Читать книгу Die Häuser an der Dzamija - Robert Michel - Страница 6

Erstes Kapitel

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„Mu-har-rem!“ – Die Silben klangen hoch und schmetternd wie aus dem metallenen Schlund einer Trompete. Mit dieser Stimme hätte man eine ganze Heerschar befehligen können; so heldenhaft sicher war ihr weitschallender Klang. Der Steinmetz Nurija Sekirija, der gerufen hatte, hielt zu einer Pause inne. Als dürfe er diese Augenblicke nicht ungenützt verstreichen lassen, schnellte er mit den Fingerspitzen von der roten Gürtelschärpe und von den dunklen Pluderhosen die Steinsplitter ab, die bei der Arbeit dort haften geblieben waren. Auch stampfte er mit jedem Fuß einmal auf den harten Boden, daß der steinige Staub von den Opanken fiel. Dann richtete er seinen Körper hoch auf, schob mit den Handflächen die langen grauen Schnurrbartspitzen seitwärts, und durch den Schalltrichter der hohlen Hände klang es noch einmal mit gleicher Kraft: „Mu-har-rem!“ Dieses unsichtbare Lebendige, das Nurijas Brust und Kehle und Mund ausgestoßen hatten, lief beschwingt über die flachen Steindächer des unteren Dorfes und über die ganze stille steinige Landschaft hin, ohne sich an den spitz aufragenden Steinblöcken zu zerreißen. Es lief auch bergwärts und nach allen anderen Seiten des Hanges; es sprang aber nicht über die verschluchteten Einrisse hinweg, sondern schmiegte sich in klingenden Wellen in jede einzelne Falte, bis er endlich von dem eiligen Tun entkräftet rings in der Ferne ins Nichts verzitterte.

Muharrem hatte sich mit der Schafherde zur Mittagsruhe in eine felsige Schlucht zurückgezogen. Freilich brannte auch dorthin die hohe Mittagssonne ebenso heiß wie auf den steinigen Hang, aber da war es leichter, ein Plätzchen zum Niederlegen zu finden als draußen zwischen den Steinen. Muharrem lag auf dem Rücken und schlief; er hatte den einen Arm auf das Gesicht gelegt und schützte sich so vor dem grellen Licht und den brennenden Strahlen. Die Schafe hatten sich zur Ruhe nicht niedergelegt, weil es ihnen auf dem Boden zu heiß war; sie standen schlafend aufrecht, und jedes hielt den Kopf tief in den Schatten unter den Bauch eines benachbarten Schafes. Nur ein Mutterschaf, das am selben Morgen ein Junges zur Welt gebracht hatte, war auf dem Boden hingestreckt.

Als Nurijas Ruf das erstemal bis hierher klang, hob ein Widder seinen Kopf aus dem Schatten empor und blinzelte in die Sonne; dabei schlug der Klöppel seiner Glocke einmal an die metallene Wand. Muharrem zog den Arm von seinem Gesicht und mußte ihn gleich wieder vorhalten, so grell war das Licht für die Augen. Als sein Name zum zweitenmal erklang, wurde sich Muharrem dessen bewußt, daß ihn sein Herr rief. Er streckte seine jungen Glieder weit von sich, daß es in den Gelenken knackte, dann zog er die Füße ein wenig näher, stemmte sich gegen die Sohlen und wölbte den Körper mit durchgebogenem Rücken wohlig empor wie einen Brückenbogen. Schließlich aber sprang er so heftig auf, daß sich die Köpfe der Schafe erschreckt empor richteten. Muharrem beschwichtigte die Tiere mit einigen trauten Zurufen, so daß ein Kopf nach dem anderen wieder den Schatten aufsuchte. Dann trat er seitwärts, wo seine Jacke lag. Erst zog er eine Kürbisflasche unter ihr hervor und tat einen langen Schluck. Hieraufhängte er sich die Flasche um, und nun wickelte er aus der Jacke vorsichtig ein junges Lamm. Die Jacke warf er über die Schulter und das Junge nahm er in einen Arm, und so ging er. Die Schafe waren mittlerweile wieder eingeschlafen; nur der Widder mit der Glocke und das liegende Mutterschaf schauten dem Hirten mit schläfrig zwinkernden Augen so lange nach, bis er plötzlich ihren Blicken entschwand, als hätte ihn die mittagheiße Erde eingesogen wie einen Tropfen Wassers.

Muharrem galt als Mohammedaner, obwohl er von christlichen Eltern abstammte und die heilige Taufe empfangen hatte. Durch Aberglauben bestimmt, hatten ihn die Eltern von klein auf mit dem mohammedanischen Namen Muharrem gerufen. Als kleiner Waisenknabe wurde er dann von Nurija Sekirija als Hirte in Dienst genommen und dem Namen gemäß für ein mohammedanisches Kind gehalten. Damals ließ es Muharrem in kindlicher Sorglosigkeit geschehen, daß ihn sein Dienstherr als einen Glaubensbruder aufnahm. Später paßte sich Muharrem in Sitte und Brauch seiner Umgebung an und hielt es weiterhin geheim, daß er einer anderen Religion angehörte.

Muharrem stieg quer über den steinigen Hang dem Dorfe zu. Er kam nur langsam vorwärts, weil der Weg durch das Gewirre der großen und kleinen Steine, zwischen denen hin und wieder dorniges Buschwerk wuchs, sehr beschwerlich war. Er konnte sich den Weg nicht wie sonst erleichtern, indem er immer von einem hohen Stein auf den andern sprang; denn diesmal trug er doch ein junges Lamm, das er nicht gefährden durfte. Mit der freien Hand stützte er sich manchmal hangwärts gegen einen Stein, um den Füßen die Arbeit zu erleichtern, oder er bog mit ihr das hinderliche Gestrüpp beiseite. Schon sah er die Dächer des unteren Dorfes, die nur durch das Grün der kleinen Gärten aus dem allgemeinen Grau des Karsthanges kenntlich wurden; denn auch sie waren grau, da ihre großen, schweren Steinplatten aus dem Gestein des Hanges gewonnen waren. Vom oberen Dorfteil, auf der hohen vorspringenden Terrasse, die von starken Felsensäulen gestützt war, sah Muharrem nur die graue Spitze des steinernen Minaretts und die Wipfel der schlanken Pappeln, die neben der Džamija in das Himmelsblau ragten. Noch der Sprung über einen Steinriegel, dann stand Muharrem auf dem schmalen, steilen Weg, der vom unteren Dorf zu den Häusern an der Moschee führte. Nach dem beschwerlichen Übersetzen des Steinhanges wurde auf diesem Wege Muharrems Gang leicht und elastisch, als schritte er auf einem ebenen, geglätteten Weg. Er begann trotz der drückenden Hitze ein Lied zu singen; indessen dämpfte er den Gesang allmählich, so daß er nur noch als ein tönendes Summen ihm allein vernehmlich war.

Bald war Muharrem bei dem ersten Haus des oberen Dorfteiles angelangt. Da wohnte der wohlhabende Moslem Jašarbegović mit seiner Tochter Aiša, die Muharrem, seit sie erwachen war, nie zu sehen bekommen hatte. Das Nachbarhaus war das einzige christliche unter den Häusern an der Džamija. Es gehörte dem Bauer Mitar Boro; aber die Felder, die er bebaute, gehörten ihm nicht, die zählten zum Eigentum des Jašarbegović, und Mitar Boro war sein Kmet. Das nächste Haus war von der Familie Škeho bewohnt. Hier versäumte Muharrem im Vorübergehen nie, zu den Erkern des Fensters hinauf zu schauen. Denn wenn sich auch das Holzgitter vor seinen Blicken verschloß, so war er doch sicher, dahinter werde sich die rothaarige Zahida so nahe zeigen, daß er zwischen den Gitterstäben hindurch das Schimmern des Haares und der weißen Wangen und das Leuchten der dunklen Augen erkennen würde. Auch heute hatte sie das Gitterfenster lärmend zugeschlagen, drückte aber nun das Gesicht dicht an das Holz des Gitters. Muharrem verlangsamte den Schritt und sagte mit leiser, spottender Stimme: „Heute muß man die Blumen in den Schatten stellen.“ Und Zahida zahlte ihm den Spott zurück: „Aber die Disteln können in der Sonne bleiben.“ Er wäre wohl auch ein Weilchen stehen geblieben, aber vom Hofe her hörte er die Stimme Hassans, des jüngeren Bruders der Zahida; so ging er lieber weiter. Nach einigen Schritten klopfte er an das Tor seines Herrn, des Steinmetz Nurija Sekirija.


Szene aus Bosnien zur Zeit der österreichisch-ungarischen Herrschaft

Nachdem Nurija Sekirija den Muharrem ein zweites Mal gerufen hatte, ging er zum Haus zurück. Vor seiner Werkstatt im Schatten einer Weinrebe hockte er sich wieder zu dem Grabstein, an dem er schon früher gemeißelt hatte. Mit kraftvollen Schlägen hieb er mit dem Hammer auf den Meißel, dessen Schärfe aus einer Längsseite des Grabsteines Splitter um Splitter herausbrach; die ausgeschonten Stellen zeigten die verschnörkelten Züge einer türkischen Inschrift. Es lagen auch noch andere größere und kleinere halbfertige Grabsteine umher und einige lehnten seitlich an dem Steinriegel, jenseits dessen sich der Vorhof der Moschee breitete.

Aus diesem Hof der Džamija herüber hörte Nurija zwischen seinen Hammerschlägen das leise Plätschern des Bachwassers, das durch eine steingefaßte Rinne dorthin geleitet war. Er hörte aber nicht, daß sich über den Vorhof der Hodža Adem Jazvin näherte; denn Adem hatte weiche Saffianschuhe, und seine Schritte waren nicht so laut, daß sie das Plätschern des Wassers übertönt hätten.

Adem Jazvin war ein alter Mann mit weißem Bart und Haar, aber seine blauen Augen waren wie aus einem Kindesantlitz. Er war aus seinem Hause jenseits der Moschee gekommen. Der Hodža lebte da ohne Weib und Kind, denn der Vakuf, aus dem diese Dorfdžamija erhalten wurde, war sehr gering, so daß sein Ertrag kaum einen Menschen allein ernähren konnte. So kam es auch, daß Adem alle Dienste der Moschee in eigener Person versehen mußte; er hatte niemanden, der ihm die Gläubigen zu den Andachten herbeirief, er war Hodža und Muezzin zugleich. Man sah aber Adem Jazvin die Armut nicht an; sein grüner, ausgebleichter Kaftan war zwar geflickt, aber er war rein, und sein Aussehen war der geistlichen Würde nicht abträglich; und die weiße Turbanbinde um seinen Fes war wie frisch gefallener Schnee. Bei aller Armut war Adem so reich, daß er noch viel an andere abgeben konnte, wenn auch nicht in klingender Münze. Sein Rat war im Dorfe von jedermann gesucht und geschätzt. Für seine Bedürfnisse genügte ihm ein kleiner Raum zum Wohnen; alle übrigen Räumlichkeiten des Hodžahauses hatte er als Schule eingerichtet, und er selbst war der Lehrer. Die Kinder des Dorfes hätten bis nach Mostar zur Schule gehen müssen; der Weg dorthin war aber beschwerlich und für einen Erwachsenen in nicht viel weniger als drei Stunden zu bewältigen; so wäre ohne das verdienstliche Wirken des Hodžas den Kindern des Bergdorfes die Kenntnis des Schreibens und Rechnens zeitlebens schwerer erreichbar geblieben als etwa die Bekanntschaft mit dem Grabe des Propheten.

Adem Jazvin lehnte sich vorsichtig auf den Steinriegel und schaute der Arbeit Nurijas zu. Endlich sagte er: „Gott grüß dich, Nurija!“

Nurija hielt in der Arbeit inne und blickte auf Adem. Dabei sänftigte sich der Ausdruck seines Gesichtes, dessen Furchen und Falten während der Arbeit so tief und starr waren, als hätte sie selbst der Meißel eines Bildhauers eingegraben; und er erwiderte den Gruß: „Gott grüß dich, Adem, ich habe dich gar nicht bemerkt. Wie geht es dir?“ Er sprach dies mit einer tiefen, weichen Stimme, von der man nicht vermutet hätte, daß sie sich zu hohem und schmetterndem Rufe wandeln könne.

Adem vergaß auf die höfliche Frage zu antworten; er blickte vor sich hin und hatte die verlegene Miene eines, der sich nicht entschließen kann, davon zu sprechen, was seinen Geist eben beschäftigt. Endlich begann er zögernd: „Ob du erraten könntest, Nurija, woran ich denken mußte, als ich dich vorhin den Muharrem rufen hörte?“

Nurija verneinte nur stumm, indem er den Kopf ein wenig hob und dazu leise mit der Zunge schnalzte.

Adem setzt fort: „Wenn ich mir jemals die Stimme des Engels Džebrail vorstellte, so war es eine Stimme von solcher Kraft und solchem Klang, wie du sie hast. Ich kannte vor Jahrzehnten eine solche Stimme; wenn die rief, so kamen aus allen Weltgegenden bewaffnete Männer, als hätte sie diese Stimme aus dem kahlen Steinboden hervorgezaubert. Aber auch im Frieden braucht eine so vortreffliche Stimme nicht ungenützt in der Brust verschlossen zu bleiben. Ich möchte geradezu sagen, eine solche Stimme ist ein Schatz, den man nicht geizig für sich bewahren darf, sondern als rechtlicher Moslem irgendwie zum Nutzen der Allgemeinheit verwenden muß – weißt du noch immer nicht, wohin ich ziele, Nurija?“

„Bei Gott, ich weiß es nicht.“

„So höre mich an, Nurija, es gibt eine Möglichkeit, deine Stimme täglich für das Wohl der anderen zu nützen. Du bist zwar alt, obschon noch einige Jahre bis zu meinem Alter fehlen, aber deine Stimme ist ganz jung geblieben. Bei vielen Menschen bleibt etwas von dem Lauf der Zeit unberührt und wie für alle Ewigkeit jung. Bei einem ist es das Herz und beim andern das Auge, bei manchem die männliche Kraft und bei manchem wieder die Art seiner Rede; bei dir aber ist es die Stimme, die nicht ihresgleichen hat an Kraft und Schönheit. Diese Stimme muß schon ihrer Jugend wegen Gott wohlgefällig sein. Siehst du, wenn ich mir denke, daß du einmal mit dieser Stimme dort von der Brüstung des Minaretts zum Gebete riefest, das müßte eine rechte Verherrlichung Allahs sein.“

Nurija Sekirija wehrte bescheiden mit den Händen ab.

Adem suchte ihn weiter zu überreden: „Du weißt ja selbst, daß von unserer Džamija kein irdischer Gewinn zu holen ist; meine Bezüge sind gering – ich klage nicht darüber – aber sie sind so gering, daß ich zur Erhaltung des Gotteshauses und zur Bestreitung meiner eigenen Bedürfnisse noch an die Wohltätigkeit der anderen Glaubensbrüder angewiesen bin. Trotzdem würde ich gerne noch einen Teil abgeben, wenn du das Amt des Muezzins übernehmen wolltest.“ Nurija Sekirija wehrte nun auch mit Worten ab: „Mich macht es bange, an ein solches Amt zu denken. Schau, mein Leben ist so angefüllt, daß kaum mehr etwas Neues darin Platz finden kann. Hier mit meinen Steinen habe ich ehrlich viel Arbeit; und wenn ich auch ohne Weib und Kind bin, ich habe doch meine alte Mutter und den Muharrem; und dann hab ich mein Haus und meine Schafe.“

„Ich weiß, daß du deine Zeit nicht vergeudest; dieses neue Amt würde dich nur wenig an Zeit kosten, aber es brächte dir dereinst viel an Lohn.“

„Deine Worte klingen mir ans Ohr, aber aus meinem Innern höre ich keine Zusage. Sei nicht ungehalten, Adem, daß ich so zu dir rede. Aber ich habe noch nie im Leben etwas Wichtigeres unternommen, zu dem mir nicht eine innere Stimme geraten hätte. Noch nie sagte mir mein Inneres, daß ich berufen wäre, beim Gottesdienst mitzuwirken.“

„Ich habe den Samen in dich gelegt, und wir können abwarten, ob er aufgehen wird. Schwer wäre das Amt nicht für dich; du müßtest nicht einmal hinaufsteigen aufs Minarett. Du könntest hier von der Einfriedung des Hofes aus zum Gebet rufen. Deine Stimme ist so stark, daß sie nicht eines erhöhten Ortes bedarf, um rings in der Ferne vernommen zu werden. Ich höre es im Geiste, wie von deiner prächtigen Stimme der Gebetruf erklänge. Du riefst nicht bloß die Bewohner unseres Dorfes, dein Ruf würde über das ganze Tal erschallen bis jenseits zu den Bergen; auch andere Dörfer würden ihn hören und dazwischen wäre überall dein Ruf vernehmbar, in den unzugänglichsten Klüften, wo scheue Tiere hausen, und bis hinauf zu den Vögeln in der Luft. Es wäre wahrhaft erhebend, so zum Gebete rufen zu hören.“

Über Nurijas Gesicht ging ein kaum merkliches Lächeln der Freude: „Mich hat Allah nicht eitel erschaffen. Wahrhaftig, ich finde es unvergleichlich erhebender, wenn du selbst dort oben dich über die Brüstung neigst und dein Antlitz mit dem weißen Haar und Bart so verklärt herniederschimmert, als ginge den Gläubigen ein neues Gestirn auf.“

„Ja, mein weißer Bart – siehst du, Nurija, ich scheue keine Mühe, wenn es gilt, Gott zu dienen. Aber manchmal vermag ich kaum mehr die vielen Stufen da hinauf zu bewältigen. Und hinauf muß ich, denn anders würde es bei meiner schwachen Stimme denen dort unten nicht kenntlich, daß es Zeit sei zur Andacht. Auch meine Augen werden schon schwach. Ich sehe dort oben nicht mehr, wohin ich rufe. Das untere Dorf findet mein Blick nicht, ja nicht einmal die Häuser hier neben der Džamija. Es ist so, als stünde ich über einer grauen Wolke und riefe irgendwo in das Weltall hinein.“

„Vielleicht solltest du dir unter den Jungen einen wählen, den du dir zum Muezzin erziehen könntest.“

„Ich dachte schon manchmal an Muharrem, dessen Stimme zwar nicht so kraftvoll ist wie die deine, die aber beim Gesang dem Ohre sehr angenehm ist. Freilich ist Muharrem nicht von hier; und dann hinge es von deiner Zustimmung ab, da er doch in deinem Dienste steht.“

„Ich hätte wohl nichts dagegen. Wir können es noch überdenken.“

Nurija setzte wieder den Meißel an und begann von neuem zu hämmern.

Adem schaute ihm eine Weile nachdenklich zu, dann fragte er: „Hast du viel Arbeit?“

Nurija hielt wieder inne: „Ja; es ist für Zulfo Omerbegović. Noch gestern saß er wie durch fünfzig Jahre Tag für Tag in seinem Dučan in der Čaršija von Mostar. Heute aber liegt er an der Mauer der Moschee des Derwisch Pascha. Er war ein Freund meines Bruders, und ich will, daß er schon in der ersten Nacht nicht ohne Grabstein bleibt. Noch diesen Nachmittag schicke ich Muharrem mit dem Stein nach Mostar.“

Adem blickte in der Richtung gegen Mostar und sagte: „Den Omerbegović hab ich auch gekannt. Selbst in den unruhigen Zeiten saß er gelassen in seinem Dučan. Er war ein echter Türke; Allah wird ihn mit Wohlgefallen betrachten.“

Nurija blickte nach dem Stand der Sonne: „Und du gehst schon zur Mittagsandacht rufen?“

„Es ist an der Zeit.“

„Das wußte ich nicht, da muß ich eilen;“ und Nurija hieb mit neuen kräftigen Schlägen auf den Stein los. Adem aber wandte sich langsam ab und ging dann mit seinen leisen Schritten dem Minarette zu.

Noch während die beiden Männer miteinander sprachen, kam ein Geräusch von dem geschlossenen Balkon über der Werkstatt, das die zwei aber nicht beachteten. Zuerst zeigte sich eine hagere alte Frauenhand mit rotgefärbten Fingernägeln in der Spalte unter dem Holzgitter; und diese Hand schob das Gitter so hoch empor, daß Raum genug wurde zum Durchstecken eines Kopfes. In dieser Öffnung wurde das verrunzelte Antlitz der alten Memnuna, der Mutter Nurijas, sichtbar. Sie streckte den Kopf, der in ein leichtes, dunkles Tuch gehüllt war, vor und schaute mit den tränenden, rotgeränderten Augen nach ihrem Sohne aus. Aber erst als der Hodža in das Minarett getreten war, rief sie: „Nurija, Nurija!“

„Ja, Mutter, was ist dein Wunsch?“

„Mutter Hatidža war hier – sie hat eine Braut für unsern Muharrem.“

Nurija wußte darauf nicht gleich etwas zu sagen; er schlug noch einigemal kräftig mit dem Hammer hin, daß unter dem Meißel große Splitter wegflogen, dann meinte er: „Das wäre gut; wenn nur er auch will.“

„Ob er will? Du wirst ihn doch nicht fragen …“

Vom Minarett erscholl der Ruf zum Gebet, so unterbrachen sie ihr Gespräch. Adems Stimme klang zwar so schwach, daß sie hätten ungehindert weiter sprechen können, aber sie waren gewohnt, den Ruf des Muezzins schweigend anzuhören. Nurija gedachte der Unterredung mit Adem und freute sich nun doppelt an der Inbrunst, mit der Adem die Worte ausrief: „Gott ist allmächtig, Gott ist allmächtig! Ich bezeuge und glaube, daß es nur einen Gott gibt und keinen anderen außer ihm. Ich bezeuge, daß Mohammed Gottes Abgesandter ist. Eilet zum Gebete, eilet zur Freude! Gott ist allmächtig, Gott ist allmächtig. Es gibt keinen anderen Gott!“

Erst als sich der Muezzin mit seinem Ruf nach einer anderen Himmelsrichtung wandte und seine Stimme kaum mehr vernehmbar war, begann Memnuna wieder: „Ob er will? Wenn du ihm einst unser ganzes Hab und Gut hinterlassen wirst, so muß er doch in allem dir zu Willen sein.“

„Ja, aber vergiß doch nicht: er ist ein Mann. Einem Mädchen kann man leicht gebieten, wem sie als Frau folgen muß – aber einem Mann?“

Memnuna zitterte vor Begierde, den Namen der Braut zu nennen: „Da ist wohl keine Sorge, gerade weil er ein Mann ist. Welcher Mann würde die kleine Aiša nicht wollen? Die ist ja wie eine Granatapfelblüte.“

Nurija konnte sein Staunen nicht verhehlen: „Was? Die kleine Aiša soll es sein? Die Aiša des Hairo?“

„Ja, die Tochter des Hairo Jašarbegović.“

Auf diese Versicherung hin gesellte sich bei Nurija zum Staunen noch Freude: „Da muß ich mich für Muharrem freuen – ihr Frauen habt doch wundertätige Hände.“

„Nur gilt es, ganz behutsam ans Werk gehen. Der Jašarbegović ist hier der reichste Mann weit und breit; und er liebt seine Tochter wie seinen Augapfel. Er wird sie einem Hirten nicht geben wollen.“

„Wenn wir Muharrem an Kindesstatt annehmen, braucht sich auch ein Jašarbegović nicht seiner zu schämen. Und Aiša ist schon einverstanden?“

„Ich weiß noch nicht, wie weit die alte Hatidža mit ihr gekommen ist. Es ist alles sehr schwer. Du weißt, daß Hairo seine Tochter nicht nur vor den Männern, sondern auch vor uns Frauen abschließt. Hatidža verstand es aber doch, sich Zutritt zu verschaffen. Sie sagt, Aiša sei jetzt so lieblich wie der aufgehende Mond.“

Nurija dachte nach: „Ich erinnere mich wirklich nicht mehr, wann ich sie das letztemal zu Gesicht bekam. Es muß schon einige Jahre her sein; damals als sie noch zu Adem in die Schule ging. Da war sie freilich eine Knospe, die eine schöne Blüte bergen konnte.“

In diesem Augenblick vernahmen sie ein Klopfen auf die Hoftüre. Nurija erhob sich und ging öffnen: „Das wird schon Muharrem sein.“

Memnuna rief ihrem Sohne nach: „Sag ihm noch nichts!“ Dann ließ sie das Holzgitter hinunter.

Muharrem trat ein: „Du hast mich gerufen?“

„Ja, Muharrem, du mußt einen Stein nach Mostar bringen; er wird gleich fertig sein.“

Muharrem trug das junge Lamm ins Haus. Dann kam er zurück und fragte: „Gehen wir jetzt zum Mittaggebet?“

„Geh du allein, Muharrem. Ich muß noch den Stein fertig machen.“

Muharrem trat zu dem Steine hin: „Wird er nicht zu schwer sein? Soll ich nicht vom Nachbar den Schimmel ausleihen?“

„Für den ist unser Esel stark genug. Du mußt auch einen Sack Mais in die Mühle mitnehmen; Memnuna hat kein Mehl mehr.“

Muharrem schickte sich an, in die Moschee zu gehen: „Da soll ich jetzt allein zur Andacht gehen?“

„Ja, geh nur.“

Als Muharrem aber schon den Steinriegel überspringen wollte, hielt ihn Nurija wieder zurück: „Oder warte. Lieber geh ich zur Andacht und du arbeitest an dem Grabstein. Allah verzeiht eher der Jugend; deine Arbeit nimmt er wie ein Gebet entgegen.“

„Ich will es gerne machen, Meister; aber die Schrift versteh ich doch nicht zu meißeln.“

„Die Inschrift mache ich dann selbst noch fertig; aber hier an dem oberen Teil, dem Turban, ist auch einiges zu arbeiten – sieh her, das kannst du doch, Muharrem.“

„Ja, immer bleibe ich nur ein Handlager, Du lehrst mich nie das Ganze.“

Nurija ging zu einem Wasseribrik, der an der Tür der Werkstatt stand, hockte sich nieder und schüttete aus dem Ibrik Wasser in die hohle Hand, um sich für die Andacht zu reinigen. Dabei begann er wieder zu Muharrem zu sprechen, der sich schon mit Hammer und Meißel an die Arbeit machte: „Beklage dich nicht, Muharrem. Wir halten dich wie einen Sohn. Und wer kann wissen, was wir noch Gutes mit deiner Zukunft planen. Allah schenkte mir kein Kind …“

Der junge Bursche schaute mit dankbarem Blick zu Nurija hin und fiel ihm bewegt ins Wort: „Du warst zu mir immer wie ein Vater;“ dann tat er einige kräftige Hammerschläge.

Nurija trocknete nun die Hände und das Gesicht mit einem Tuch und trat dabei ganz nahe zu dem Arbeitenden hin: „Und auch ein rechter Meister will ich dir sein; du wirst dir schon noch das ganze Handwerk zu eigen machen – bist ja noch jung.“

„Aber das Türkische zu lesen und zu schreiben werde ich nicht mehr erlernen, und nie werde ich eine Inschrift meißeln können.“

„Ich selbst kann doch in keiner Sprache lesen oder schreiben. Ich weiß aber manche Sure des Korans auswendig und hab mir das Bild mancher Wörter gemerkt. Und mit dem Meißel in der Hand find ich nun doch jedesmal die Formen, die ich brauche. Wenn man Vertrauen in Allah hat, geht alles.“

Als Nurija von seinem Vertrauen in Gott sprach, wurde Muharrem plötzlich traurig. Indessen klopfte jemand an der Hoftüre und Nurija wollte noch öffnen, bevor er zur Andacht ging.

Es war der alte Mitar Boro, ein Kmet des Jašarbegović. Er kam den Muharrem bitten, er solle bei seinem nächsten Gang nach Mostar eine Botschaft übernehmen. Als Boro hörte, daß Muharrem noch am gleichen Tag nach Mostar gehen werde, zog er aus seinem breiten Waffengürtel einen zusammengelegten Brief hervor und bat Muharrem, er möge dieses Schreiben seiner kranken Frau ins Spital nach Mostar bringen. Der Brief war von seinem Sohne Božko, der vor fünf Jahren nach Amerika ausgewandert war. Er kündigte für die allernächste Zeit seine Rückkehr an; auch Muzir, der älteste Sohn des Nachbars Škeho, der damals mitgezogen war, sollte mit Božko zurückkehren. Boro schärfte dem Muharrem noch einmal ein: „Du mußt im Spital mit ihrem Namen fragen – Milja Boro – und gib den Brief nur ihr in die Hand; und sie möge dir sagen, ob sie heraufkommen kann, den Božko zu sehen, oder ob der Božko einmal zu ihr kommen soll.“

Muharrem versprach, alles nach seinem Wunsche zu machen. Da dankte Boro ehrerbietig dem Nurija und ging wieder von dannen. Nurija aber stieg über den Steinriegel in den Vorhof der Moschee, streifte vor dem Eingang ins Gotteshaus die Opanken ab und trat ein.

Allmählich füllte sich der ganze Vorhof der Džamija. Auch aus dem unteren Dorfe waren viele Gläubige gekommen. Jeder trat zuerst an die Rinne, in der das Bachwasser über den Hof floß und wusch sich das Antlitz, die Hände und die Füße, um rein vor Allah hinzutreten. Im Innern der Moschee kniete sich einer neben den anderen auf den Teppich, und Reihe um Reihe füllte sich vor dem Hodža Adem Jazvin, der im Mirahb saß und in stillem Gebet wartete.

Als einer der Letzten kam immer Hairo Jašarbegović zur Andacht, obzwar sein Haus nahe der Džamija lag. Sobald sich dieser in andächtiger Haltung der letzten Reihe angegliedert hatte, pflegte der Hodža das gemeinsame Gebet anzustimmen; aber nicht deshalb, weil Jašarbegović der wohlhabendste Moslem des ganzen Dorfes war, sondern weil Adem eben wußte, daß nach seiner Ankunft kaum noch jemand zu erwarten war. Jašarbegović kam aber nicht deshalb so spät, um damit seine Vornehmheit zu betonen; er war so umständlich in den Vorbereitungen für die Andacht, daß sich die Verspätung wie selbstverständlich ergab.

Wenn Jašarbegović in seinem Hause den Ruf des Muezzins vernahm, begab er sich zuerst über den Hof, der mit hohen Steinmauern eingefaßt war, in den gegenüberliegenden Bau seiner Behausung, wo seine Tochter Aiša wohnte. In diesem Hause war es seit altersher so Sitte, daß der Mann gesondert seinen Selamluk bewohnte, wogegen der Frau und den Kindern der Harem zugewiesen war. So blieb es auch bei Hairo Jašarbegović; nachdem ihm seine junge Frau Havva gestorben war, ließ er seine Tochter mit einer alten christlichen Dienerin im Harem wohnen, und er selbst hauste einsam gegenüber im Selamluk.

Aiša wurde im Heranwachsen zur höchsten Freude ihres Vaters der verstorbenen Havva immer ähnlicher. Als sie ganz erblüht war, schien es ihm nicht anders, als daß ihm das Leben zum Entgelt für den frühen Verlust seiner geliebten Havva in Aiša ein vollkommenes Ebenbild geschaffen hatte. Hairo hütete seine Tochter eifersüchtiger, als jemals ein Moslem seine Gattin gehütet hatte. Er wußte es sogar zu verhindern, daß sie mit Frauen und Mädchen verkehrte. Ihre Dienerin war die einzige Person, mit der zu sprechen er ihr erlaubte.

Von klein auf war nun Aiša daran gewöhnt, dem Vater bei den Waschungen vor der Andacht behilflich zu sein. Auch jetzt besorgte Hairo den Abdest nie in seinem Selamluk und auch nie an der öffentlichen Bachrinne im Hofe der Džamija; immer wieder nahm er hiezu Aišas Dienst in Anspruch. Aiša schmückte sich jedesmal für ihren Vater und ging mit einer gewissen Feierlichkeit ans Werk. Wenn sie des Vaters hohe Gestalt im Hof erblickte, eilte sie ihm über die schmale, steile Treppe entgegen; dann küßte sie ihm die Hand und führte ihn in den Baderaum neben ihrem Schlafgemach. Schon vorher hatte sie alles für den Abdest vorbereitet. Nun nahm sie dem Vater zuerst die Ringe von den Händen und legte sie auf ein gesticktes Kissen. Dann trat Hairo zur Waschschüssel und Aiša schüttete ihm aus dem feingeschwungenen Hals eines Ibriks wohlriechendes Wasser in die hohlen Hände. Nachdem er so die Hände und das Gesicht gewaschen hatte, hielt sie ihm ein reichgesticktes Handtuch hin zum Abtrocknen. Hierauf ließ sich Hairo auf den hohen Sitzpolster nieder, der schon für ihn gerichtet war, und Aiša kniete zu ihm hin, entkleidete ihm die Füße und wusch sie ihm in einem großen Waschbecken. Nachdem sie ihm die Füße abgetrocknet und ihm frische Strümpfe und leichte Saffianschuhe angelegt hatte, steckte sie ihm die Ringe wieder an die Finger und salbte ihm den langen dunklen Bart und den Kopf mit einem duftenden Öl. Während dieser Verrichtungen ergötzte Hairo sein Auge an der Schönheit Aišas und hielt oft wie traumverloren inne, bis ihn Aiša zärtlich zur Eile mahnte. Der Vater dankte ihr schließlich mit einem Kuß auf die Stirne, und dann ging er.

Nach der Mittagsandacht wurde es bald still um die Džamija. Nurija löste den Muharrem bei der Arbeit an dem Grabstein ab, und Muharrem bereitete den hölzernen Tragsattel für den Esel vor. Nach einer Weile rief die alte Memnuna, Nurija möge zum Mittagessen kommen. Sie fragte auch den Muharrem, ob er essen wolle; Muharrem aber hatte schon bei den Schafen seinen Vorrat an Käse und Brot, den er sich für den Tag auf die Weide mitgenommen hatte, aufgezehrt und hatte nun keinen Hunger mehr. Er blieb allein vor dem Hause.

Bald darauf kam Adem Jazvin in den Vorhof der Moschee. Er trug in der Hand eine Schnitte Maisbrot, die er mit dickem grünen Olivenöl bestrichen hatte; das war sein Mittagsmahl. Er rief Muharrem zu sich, und dann gingen sie zu den hohen schlanken Pappeln, die dicht an der Džamija standen, und legten sich in das warme Gras.

Der verwaiste Muharrem, den Nurija vor Jahren auf seinem Rückweg von Mekka in Trebinje mitgenommen hatte, um ihn für seine Dienste zu erziehen, hatte in Nurija einen väterlichen Dienstherrn und in Adem Jazvin einen Freund gefunden. Muharrem konnte nicht gleich den Kindern des Dorfes in die Schule zum Hodža kommen, weil er mit den Schafen auf die Weide gehen mußte; aber an den Abenden nahm Adem den Knaben zu sich und lehrte ihn alles, was er tagsüber die Schulkinder gelehrt hatte.

Auch als Muharrem schon erwachsen war, entzog ihm Adem nicht seine Fürsorge. Einmal war von dem Hodžahaus der Kamin herabgefallen, und Adem bat den jungen Muharrem, er möge den Schaden wieder gut machen. Muharrem baute aus Steinen und Lehmerde einen neuen Rauchfang mit einem zierlichen Dach, der dem Hodža außerordentlich gefiel. Auf das Zureden Adems hin errichtete Muharrem auch auf anderen Häusern des Dorfes neue Kamine; nie aber baute er sie einander gleich, sondern bei jedem Bau ließ er seine Einbildungskraft frei walten, so daß unter seinen Händen aus Stein und Lehm Gebilde entstanden, die man früher auf Dächern nie gesehen hatte. Aber nach dem einmütigen Urteil aller Dorfbewohner paßte jeder einzelne Kamin vortrefflich gerade zu dem Dach, für das er gebaut war, und die Bewohner der Häuser, auf denen Muharrems Rauchfänge standen, waren voll Lobes über ihre gute Wirkung.

Nurija, den die Geschicklichkeit Muharrems bei diesen Arbeiten überraschte, zog ihn nun auch häufig zur Nachhilfe in seinen Steinmetzarbeiten heran. So hatte Muharrem die beste Aussicht, in zwei verschiedenen Handwerken tüchtig zu werden. Es entstand damals ein förmlicher Wettstreit zwischen Adem Jazvin und Nurija Sekirija. Je mehr Nurija den Jungen für die Steinmetzerei gewinnen wollte, desto mehr förderte der Hodža seine Tätigkeit als Erbauer von Rauchfängen. Durch günstige Verbindungen wußte ihm Adem zahlreiche Aufträge in den umliegenden Ortschaften zu verschaffen; ja selbst in Mostar tauchten da und dort die absonderlichen Gebilde Muharrems auf den Steindächern auf und wurden sogar vielfach nachgeahmt. Freilich waren diese Nachbildungen dem Auge nicht so gefällig wie Muharrems Kamine, und vor allem waren sie nicht so haltbar. Denn Muharrem hatte auf einem Hügel bei Mostar im Tal der Radobolje, wo der alte christliche Friedhof liegt, eine pulverige dunkelgraue Erde gefunden, die er dem Lehm beimischte, wodurch der Bau außerordentlich fest und widerstandsfähig wurde. Muharrem kam auf diese Weise zu Ruf und auch zu Geld. Trotzdem wäre es ihm nicht eingefallen, den Dienst bei Nurija aufzugeben; er hütete nach wie vor die Schafe und fand daneben hinlänglich Zeit für seine Arbeiten.


Junger Mohammedaner in traditioneller Tracht

Auch heute hatte Adem wieder einen Auftrag für Muharrem. Er hatte letzthin einer Bäuerin unten im Tale versprochen, daß ihr Muharrem ohne Bezahlung einen Rauchfang auf das Haus setzen werde.

Wenn man vom Dorf den steilen Bergweg längs des Baches hinabstieg, bis dorthin, wo der Bach in die Narenta und der Steig in die Straße nach Mostar einmündete, stand da eine armselige Hütte, in der eine alte christliche Bäuerin, die Jelena, mit ihrer Tochter Katica wohnte. Neben dieser Hütte über der Einmündung des Baches schwebte eine zierliche Wassermühle, die der Jelena einige Groschen eintrug, denn sie überließ sie fallweise fremder Benützung gegen geringes Entgelt. Übrigens hatte Jelena auch eine kleine Schafherde, die sie von ihrer Tochter Katica hüten ließ. Im Hause der Jelena traf Adem Jazvin allmonatlich einmal mit einem befreundeten Hodža aus Mostar zusammen; bei dem schwarzen Kaffee, den ihnen die Jelena vorsetzte, tauschten die zwei greisen Geistlichen alte Erinnerungen aus und allerlei Gedanken. Aus Erkenntlichkeit für die Gastfreundschaft wollte ihr nun Adem über das verrußte Dachloch einen ordentlichen Rauchfang bauen lassen.

„Geld wird bei der alten Jelena natürlich keines zu holen sein,“ schloß Adem die Mitteilung des neuen Auftrages.

Muharrem machte eine abwehrende Bewegung; dann fügte er hinzu: „Lehmerde finde ich dort im Narentaufer und Steine gibt’s genug; da wird die Arbeit nicht beschwerlich fallen.“

In diesem Augenblicke kam ein halbwüchsiger Bursche und brachte auf einer Tasse eine große Kanne schwarzen Kaffees und eine kleine Schale, in der einige Stückchen Zucker waren. Es war der junge Hassan, ein Sohn des Nachbars Škeho, aus dessen Hause der Hodža täglich den schwarzen Kaffee zu seiner Mittagmahlzeit geschickt erhielt. Hassan legte die Hand an die Brust, verneigte sich ehrerbietig vor dem alten Hodža und stellte die Tasse vor ihm in das Gras. Adem dankte ihm und gab ihm Grüße für seinen Vater mit. Als sie wieder allein waren, brachte Muharrem auf Adems Geheiß eine zweite Schale aus dem Haus, und nun tranken sie gemeinsam den Kaffee.

Adem fragte den Muharrem: „Du weißt es wohl schon, daß Hassans Bruder, der lange Muzir, aus Amerika zurückkommen wird?“

„Ja, ich weiß es. Auch Božko Boro kommt mit ihm zurück. Mir hat der Vater Boro einen Brief von ihm mitgegeben, daß ich ihn der alten Milja ins Spital in Mostar überbringe.“

Adem Jazvin hatte heute im Sinn, Muharrem mit dem Gedanken vertraut zu machen, daß er das Amt des Muezzins übernehmen könnte. Und dorthin, wenn auch auf Umwegen, wollte er das Gespräch lenken: „Siehst du, Muharrem, die zwei sind in Amerika nicht glücklich geworden. Die Sehnsucht treibt sie wieder heim. Keiner von denen, die die heimatlichen Berge jemals verlassen haben, um irgendwo draußen das Glück zu finden, ist wirklich glücklich geworden. Vielleicht gibt es dort draußen in der Welt, wo die übergeschäftigen Menschen leben, gar keine Möglichkeit zu einem wahrhaften Glück. Sie wollen alles erjagen, auch das Glück, und das geht nicht. Sogar das Wissen erjagen sie. Man soll ja jeglicher Wissenschaft nachstreben; selbst Mohammed gebietet: Suche die Wissenschaft und sollte es auch in China sein. Aber ich glaube, diese Menschen in den großen Städten wissen alles nur mit dem Kopf; mit dem Herzen indessen wissen sie nichts. Und man muß vor allem mit dem Herzen wissen, sonst weiß man überhaupt nichts. Gerade in Hinblick auf deine Zukunft hab ich in den letzten Jahren oft und oft darüber nachgedacht, ob ich dir mit voller Überzeugung raten könnte, hier in unserem Dorf zu bleiben oder hinauszugehen in die Welt. Seither bin ich dem Grabe um vieles näher gekommen, und vieles ist mir jetzt klar, was ich früher auf keine Weise ergrübeln konnte. Siehst du, heute würde ich dir auch in jedem beliebigen armen Bergdorf unseres Landes raten, daß du für immer daheim bleiben sollst; auch in einem Dorf ohne Bäume und Bach, wo die Leute jeden Trunk mühsam aus einer Zisterne schöpfen müssen, oder gar im Sommer das Wasser von weit her in Tierfellen tragen müssen. Wie anders ist man aber in unserem Dorf begünstigt. Wenn ich in früheren Jahren im Koran die immerwiederkehrende Verheißung des Himmels las, daß uns da paradiesische Gärten erwarten, durcheilt von Bächen, da dachte ich etwa an die Gärten im Tal der Radobolje bei Mostar, oder meine Einbildungskraft zeigte mir Dinge, die nicht von dieser Welt sind: jetzt aber, wenn ich im Koran auf eine dieser Stellen stoße, geht mein Verlangen keinem anderen Bilde nach als dem, das du hier rings um dich siehst. Fürwahr, hier der obere Teil des Dorfes an der Džamija auf diesem ebenen Boden, den offenbar der Bach einmal angeschwemmt hat, ist wie ein Ausschnitt aus dem künftigen Paradies. Wir haben einen Bach, dessen Wasser das köstlichste Getränk ist, und Bäume haben wir und Gärten; wenn sie auch klein sind, unsere Gärten – dafür ist der Ausblick auf das Tal und auf die Berge schöner, als Worte sagen können.“

Adem war so angeregt von dem, was er sprach, daß er sich lebhaft zum Sitzen aufrichtete. Er zog die Beine unter sich und blickte wie im Nachgenuß seiner Worte rings um sich. Dann schlürfte er an dem duftenden Trank in der Schale, und seine Augen blickten dabei an den schlanken Pappeln empor. Auch nachdem er die Schale abgesetzt hatte, blickte er noch immer zu den Wipfeln der Bäume, nachdenkend, wie er das Gespräch zum Ziele führen sollte: „Siehst du, Muharrem, jedes Jahr hab ich dich auf diese Pappeln hinaufgeschickt, daß du die Äste bis hoch hinauf abschneidest. Wir sagten, daß wir das Holz gut brauchen können und daß die Pappeln um so besser in die Höhe gehen werden. In der Tat stehen sie jetzt da wie langgestielte Blumen. Jene Gründe aber waren nur ein Vorwand – in Wirklichkeit war es der Wunsch meines Herzens, dich in Höhen zu sehen; hauptsächlich deshalb förderte ich auch deine Kaminarbeiten. Aber erst heute ist es meinem Verstande klar geworden, woher mir dieses Verlangen kam, deine Arbeit in die Höhen zu lenken. Erst heute, als ich Nurija sagte, daß er mit seiner Stimme eigentlich Muezzin werden müßte, erst da erkannte ich, daß ich, ohne dessen bewußt zu sein, auch dich zu diesem Amte erzog. In diesen Höhen muß dir ja manchmal von selbst die Lust gekommen sein, Gott zu preisen.“

Als Muharrem diese Worte hörte, wurde er bestürzt und traurig. Es schien ihm der Augenblick gekommen zu sein, da er das langgewahrte Geheimnis seiner christlichen Abkunft nicht weiter verbergen konnte. Oft hatte er schon daran gedacht, den Hodža zu bitten, daß er seinen Übertritt zum Islam bewirke, da er doch in den Bräuchen dieser Religion aufgewachsen und dem Glauben seiner Eltern völlig entfremdet war. Aber noch nie war ihm die Entscheidung so dringend erschienen. Jetzt mußte er endlich vor Adem das Geständnis ablegen und seinen Rat erbitten. Tränen traten ihm in die Augen, als er zu sprechen begann. Adem, der seine Bewegung sah, wehrte ab: „Du sollst dich nicht gleich entschließen. Prüfe dich erst einige Tage selbst, ob es wirklich mit deinen Wünschen übereinstimmt, daß du dieses Amt im Dienste Allahs annimmst.“ Da schwieg Muharrem, und sein Geheimnis blieb in ihm, drückender als jemals früher.

Die Häuser an der Dzamija

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