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Stahl oder Beton? Die Frage nach dem richtigen Stoff

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Im 19. Jahrhundert dominierte der Stahlbau die Industriearchitektur. In Deutschland gründete Friedrich Krupp bereits 1811 das erste Stahlwerk in Essen. In diesen Stahlfabriken wurde durch die so genannte Verhüttung der Kohlenstoffgehalt des Grundstoffes Eisen derart gesenkt, dass der daraus gewonnene Stahl formbarer, haltbarer und damit industriell verwertbarer wurde. Die Stahlerzeuger lieferten fortan die Skelette für die Fabriken und Markthallen der wachsenden Großstädte. Auch im Wohnungsbau experimentierte man verstärkt mit dem neuen Baustoff Stahl.

Das von 1846 bis 1848 im österreichischen Graz errichtete „Eisenhaus“ am Südtirolerplatz, ein Stahlhaus in Form einer traditionellen Hütte, der 1867 fertig gestellte Stahlpavillon im brandenburgischen Lauchhammer, im maurischen Stil als Geschenk für den ägyptischen Vize-König erdacht, oder das 1883 gebaute Stahlfachwerkhaus am Nürnberger Trödelmarkt stellen bekannte Einzelversuche dar, die Fertigbauweise mit dem neuen Werkstoff zu verbinden. 13 Aber konnte sich die Verwirklichung einzelner Stahlhäuser auch auf den Bau ganzer Wohnsiedlungen übertragen lassen? Einige erhaltene Stahlhäuser dieser Zeit zeugen heute zumindest von einem: Sie rosteten kaum. Das letzte der 1888 in Berlin-Weißensee von Friedrich C. Heilemann errichteten Stahlhäuser der Berliner Magnesit-Werke wurde erst nach 100 Jahren 1989 abgerissen. 14 Die 1920er Jahre gaben dem Stahlhausbau in Deutschland neue Impulse. Musterhäuser aus Stahlskelett und -platten wurden 1926 zuerst im württembergischen Unterkochen und im sächsischen Beucha gezeigt. Bekannt ist ebenso das Stahlhaus in Dessau, 1926-1927 von den Bauhaus-Pionieren Georg Muche und Richard Paulick in der heutigen Südstraße 5 errichtet. 1929 schien der Höhepunkt der Stahlbauweise mit einem mehrgeschossigen Wohnhaus in Köln, einem achtgeschossigen Wohnblock in Paris oder dem Bahnhofshotel in Oberhausen vorläufig erreicht. 15


Das Stahlhaus von Georg Muche und Richard Paulick in Dessau im Januar 2009

Neben dem Stahlbau rückte die Verwendung von Beton ins Blickfeld moderner Architekten. Sprach man im 19. Jahrhundert von Beton, handelte es sich in den meisten Fällen um den 1824 patentierten „Portland-Zement“ des englischen Unternehmers Joseph Aspdin aus Leeds. Dieser Zement wurde als Bindemittel mit beigegebenen Steinkörnern und Wasser zum heute geläufigen Baustoff Beton. Nach einem ersten Aufschwung der Zementproduktion und Betonherstellung in Großbritannien, Frankreich und den USA setzte in den 1850er Jahren auch in Deutschland die Zementproduktion ein. 1909 gab es bereits an die 160 Zementwerke im Deutschen Reich. 16 Beton erwies sich als ideal für eine vorgefertigte Bauweise. Er war feuersicher und resistenter gegen den „Zahn der Zeit“, in der Herstellung formbar und dennoch auf Dauer fest. Zahlreich sind daher die im 19. Jahrhundert gebauten Häuser mit Beton. Das dreigeschossige Betonhaus des Franzosen Francois-Martin Leboun, 1830 in Marssak in Frankreich errichtet, oder das erste Betonhaus der USA von G. H. Ward, 1837 im Hafen von Staten Island in New York aufgebaut, sind nur zwei frühe Beispiele. 17 In Deutschland hatte der Baustoff Beton hingegen einige Hürden zu nehmen. Trotz wachsender Zementproduktion wurde die Anwendung im Wohnungsbau nur halbherzig erprobt und dazu durch staatliche Vorgaben gebremst. So war etwa bis 1903 die Verwendung von Beton für Außenwände und Brandmauern per Bauordnung in Berlin verboten. 18 Die ersten frühen Versuche von Betonhäusern in der Victoriastadt in Berlin-Rummelsburg hinterließen eher skeptische Eindrücke. Zwischen 1872 und 1875 errichtete die Berliner Cementbau AG in der heutigen, nach dem damaligen Baumeister benannten Türrschmidtstraße insgesamt 60 von ursprünglich 200 geplanten Reihenhäusern aus Beton. 19 Die nicht unterkellerten und ohne sanitäre Anlagen konzipierten Häuser fielen bei den Nutzern jedoch durch. Wasserpumpen und Aborthäuschen im Hof konnten nur schwer als Fortschritt vermarktet werden. Nach der Jahrhundertwende in Deutschland gebaute Betonhäuser wurden entweder im Zweiten Weltkrieg zerstört oder nachträglich abgerissen. Erhaltene Betonhäuser wie in Berlin-Victoriastadt wurden hingegen unter Denkmalschutz gestellt.

Ungeachtet dieser anfänglichen Startschwierigkeiten in Deutschland war die Fusion von Stahl- und Betonbauweisen international längst vollzogen. François Hennebiques patentiertes Verfahren, Stahlstäbe und Stahlwinkel zur Stabilisierung in den Beton einzulassen, wurde zur Grundlage erster großer Stahlbetonbauten in den USA. Der Liverpooler Stadtingenieur John A. Brodie schuf 1905 ein zwölfgeschossiges Wohnhaus aus Beton- und Stahlplatten. 20 Seine Versuche wiederum inspirierten den amerikanischen Ingenieur Grosvenor Atterbury zu einem System aus vorher gegossenen Betonplatten mit Hohlräumen und Einheiten mit haushohen Paneelen. Er setzte dies in der New Yorker Siedlung Forest Hills ab 1918 konsequent um. 21 Die vor allem in den USA vorangetriebene Verbindung beider Baustoffe kam über die Niederlande auch nach Europa. Die Amsterdamer Siedlung Watergraafsmeer wurde später als „Betondorp“ bezeichnet und trägt so die Ankunft der neuen Bauweise in Europa im Namen selbst.

In Deutschland forcierte der Sozialdemokrat Martin Wagner als Stadtbaurat die technische Modernisierung des in den 1920er Jahren noch stark handwerklich organisierten Baubetriebs in Berlin. Er war der Initiator zur Realisierung der ersten deutschen Siedlung in Betonplattenbauweise, der heutigen Splanemannsiedlung in Berlin-Friedrichsfelde. Diese vom „Reichsbund der Kriegsbeschädigten, Kriegsteilnehmer und Kriegshinterbliebenen“ in Auftrag gegebene Siedlung sollte nach der Idee Wilhelm Primkes zunächst in traditioneller Weise in konventionellem Stil mit Satteldach gebaut werden. Martin Wagner verordnete jedoch noch in der Planungsphase das Umschwenken auf die moderne Technologie mit Betonplatten, wie er sie zuvor in New York auf der Baustelle Atterburys und in Amsterdam kennen gelernt hatte. 22 Die von 1926 bis 1930 entstandene „Kriegerheimsiedlung“ wurde 1951 in der DDR nach einem antifaschistischen Widerstandskämpfer offiziell in „Splanemannsiedlung“ umgetauft.


Markanter Eingang - Die heutige Splanemannsiedlung in Berlin-Friedrichsfelde im Oktober 2008

Der Einsatz von Stahl und Beton in der Architektur wurde nicht nur durch wirtschaftliche, sondern auch durch gesellschaftliche und politische Entwicklungen beeinflusst. Der Erste Weltkrieg von 1914 bis 1918 und das ihm vorausgegangene Wettrüsten in Europa veränderten die weltweite Verteilung und Verwendung der Rohstoffe. Stahl war die Basis der Rüstungsindustrien in den Krieg führenden Ländern, er wurde zur Herstellung tausender Geschütze und ganzer Hochseeflotten verwendet. Die während des Ersten Weltkriegs dramatisch ansteigende Rüstungsproduktion vergrößerte dadurch den Mangel von Stahl als Baumaterial für Wohnhäuser. Mehr und mehr eroberte so die billigere Betonbauweise den europäischen Markt. 23 Beton war in seiner Herstellung unabhängiger von den vorhandenen Rohstoffen eines Landes. In der Zwischenkriegszeit von 1918 bis 1939 bestimmten Stahlmangel und der wachsende Bedarf des sozialen Wohnungsbaus den Markt für Baumaterialien. Ein Markt, auf dem die reine Stahlbauweise in Deutschland immer weniger Wettbewerbschancen besaß. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg von 1939 bis 1945 wurde die kostengünstigere Variante der Betonbauweise für den sozialen Wohnungsbau bevorzugt und bis heute beibehalten. Der Einfluss kriegswirtschaftlicher Faktoren auf die Verfügbarkeit von Baumaterialien zeigt sich auch im internationalen Vergleich. In den USA, die während des Ersten Weltkrieges kaum durch Restriktionsmaßnahmen zugunsten der Rüstungsindustrie betroffen waren, setzte sich der Stahlbau gegenüber dem Betonbau als dominierende industrielle Bauweise durch. 24

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