“

„Ja, aber unter der meldet sich niemand, wir haben es schon einige Male probiert.“

„Dann schnappen Sie sich Wegmann“, sagte der Kommissar, „und fahren Sie mal hin. Ich will wissen, ob er etwas zu der Sache zu sagen hat. Selbst wenn er dort in Panik abgehauen ist, nachdem die Schüsse fielen, müsste er sich längst auf die Suche nach seiner teuren Kamera gemacht haben. Die Geschichte ist jetzt fast achtundvierzig Stunden her. Irgendetwas stimmt da nicht.“

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„Der Vogel ist ausgeflogen und hat eine Menge Unordnung hinterlassen; oder jemand hat ihm die Bude auf den Kopf gestellt. Offenbar ist auch ein Rechner weg, der dort vor kurzem noch gestanden hat; man sieht noch die Abdrücke auf dem staubigen Teppichboden.“

„Nachbarn?“

„Eine Mieterin zwei Stockwerke unter ihm hat zwei Männer am Aufzug gesehen, kurz danach auch nochmal Hennings, der gerade nach Hause kam, das muss etwa zweieinhalb oder drei Stunden nach der Tat im Zoo gewesen sein. Mehr wissen wir nicht.“

„Hat er Familie oder Verwandte?“

„Geschieden, die beiden Kinder wohnen bei der Mutter. Führt uns aber nicht weiter, die sind im Urlaub, irgendwo am Mittelmeer.“

„Macht Fotos in der Wohnung und kommt dann wieder her. Die Spurensicherung wird sich das nochmal gründlicher anschauen und die Wohnung anschließend versiegeln. Dann muss er zu uns kommen, wenn er wieder hinein will. Ich lasse ihn zu seinem eigenen Schutz auf die Fahndungsliste setzen. Ich kann fast riechen, dass er sich auf der Flucht befindet, vor wem auch immer.“

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Cord fuhr noch bis kurz vor Savannah, Georgia, aber dann plötzlich traf ihn die Erschöpfung wie ein Holzhammer. Er war seit knapp dreißig Stunden auf den Beinen, und davor hatte er nur zwei Stunden auf einem Plastikstuhl im Wartesaal eines Flughafens geschlafen. Jetzt war er halb blind vor Müdigkeit und verließ notgedrungen den Highway. Er sparte sich den Weg in die Stadt und blieb in der Nähe der Ausfahrt, wo er nach kurzer Suche ein Super8 Motel fand, das noch ein Zimmer für ihn hatte. Es war halb vier Uhr morgens, und er war nach dem langen Flug noch beinahe fünfhundert Meilen gefahren.

Der Nachtmanager des Motels zog seine Kreditkarte durch das Kartenterminal und gab ihm seinen Schlüssel. Cord fuhr um den Block zu seinem Zimmer und trug das Gepäck hinein. Es war vielleicht eine gute Idee, den Wagen ein paar Meter entfernt von seinem Zimmer zu parken; echte Profis konnte man damit aber nicht hinters Licht führen - sie würden schnell in Erfahrung bringen, in welchem Bett er schlief.

Bei seinem Tankstopp hatte ein paar Dosen Bier gebunkert, die jetzt lauwarm waren, ihm aber dabei helfen würden, abzuschalten und bald einzuschlafen.

Er setzte sich auf den Stuhl, den er aus seinem Zimmer genommen und auf den offenen Gang des Motels gestellt hatte, und rauchte an der schwülen Nachtluft, während er in tiefen Zügen trank. Frösche quakten aus einem Teich, den er nicht sehen konnte, Grillen zirpten ganz in der Nähe.

Es tat gut, angekommen zu sein. Um elf Uhr am Morgen musste er das Zimmer räumen und diese Zeit würde er bis zum letzten Moment nutzen, um zu schlafen. Dann wollte er sich darüber klarwerden, wie es weiter ging. Für heute taugte sein Kopf nicht mehr dazu, strategisch zu denken.

Er ging wieder ins Zimmer, hängte das Bitte-Nicht-Stören-Schild von außen an die Tür, betrieb Katzenwäsche, legte sich auf das breite Bett und war Minuten später eingeschlafen.

In dieser Nacht träumte er von Tieren mit langen Tentakeln, die sich im Gegensatz zu Oktopussen auch an Land bewegen konnten. Aber die Biester waren nicht hinter ihm, sondern hinter seinen beiden Mädchen her, und er rannte und rannte, um sie zu retten, aber er rannte nur auf der Stelle und konnte sie nicht erreichen.

An diesen Traum sollte er sich erst im Laufe des Tages erinnern, denn er wurde abgelöst von einem anderen Szenario, einem Leuchtturm, dessen kreisende Scheinwerfer ihn alle paar Sekunden anstrahlten, um ihn gleich darauf wieder in die Dunkelheit zu entlassen. Dabei dachte er unablässig an Fort Stockton in Texas. Immer wieder, nach jeder Umdrehung, die das Licht vollführte, kam eine Stimme aus dem Off und sagte Fort Stockton, Texas.

Was zum Teufel…?!

Er setzte sich ruckartig auf und stellte fest, dass er seine Bettdecke mit den Füßen weggestrampelt hatte.

Fort Stockton in Texas gab es tatsächlich, er hatte dort auf einer seiner früheren Touren einmal eine Panne gehabt; sein rechter Hinterreifen war geplatzt und ein freundlicher Polizist hatte ihm dabei geholfen, das Reserverad zu montieren.

Aber was hatte das mit ihm und seiner derzeitigen Lage zu tun? Es fiel ihm nicht ein. Wahrscheinlich funkte sein überfordertes Gehirn auf allen verfügbaren Kanälen irgendwelches wirre Zeug, und dieser Traum war nur ein Ausdruck davon.

Zwei Stunden später duschte er, machte Kaffee, suchte seine wenigen Habseligkeiten zusammen und verließ sein Zimmer. Es war nichts von irgendwelchen Verfolgern zu sehen. Welche Gestalt würden sie haben, wenn sie ihn holen kamen? Wieviel Macht besaßen sie, wenn sie in Deutschland zwei Menschen ermordeten und danach cool genug blieben, ihn einfach weiter zu verfolgen und seine Wohnung zu verwüsten, anstatt schleunigst das Weite zu suchen?

Und dann, als er den Wagen anließ, um rückwärts aus seiner Parklücke zu stoßen, kam es wieder.

Fort Stockton!

Er war kein großer Traumdeuter, aber er wusste, dass Träume häufig einen Bezug zur Realität hatten; oft waren sie verschlüsselt und geheimnisvoll, gelegentlich aber auch klar und leicht zu verstehen.

Er hatte sich entschlossen, noch eine Zeitlang auf der I-95 in Richtung Norden zu bleiben, um vorläufig noch keine weiterreichenden Entscheidungen treffen zu müssen. Er war acht Stunden vor Washington, D.C., zwölfeinhalb vor New York City. Er hatte in beiden Städten nichts verloren, er hatte nur in Frankfurt am Main etwas zu erledigen, aber das sollte ihm vorläufig verwehrt bleiben. Vielleicht sogar für eine sehr lange Zeit, für drei Jahre, oder dreißig, oder so.

Fort Stockton!!??

Verdammt!

7 Bei Lubumbashi, Demokratische Republik Kongo

Adrian Livingstone Kalemba hatte genauso lange einen guten Tag, bis er erfuhr, dass in Deutschland etwas schiefgelaufen war, etwas, das seine Pläne durchkreuzen konnte, wenn nicht schnell Abhilfe gefunden wurde.

Die Bankanleihen (mühevoll und in Raten in Sambia und Südafrika gegen Edelsteine aus seiner eigenen Mine eingetauscht) und das Bargeld, seine gesamten flüssigen Mittel, hatte er aufgebraucht, um die erste Rate von zehn Prozent für eine große Waffenlieferung bezahlen zu können; Waffen, die eine immense Bedeutung hatten für seinen revolutionären Kampf gegen die korrupten Banditen in der Hauptstadt Kinshasa.

Und dieses Geld sollte jetzt einfach weg sein, gestohlen von einem Mann, der nichts mit dem ganzen Geschäft zu tun hatte? Er war beinahe überzeugt davon, dass ihn seine Geschäftspartner betrogen, auch wenn der Vermittler in Wien, der ihn vor einer Stunde angerufen hatte, beteuerte, dass alles seinen geplanten Gang gehe und man den Flüchtigen bald genug schnappen werde. Es sei nur eine Frage von Stunden oder Tagen.

Adrian würde es erst glauben, wenn er es sah. Diese Leute konnten einfach mit seinem schönen Geld verschwinden, und er konnte nichts dagegen tun, außer wieder von vorn zu beginnen.

Adrian war in der dünn besiedelten, ehemaligen Provinz Katanga, etwa einen Tagesmarsch entfernt von dessen Hauptstadt Lubumbashi, geboren und aufgewachsen - allerdings nur so lange, bis es in der Region wieder wie so oft zu exzessiver Gewalt gekommen war und seine Familie fliehen musste.

Bis dahin hatte er eine Missionsschule besucht, die von belgischen Dominikanermönchen unterhalten wurde, Männer des Glaubens und des Wortes, die das Weite suchten, als in der Region wieder Tag für Tag und Nacht für Nacht geschossen wurde. Ihr Leben war ihnen wichtiger als ihre Mission, und das konnte er heute verstehen, auch wenn er damals zutiefst enttäuscht gewesen war.

Die begonnene Ausbildung sollte ihn dazu befähigen, dass er in Kinshasa studieren und es dort zu etwas bringen konnte, und dass er damit auch der Familie (und dem ganzen Dorf) helfen würde, ihrer bitteren Armut zu entkommen. Mit der Abreise der Mönche und der anschließenden Flucht seines Clans war dieses Thema erledigt, und er hatte in der Anfangszeit oft des Nachts deshalb geweint.

Die Jahre vergingen, und er war ein mürrischer, gegen seine Geschwister oft aufbrausender Junge geworden, der sich in ihrer kleinen Gemeinde nicht zurecht fand und der von großen Taten träumte, die er eines Tages vollbringen wollte.

Mit Kleinigkeiten hielt er sich dabei nicht lange auf, und je älter er wurde, desto kühner waren auch seine Pläne.

Und da er anders als seine Geschwister nie am Fluss Wasser holte oder auf dem mühsam gerodeten Acker half, der sie ernährte, wurde es bald sehr einsam um ihn; denn wer wollte schon seine Prahlereien hören, mit denen er ankündigte, dass er einmal Präsident (oder sogar König) der Demokratischen Republik Kongo sein werde, und er jeden umbringen wollte, der sich ihm in den Weg stellte. Sie widersprachen ihm nicht sehr lange, weil er schnell jähzornig wurde, aber hinter seinem Rücken nannten sie ihn einen Spinner, von dem man sich am besten fernhielt. Er wiederum wusste, dass sie ihn so nannten, aber es war ihm egal.

Als er siebzehn war, hatte er schon bei dem ein oder anderen regionalen Scharmützel mitgekämpft; es wurde im Osten Kongos fast immer um Diamantminen und seltene Metalle gerungen; wer gewann, kontrollierte sie und konnte sie ausbeuten; er war meistens auf der Seite derer, denen er die besten Siegeschancen gab, auch wenn ihn sein Instinkt dabei gelegentlich im Stich ließ und er dem falschen Warlord hinterher lief.

Eine seiner falschen Entscheidungen hatte dazu geführt, dass er heute nur noch einen Arm besaß, weil ihm ein ruandischer Hutu den anderen mit einer Machete blitzsauber über dem Ellbogen abgetrennt hatte.

Dieses neue Handicap war eine schwere Prüfung für ihn gewesen. Er konnte - amputiert, wie er nunmehr war - in sein Dorf zurückkehren, um sich vor den Leuten zu blamieren, die ihn schon früher verspottet hatten. Dort wäre er als Mann wertlos, aber sie würden ihn zumindest leben lassen.

Eine Frau zu heiraten konnte er als Krüppel kaum erwarten, soweit reichte das Mitgefühl des Stammes nicht; wer nicht für eine Familie aufkommen konnte, der sollte auch keine gründen. Der Kodex des Stammes ließ dabei weder Spielraum noch Ausnahmen zu.

Weil er nicht kämpfen konnte, lernte er zu beschaffen und zu verhandeln. Mal auf dieser, mal auf der anderen Seite stehend erwarb er trotz seines finsteren (und oft genug bösartigen) Wesens binnen weniger Jahre das Wissen, das es brauchte, um Konflikte mit oder ohne Blutvergießen zu lösen. Es war diese Fähigkeit, die ihn dazu befähigen würde, die hunderte von Völkern des Kongo, mit hunderten von Sprachen und Idiomen, unter einer Fahne zu vereinen.

Verhandeln, drohen, erpressen, und nur wenn nötig kämpfen; was vor ein paar Jahren mit einem kleinen Trupp von vierzig Gefolgsleuten begonnen hatte, stand jetzt in voller Blüte: Auf sein Kommando hörten sechzigtausend Mann, und bald sollten sie allesamt bewaffnet sein (wenn diese weißen Bastarde ihr Wort hielten).

Die Dinge begannen jetzt, Gestalt anzunehmen. Kalemba hatte schon vor Monaten den größten Teil seiner Männer nach Westen geschickt, immer in überschaubaren Kontingenten von jeweils kaum mehr als hundertfünfzig Mann, was eine optimale Größe für einen Guerillatrupp war. Eine solche Anzahl an Männern würde nicht den Argwohn des Präsidenten oder dessen Militärs erregen, sie konnten unter dem Radar des Feindes agieren.

Aber hunderte solcher kleinen Einheiten, klug geführt, ergaben eine Militärmacht, die Kabila und seiner Familie den Garaus machen konnte. Hielten die weißen Verbrecher ihren Teil des Handels ein, dann wäre Kalemba das, was er vor vielen Jahren behauptet hatte einmal zu werden.

Davor aber waren gewaltige militärische, wirtschaftliche und logistische Hürden zu überwinden gewesen. Allein das Ausheben der Depots für seine neuen Waffen war eine enorme Leistung. Des Weiteren musste er zweitausend Mann seiner Streitmacht für den Schutz seiner Mine bereitstellen, zweitausend weitere waren nötig, um die Gardeeinheiten Kabilas zu beschäftigen, fünfzehntausend Mann, die im nahen Lubumbashi stationiert waren. Seine Männer sollten diese Truppen über Monate hinweg mit Scheinangriffen oder durch Beschuss aus großer Entfernung ablenken von dem, was er am anderen Ende des Landes zu tun plante. Es war nicht weniger als der Griff nach der alleinigen Herrschaft über dieses riesige Land.

Interstate

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