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Süßes Erwachen 4. KAPITEL
ОглавлениеGestern war Michal bereits mit ihren Mädchen in den Wald gezogen. Sie hatte mithilfe eines Steins einen kurzen, angespitzten Stecken schräg von unten in die weiße Birkenrinde geschlagen. Sofort war der Saft herausgeronnen, der jedes Jahr im Frühling zwei Wochen lang durch die Birkenstämme floss. Sie hatte einen kleinen Eimer um den Zapfhahn gebunden, um ihn aufzufangen. Die Schülerinnen hatten jeden ihrer Handgriffe verfolgt, denn diese Methode, eine der köstlichsten Gaben Gottes zu empfangen, war in Heidenheim unbekannt gewesen. Bis zur Non hatte jedes Mädchen seinen eigenen Eimer aufgestellt, in den der Birkensaft tröpfelte.
Heute war Michal bereits nach der Prim in den Frühlingswald gezogen. Jetzt freute sich die junge Meute über den süßlichen Saft, der sich in den Eimern angesammelt hatte.
Michal ermahnte sie, nicht mehr als die Hälfte ihrer Ernte zu trinken, denn sie wollten die Früchte ihrer Arbeit mit den Mönchen teilen, die seit Tagen hart arbeiteten.
Von widerwilligem Gemurmel begleitet setzten die Mädchen ab und folgten Michal den Abhang hinunter durch den Wald, sprangen über einen Bach und standen neben der Lichtung, auf der die Mönche schaufelten, Eimer schleppten, schwitzten und fluchten, während sie den ersten Fischweiher des Klosters aushoben. Nur Goumerad stand im Schatten, auf dem schmalen Streifen zwischen Grube und Bach, durch den der Zufluss zum Fischweiher gelegt werden sollte. Seit dem Lichtwunder hatte der Prior jeden Gottesdienst pflichtschuldig gehalten und die Nonnen in ihrer ausdauernden Arbeit auf dem Acker Gottes nicht aufgehalten. Sogar als Walburga die Mönche angewiesen hatte, den Fischweiher auszuheben, hatte er kein Widerwort erhoben. So lebten Mönche und Nonnen friedlich nebeneinander, wie es sich für eine klösterliche Gemeinschaft geziemte. Auch um diese Gemeinschaft zu stärken, war Michal jetzt hier.
Goumerads Blick streifte die Nonne kurz, dann sah er über sie hinweg auf die Mädchen und grummelte abschätzig: „Was tut ihr hier?“
„Wir bringen den erfrischenden Saft der Birke sowie einige Brote für Euch und eure Männer. So möchten meine Schülerinnen und ich uns bedanken für die harte Arbeit, die ihr für unser Kloster verrichtet.“
„So, so.“
Die Mönche tranken dankbar den Birkensaft und schnitten sich dicke Stücke von den Broten ab. Michal sorgte dafür, dass jeder seinen Teil bekam. Nach allen Seiten blickte sie sich um, doch wann immer sie sich in eine Richtung drehte, wandten die Mönche schnell den Blick von ihr ab. Bald meinte Michal, sie werde von allen Seiten angestarrt. Was war an ihr so besonders? Sie gewahrte, dass sie seit ihrer Kindheit Männern nie mehr so nahe gewesen war wie jetzt, mit Ausnahme ihres Vaters. Vielleicht war es doch eine gute Idee von Mutter gewesen, sie vor den Männern zu schützen. Denn sie waren ihr unheimlich.
Sie bekreuzigte sich unwillkürlich, als die Mönche ihr Mahl beendet hatten und wieder in die Grube kletterten. Dabei wechselten sie leise Worte, plötzlich lachten sie laut heraus. Michal spürte ihre Ohren heiß werden, denn irgendetwas sagte ihr, dass sie es war, über die die Mönche lachten. Sie fand es ungehörig, dass sie ihr nicht sagten, was sie falsch gemacht hatte. Dabei hatte sie ihnen mit dem Birkensaft nur eine Freude bereiten wollen! Sie sprang über den Bach und stapfte die Anhöhe hinauf, bis die Mädchen quengelten, sie sei zu schnell.
In Heidenheim wurde schon zur Terz gerufen. Nach dem Gebet wurden die Mädchen von Walburga in die Heilige Schrift eingewiesen, zuvor jedoch schickte Walburga Michal und fünf weitere gottgeweihte Jungfrauen zum ehemaligen Heidendorf auf der Lichtung, nicht ohne sie zu ermahnen, bis zur Sext wieder zurück zu sein, weil das Gebet die wichtigste Aufgabe einer gottgeweihten Jungfrau sei. „Es tut mir leid, Schwester Michal“, sagte Walburga, „dass du nicht öfter in der Schreibstube die Feder führen kannst, denn der Herr hat dich gesegnet mit einer feinen Schrift und einem guten Verständnis der Texte. Doch der Herr hat uns wenigen Nonnen viele Aufgaben anvertraut.“
Michal versicherte, sie erfülle jede Aufgabe mit Freude, und machte sich zusammen mit ihren Gefährtinnen auf den Weg durch den Wald.
Auf der Lichtung trafen sie auf eine zahnlose, beinahe blinde Frau. Als einzige Bewohnerin hatte sie die Lichtung nicht verlassen, weil sie nirgendwo anders sterben wollte als dort, wo sie ihr ganzes Leben zugebracht hatte, auch wenn die Hütten verfielen und eine im Winter gar unter der Schneelast zusammengebrochen war. Die Nonnen beteten mit ihr.
Michal hielt im Gebet inne, ihr Kopf, eben noch demütig gesenkt, zuckte nach oben, der Blick huschte zum Wald, der jene Lichtung umsäumte, auf der sie einst auf Wulfhardt getroffen war.
Sie hatte einen Schrei gehört. Kurz zwar, aber spitz.
Doch die fünf gottgeweihten Jungfrauen, die Walburga mit ihr zur Lichtung geschickt hatte, beteten weiter, also fiel auch sie hastig wieder ein in das Pater noster, bis das „Amen“ erklungen war.
Michal fragte: „Habt ihr das gehört?“
„Was?“, rief Rosweidis mit hoher Stimme, die Augen weit aufgerissen. Sie war vierzehn Jahre lang auf dieser Lichtung aufgewachsen, war zusammen mit den anderen Heiden von Willibald, dem tapferen Streiter des gütigen Gottes getauft worden und anschließend in das Kloster eingetreten.
„Wenn ich mich recht entsinne“, sagte Michal, „dann hat jemand geschrien, irgendwo dort im Wald, der uns vom Grafenhof trennt.“
Ihre Schwestern beteuerten, nichts gehört zu haben.
Michal lauschte, doch sie hörte nur einen Spatz, der über ihnen mit wilden Flügelschlägen gen Sonne flatterte und ein Frühlingslied tschilpte. „Wahrscheinlich habe ich mich verhört“, sagte sie. Vielleicht war nur das kurze Bellen eines Hirsches oder eines Wolfswelpen an ihre Ohren gedrungen.
Sie nahm das Brot aus dem Beutel, tunkte es in Wasser und gab es der Frau in den Mund. Nachdem diese das Brot gemümmelt hatte, reichte Aebbe ihr mit Schlehenblüten aufgegossenes Wasser, dem Walburga noch den Saft der Anemone zugesetzt hatte, um das Augenleiden zu lindern.
„Seht!“, rief Eadburga und deutete zum Waldrand, gerade als die Sonne über die hohen Buchen gestiegen war und auch den letzten Winkel der Lichtung beschien. Ein Tier brach aus dem Wald hervor, machte vier große Sätze in ihre Richtung, sprang zwei Mal auf der Stelle, kehrte um und blieb am Waldrand stehen. Michal glaubte ihren Augen nicht: Gott hatte dieses Tier zwar in der Form eines Rehs erschaffen, jedoch mit weißem Fell überzogen.
Erst der Schrei, jetzt dieses weiße Reh. „Das Tier will uns etwas zeigen! Wir sollten ihm folgen.“
Frideswide und Aebbe, betreten zu Boden blickend, fürchteten sich davor, in den Wald einzudringen. Aebbe hatte sich schon auf dem Weg zur Lichtung immerzu umgesehen wie ein Igel, der jederzeit damit rechnet, sich zu einer Kugel zusammenrollen zu müssen. Michal fragte sich, warum ihre Freundin so wenig auf die schützende Hand Gottes vertraute, so wie damals, als er sie durch den schweren Sturm hindurch über das Meer geleitet hatte.
Eadburga und Hilda, unschlüssig zum weißen Reh blickend, schienen zu erforschen, was es ihnen zeigen wollte. Michal nahm sich vor, auf das Urteil der beiden Nonnen zu vertrauen, denn sie folgten Walburga schon viel länger als sie selbst.
Rosweidis, ängstlich in den Wald blickend, rief: „Wir müssen bis zur Sext zurück sein. Und Walburga hat uns nicht erlaubt, weiter zu gehen als bis zu dieser Lichtung. Und dort, wo das Reh hin will, liegt der Grafenhof!“
Michal verstand Rosweidis’ Angst, war doch einst Wulfhardt aus jener Richtung gekommen, um ihr Dorf zu überfallen. Sie sagte: „Liebe Schwestern, vertrauen wir in Gott! Jesus könnte uns in Gestalt dieses wundersamen Rehs begegnen. Was, wenn wir ihm jetzt nicht folgen?“
Der Spatz hörte auf zu tschilpen.
Eadburga ergriff das Wort: „Wir können Gottes Wege nicht ergründen. Aber da war dieser Schrei, den Michals Gehör vernahm, und jetzt das Reh. Mir scheint, als erfordere dort im Wald etwas unsere Aufmerksamkeit.“
Hilda hatte längst die Stirn in Falten gelegt, wie immer unglücklich, wenn die Schwestern nicht einer Meinung waren. „Dann soll Rosweidis hier auf dieser Lichtung warten und die Frau, die uns zur Pflege anvertraut ist, waschen, wie Walburga es uns aufgetragen hat. Und wir anderen sehen nach, was uns das weiße Reh zeigen will.“
Eadburga und Michal nickten. „So sei es.“
Frideswide und Aebbe erhoben keinen Widerspruch, mit einigen Schritten Abstand folgten sie den drei Nonnen zum Waldrand. Das weiße Reh führte sie durch Brombeergestrüpp und über verstreute Felder von Schlüsselblumen, die ihre gelben Blüten geöffnet hatten, weiter in den Wald hinein. Schließlich erspähte Michal Licht am Ende des Waldes, dahinter lag vermutlich der Grafenhof. Hatte das Reh sie in die Irre geführt, in eine Falle gar? Wartete dort Wulfhardt mit seinen Schlächtern? Michal zögerte, auch die anderen Nonnen hielten inne.
Das Reh erreichte den Waldrand. Mit seiner rosa Stupsnase schnupperte es am Boden.
„Da liegt etwas!“, rief Michal und marschierte voran, bis sie sah, was das Reh beschnupperte: einen Knaben.
Er lag auf der Seite, das bleiche Gesicht nach oben gedreht, die Augen geschlossen, aus dem Mund hing die Zunge heraus. Die anderen Nonnen erschraken und traten einen Schritt zurück, Michal beugte sich zu ihm hinunter. Ein magerer Knabe, doch die breiten Schultern zeugten davon, dass er einmal kräftiger gewesen war. Sein Rock endete an den Knien in einem Saum und war aus feinem Wollstoff gewebt, inzwischen jedoch arg zerschlissen, Blätter klebten daran. Am Ringfinger prangte ein Ring mit eingraviertem Eber. Die Haare fielen vom Mittelscheitel zu beiden Seiten hinunter, anfangs glatt, ab den Ohren in kleinen Wellen, und am Ende, über den Schultern, kringelten sie sich zu Locken. Michal strich ihm eine blonde Strähne aus der Stirn, die sich mitten unter seine hellbraunen Haare geschmuggelt hatte.
Sie tastete seinen Hals ab und fand den Herzschlag. „Er lebt. Bringen wir ihn ins Kloster.“
Frideswide blickte auf den Jüngling herab, als betrachtete sie eine Erdkröte. „Es ist uns verboten, einen Mann zu berühren. Außerdem werden wir schwerlich Heidenheim zur Sext erreichen, wenn wir ihn tragen. Sollen die Mönche ihn holen.“
„Wir können ihn doch hier nicht liegen lassen!“, brauste Michal auf, die geziemende Ruhe vergessend. „Ein wildes Tier könnte ihn töten. Die Rettung eines Menschen ist ein gottgefälliges Werk, schließlich hat Gott diesen Knaben erschaffen. Also lasst uns Gottes Schöpfung retten!“
Eadburga, Hilda und Aebbe stimmten ihr zu, und gemeinsam hoben sie ihn hoch. Dabei löste sich etwas aus seinem Gürtel und fiel hinunter: ein Beil, die Oberkante des Blattes s-förmig geschwungen, die Unterkante einen einfachen Bogen beschreibend, die Schneide rot gefärbt. Michal erschrak, schnell steckte sie das Beil in ihren Beutel.
Wulfhardts Waffenknechte trugen in ihrer Mitte das Reh, das er gerade erlegt hatte, an den Seiten hechelten die Jagdhunde. Eine erfolgreiche Jagd, auf der er seine Albträume vergessen hatte. Doch heute Nacht würden sie zurückkehren: Seit der Ermordung seines Bruders, nachdem das erste Triumphgefühl verflogen war, raubten sie ihm beinahe jede Nacht den Schlaf. Oft erschien sein Bruder als Untoter, den Pfeil noch in der Brust, mit den Armen nach ihm greifend. Einmal hatte er mitten in der Nacht an die Tür des Schlafgemachs geklopft. Wulfhardt war kopfüber aus dem Fenster gestürzt, kurz darauf hatte es im Schlafgemach gerumpelt. An die Hauswand gekauert, hatte er bis zum Sonnenaufgang ausgeharrt. Mehr denn je trieb ihn seitdem die Angst um, für den Brudermord bestraft zu werden. Vielleicht durch Gerolds Hände? Wahrscheinlich hatte Gebhards Geist Gerold aus dem Verlies befreit, um seinen Tod zu rächen. Doch warum verstrich Tag um Tag, ohne dass er etwas von Gerold sah oder hörte?
Er gelangte auf einen Pfad, der sich drei Meilen lang durch den Wald bis zum Grafenhof schlängelte. Er schlug seinem treuen Ross auf den Hals, auch heute hatte es ihm aufs Wort gehorcht und zum Erfolg der Jagd beigetragen. Er überlegte, dass diese Eigenschaft ein Pferd wesentlich von einem Weib unterschied. Ein Weib gehorchte nicht, es hatte nur seine eigenen Wünsche im Sinn, dies wusste er seit der Schmach, die Hildegard ihm zugefügt hatte. Nein, ein Weib vermisste er seither ganz und gar nicht. Er schob die mühseligen Gedanken von sich und genoss für den Rest des Weges seinen Jagderfolg.
Plötzlich fiel sein Blick auf etwas Schimmerndes. Er zügelte den Hengst. Der Wald endete hier auf dieser Anhöhe, von der aus er seinen Machtsitz erspähen konnte. Er stieg ab und beugte sich, die Hände auf die Knie gestützt, zu dem schimmernden Ding hinunter. Es war ein Dolch. Während er ihn aufhob, erkannte er Spuren im Boden, die zurück in den Wald führten. „Siehst du die Spuren?“, fragte er Hroutland.
„Ja, Herr. Sind schon etwas verwittert, wahrscheinlich ein, zwei Tage alt. Müssen mehrere gewesen sein, mindestens drei. Haben Holzschuhe getragen, ziemlich kleine, wahrscheinlich Frauen.“
Wulfhardt kratzte sich mit dem Dolch hinter der Ohrmuschel. Was machten Frauen so nah an seinem Machtsitz mit einem Dolch? „Wir folgen den Spuren“, entschied er und stieg auf, die Pfunde verfluchend, die er den ausgiebigen Gelagen der letzten Monate verdankte.
Mit jedem Schritt, den der Hengst durch den Wald trat, verfestigte sich ein Verdacht, und als er den Hengst zügelte, nickte er: Vor ihm, im vom Gießbach durchflossenen Tal, lag Heidenheim. Es wurde zum Gebet gerufen. Von Norden trotteten die Mönche vom Klosterhof aus Richtung Kirche, südlich der Kirche traten die verschleierten Jungfrauen aus dem Kloster, der Äbtissin folgend, aufgereiht wie Küken hinter der Henne. Wulfhardt bedeutete dem schmächtigsten Waffenknecht, seine Rüstung abzulegen und den Spuren nach Heidenheim zu folgen.
Als dieser zurückkehrte, meldete er: „Die Spuren führen zum Nonnenkloster, Herr.“
In Wulfhardt keimte der Wunsch auf, das Kloster niederzubrennen. Was suchten die Nonnen in der Nähe seines Machtsitzes? Warum hatten sie einen Dolch dabei? Am liebsten wäre er mit gezücktem Schwert in die Kirche gestürmt und hätte Walburga zur Rede gestellt. Doch Walburga stand nach dem Lichtwunder überall in hohem Ansehen, auch bei seinen Waffenknechten. Er kehrte um, darüber grübelnd, wie er Walburga zur Strecke bringen könnte.
Zurück am Grafenhof wartete sein Haushofmeister Drogo mit einer Nachricht: „Herr, der Sohn des Kochs ist am Fieber gestorben.“ Drogo verkündete dies im gleichen Tonfall, mit dem er seinem Herrn mitteilte, einem Dorf zwei Wagenladungen Weizen weniger als im letzten Jahr abgepresst zu haben. Wulfhardt schätzte es, dass sein Haushofmeister sich nicht von Gefühlsduselei leiten ließ. Wer sich von Gefühlen leiten ließ, der machte Fehler − das wusste er nur zu gut seit der Schmach mit Hildegard. Deshalb war er überzeugt, dass Drogo ein guter Verwalter war. Trotzdem musste er ihn regelmäßig kontrollieren, denn er vertraute grundsätzlich niemandem. Denn wie jeder Mensch, so hatte auch Drogo Schwächen. In seinem Fall war dies sein zwölfjähriger Sohn − der einzige Mensch, der ihm etwas zu bedeuten schien. Er stand auch jetzt an seiner Seite und blickte ihn aus eng beieinanderliegenden Augen an. Wie bei seinem Vater schienen die Augen auf die Nasenspitze zu schielen.
„Lass uns das im Großen Saal bereden“, brummte Wulfhardt. Er stapfte voran. Nach dem Brand hatte er ihn, getreu dem Vorbild des Vorgängerbaus, neu errichten lassen: Der an einer Querstange hängende Kessel über der Feuerstelle wurde durch die Dachöffnung hindurch von der Sonne beschienen. Die Plätze am Tisch, zu denen sich Wulfhardt, Drogo und dessen Sohn begaben, mussten jedoch von Öllampen erhellt werden. Wulfhardt setzte sich an die Stirnseite des Tisches. „Dem Müller, der mich bestohlen hat, lässt du die rechte Hand abhacken“, beschied er. „Diese Hand wird mich nicht mehr bestehlen.“
„Ja, Herr.“ Drogo räusperte sich. „Heute Morgen kam Walburga hierher.“
Wulfhardt fuhr hoch. „Was?“
„Sie wollte die kranken Kinder sehen. Hat behauptet, dass sie ihnen helfen will. Ich habe sie fortgeschickt.“
„Gut gemacht“, murmelte Wulfhardt, während er sich wieder setzte und dabei die Hände zu Fäusten ballte, um das leichte Zittern in seinen Fingern zu verbergen.
Erst die Spuren im Wald, die zum Nonnenkloster führten, jetzt kam Walburga sogar am hellichten Tag zu seinem Machtsitz spaziert. Was führte sie immerzu hierher? Er spürte ein Drücken in den Eingeweiden. Walburga machte ihm Angst. Niemals hätte er es zugegeben, aber es war so. Jeder hatte beim Lichtwunder gesehen, dass sie in der Gunst des mächtigen Christengottes stand. Diese Frau hatte man besser nicht zur Feindin. Und sie hatte allen Grund, ihn zu verfluchen.
Wulfhardt versuchte, mit ruhiger Hand Wein in den Trinkpokal zu schenken. Er setzte ihn an und ließ den Wein langsam in seine Kehle laufen. Als er ihn absetzte, fühlte er sich besser. „Und die anderen Kinder sind noch krank?“
„Ja, Herr.“
„Hm“, brummte Wulfhardt. Seit einigen Wochen griff die Krankheit um sich. Kinder bekamen Bauchfluss mit Blut und Schleim, gefolgt von Fieber und Bauchschmerzen. Bisher hatte er sich darüber nicht den Kopf zerbrochen. Kinder wurden nun mal oft krank und starben. Doch wenn nun ein Kind an dieser Krankheit gestorben war, konnten bald weitere Kinder folgen. Und dies, gewahrte er jetzt, könnte sich zu einem Problem für ihn auswachsen: Die Menschen würden munkeln, dass es so etwas früher in der Grafschaft nicht gegeben habe, geschweige denn am Machtsitz des Grafen. Er sog die Luft durch die Nasenlöcher ein und vernahm den Geruch der Urinbottiche, die hinter dem Großen Saal standen, gut gefüllt von den Zechern der letzten Tage. Er setzte den Trinkpokal an die Lippen und stellte ihn erst nach drei tiefen Zügen wieder ab. Was ist jetzt anders als früher am Grafenhof?, überlegte er. Ihm fiel nichts ein. Nein, die Krankheit musste durch Mächte verbreitet worden sein, die er nicht bemerkte. Mächte, über die Walburga verfügte.
Wulfhardt kramte den Dolch hervor, den er im Wald gefunden hatte, und bohrte die Spitze der Klinge vor sich in den Tisch. Seit er das Licht im Nonnenkloster gesehen hatte, wusste er um die Macht des Christengottes. Seitdem hatte er vieles getan, um die Gunst dieses Gottes zu erlangen: Zweimal am Tag zelebrierte er die Heilige Messe, für den Altar in der Kapelle des Grafenhofs hatte er einen goldenen Kelch aus einem Römergrab gestiftet. Er zog den Dolch aus dem Tisch, hob den Arm über die Schulter und warf den Dolch hinunter. Er drehte sich einmal in der Luft, dann schlug die Spitze im Tisch ein. Zürnte ihm der Christengott immer noch? Oder hatte Walburga die Krankheit heraufbeschworen mit ihren Zauberkräften? Er legte die Hand um den Dolchgriff, als er die Gravur auf der Klinge bemerkte: ein Eber.
Das Zeichen der Grafenfamilie!
Wulfhardts Hand zuckte vom Dolch weg, als hätte er an glühendes Eisen gefasst. Ein Schrei entfuhr ihm, er sprang auf.
Gerold!
Der Dolch konnte nur von Gerold sein!
„Herr?“ Drogos Stimme schien aus weiter Ferne an seine Ohren zu dringen. „Geht es Euch nicht gut?“
„Nein, nein“, stammelte Wulfhardt, die Hände um das Kreuz seiner Halskette gekrallt, als wollte er es mit bloßen Händen zermalmen. Er sank auf den Stuhl und blickte über den Dolch hinweg.
Er wusste nicht, wie lange er da gesessen hatte, bis Drogos Räuspern ihn aus der Erstarrung riss.
Wulfhardt fragte: „Starb der Sohn des Kochs nach ihrem Besuch?“
„Ja, Herr.“
„Dachte ich mir.“ Er nickte, seine eigene Stimme erschien ihm fremd. „Es fügt sich alles zusammen. Gerold, er steckt mit den Nonnen unter einer Decke. Sie waren es, die ihn aus dem Verlies befreiten. Und Walburga hat im Namen des Christengottes die Krankheit heraufbeschworen. Sie will mir schaden, um Gerold auf den Grafenthron zu helfen. Deshalb kommt sie an meinen Machtsitz: So wirkt ihr verderblicher Zauber am besten. Darum ist kurz nach ihrem Besuch der Sohn des Kochs gestorben.“
Eine Hitzewelle stieg ihm von den Gedärmen bis zur Kehle. Gerold! Dieser Angeber! Schon als Kind hatte er in allem der Beste sein wollen, wie sein Vater. Ausgerechnet an der Seite der wundertätigen Walburga!
„Drogo!“, rief Wulfhardt. Seine Stimme klang gefestigter, als er sich fühlte. „Instruiere Goumerad: Er soll nach einem jungen Mann Ausschau halten, der sich in Heidenheim versteckt. Er erkennt ihn an einer blonden Strähne inmitten seiner braunen Haare.“
„Ja, Herr.“ Drogo und sein Sohn erhoben sich zeitgleich.
Wulfhardt griff zum Beutel mit den Eibennadeln an seinem Gürtel. Am liebsten hätte er jetzt gleich Gerold das Gift eingeflößt und zugesehen, wie er mit gelähmten Gliedern und vom Brechreiz gepeinigt das Leben aushauchte.
Alles fühlte sich bleischwer an, als Gerold erwachte: die Beine, die Arme, die Augenlider. In seinem Kopf hämmerte ein Schmied und verwendete dabei die Schädeldecke als Amboss. Er fürchtete, der Schmied würde stärker hämmern, wenn er die Augen öffnete, also hielt er sie geschlossen. Irgendetwas Feuchtes umwickelte seinen Fuß.
Gerold versuchte, sich zu erinnern − und sah Wulfhardt: wie er in den Grafenhof einritt, in den Händen die goldene Lanze des Grafen. Danach wusste er nichts mehr. War er vom Baum gefallen, von dem aus er Wulfhardt beobachtet hatte? Wahrscheinlich. Danach hatte jemand seinen Fuß behandelt. Aber wer? Wo war er? Die einzig mögliche Antwort raubte ihm die Luft zum Atmen: am Grafenhof.
Gerold hörte einen Riegel, der zur Seite geschoben wurde, und eine Tür öffnete sich. Er hielt die Augen geschlossen und versuchte, trotz seines rasenden Herzschlags ruhig und gleichmäßig zu atmen.
Schritte näherten sich.
Er war wehrlos − wie beim Überfall.
Die Schritte verstummten neben ihm. Eine Mädchenstimme erhob sich. Sie murmelte in der Kirchensprache, wiederholte stets die gleiche Formel, abgeschlossen mit einem „Amen“, wie einst Walburga während seines Fiebers neben dem Bett. Doch es war nicht Walburgas Stimme, diese Stimme klang wie die seiner Schwester.
Gerold nahm sich vor, nur zu blinzeln. So, dass sie es nicht bemerkte. Er hob das schwere, rechte Augenlid. Was er sah, ließ ihn auch das linke Auge aufreißen.
Seine Schwester! Sie stand neben ihm.
Die kindlichen Pausbacken. Und die vollen Lippen, darunter eine Einkerbung.
Alle Schmerzen verschwanden. Alles − vom Überfall bis zum Sturz vom Baum – war nur ein böser Traum.
„Schwesterherz“, sagte er und lächelte.
Da bemerkte er den schwarzen Schleier, der die hohe Stirn zur Hälfte bedeckte und von dort zu den Schultern herabfiel, wo er in einem weißen Rand endete; unter dem Schleier umschloss eine weiße Haube Hals und Ohren. Eine Tunika aus grobem Wollstoff wurde an den Hüften von einem Gürtel umschlossen, an ihm hing ein Wachstäfelchen mit Griffel.
Seine Schwester konnte nicht schreiben. Und sie trug keinen Schleier. Außerdem ragte ihr Philtrum nicht so weit in die Oberlippe hinein wie bei diesem Mädchen; auch meinte er jetzt, dass sie einige Jahre älter sein musste als seine Schwester.
Alles krampfte sich in ihm zusammen. Ohne es zu wollen, entfuhr ihm ein Schrei, mit der rechten Faust schlug er neben sich auf das Strohbett. Schmerz zuckte durch die rechte Seite, der Schmied im Kopf hämmerte kräftiger.
Sie hielt ihm eine Schale Wasser unter den Mund.
Er drehte sich weg.
Sie umgriff seinen rechten Arm und sagte etwas, doch es dauerte, bis ihre Worte zu ihm drangen. „… Name?“, verstand er.
Er schwieg. Er konnte seinen Namen nicht preisgeben, ohne zu verraten, dass er der Sohn des Grafen ist. Und wenn das Wulfhardt zu Ohren bekäme …
„Woher kommst du?“, fragte die Nonne weiter. Ihr Akzent erinnerte an Walburga. Am Grafenhof sprach niemand so. War er doch nicht am Grafenhof? Oder waren die Nonnen aus Heidenheim an den Grafenhof gekommen? Aber Wulfhardt betrachtete sie, die Vertreter der römischen Kirche, doch als Feinde! Er ließ den Blick durch den Raum kreisen. Neben seinem Bett standen zwei weitere Betten, in einem davon döste ein Mann, dessen graue Haare eine Tonsur formten. Über den Betten fiel ein wenig Licht durch schmale Fenster in den kleinen Raum. Er kannte diesen Raum nicht. Vielleicht hatte Wulfhardt ihn nach dem Brand errichtet, denn er schien neu zu sein: Der frische Geruch nach Eichenholz erinnerte ihn an den Wald, die Blockbohlen waren noch hell, in keiner Ecke entdeckte er Spinnweben, kein Staubkorn bedeckte sein Laken.
Wieder fragte die Nonne: „Aus welchem Dorf kommst du?“
„Aus dem Wald.“
Forschend blickte ihn die Nonne aus großen, graugrünen Augen an. „Zu welcher Familie gehörst du?“
Gerold dachte an seine toten Eltern und an seine tote Schwester. Er hatte keine Familie. Außer Wulfhardt. Er wünschte sich zurück in den Wald, zu Flocke, in seine Höhle, weit weg von den Menschen.
Doch auf seinem rechten Arm ruhte immer noch ihre Hand, als wollte sie ihn festhalten. „Ein weißes Reh hat uns zu dir geführt.“
Gerold lächelte. „Flocke“, murmelte er.
Auch das Mädchen lächelte, dabei entblößte sie eine kleine Zahnlücke in der oberen Zahnreihe, zwischen Schneidezahn und erstem Eckzahn. Kleine Fältchen schwangen sich von der Nase zu den Enden ihrer Lippen. „Du kennst das Reh?“
Gerold ärgerte es, sich verplappert zu haben. Die Fragen nervten. War nicht er es, der ein paar Antworten bekommen sollte?
„Wo bin ich?“
Die Nonne senkte den Blick, und eine feine Röte überzog ihre Pausbacken, als schäme sie sich für ihre Neugierde, die sie hatte vergessen lassen, sich vorzustellen. „Du weilst im Krankenlager des Klosters zu Heidenheim.“ Sie legte die linke Hand auf ihre Brust, während die rechte Hand auf seinem Arm verweilte. „Mein Name ist Michal. Das weiße Reh führte mich und meine Schwestern gestern zu dir, du lagst unter einem Baum am Waldrand. Der Knöchel im rechten Fuß ist gebrochen, wir umwickelten ihn mit Leinentüchern, die wir zuvor mit Eiweiß bestrichen haben. Das hält den Fuß fest, sodass der Knochen zusammenwächst. Sonst haben wir nur Abschürfungen und blaue Flecken gefunden.“
Erleichterung durchströmte Gerold und nahm dem Schmied in seinem Kopf etwas von seiner Kraft. „Ich hatte Glück.“
„Ja, Gott hat dir viele Seraphim zur Seite gestellt. Aber noch bist du nicht gesund.“
Gerold starrte ins Leere. Er hatte das Fieber überlebt, dann den Überfall, jetzt den Sturz. Was hatte dieser Gott mit ihm vor?
Michal hielt ihm den Becher Wasser hin. Mühsam hob er den Kopf, und sie stützte ihn mit ihrer Hand. Er nippte am Becher, bekam plötzlich Durst und trank den Becher aus. Zufrieden seufzend ließ er den Kopf zurücksinken. Das Wasser floss die Kehle hinunter, frische Kraft durchströmte den Körper.
„Mein Name ist Gerold“, verriet er nun und wunderte sich, dass Walburga, die ihn einst geheilt hatte, seinen Namen noch nicht den Nonnen verraten hatte. „Ich bin …“
Die Tür schwang auf. Herein trat ein Mann, der über der Tunika die Kukulle der Mönche trug. Unter seiner Halbglatze sprangen die Augenbrauen weit vor, sodass die Augen in deren Schatten verschwanden. Michal ließ beinahe den Becher fallen, hastig stellte sie ihn ab.
„Was geht hier vor?“, donnerte der Mönch mit tiefer Stimme. „Im Namen Gottes, ein Weib!“ Ein Wortschwall ergoss sich, den Gerold mit seinem fragmentarischen Lateinwortschatz nicht verstand. Mit jedem Wort sank die kleine Nonne noch tiefer vor dem hochaufgeschossenen Mönch zusammen. Nur einmal entgegnete sie etwas in leisen Worten, doch der Mönch fiel ihr rüde ins Wort, fuhr den langen Arm aus und wies mit dem Zeigefinger zur Tür. Ihr Blick huschte zu Gerold, dann drehte sie auf der Ferse um und stob hinaus. Der Mönch folgte ihr wie ein böser Schatten.
Gerold streichelte mit der linken Hand seinen rechten Arm, genau jene Stelle, auf der ihre Hand gelegen hatte.
Goumerads tiefe, donnernde Stimme füllte die Kirche aus, als er Michal vor ihren Mitschwestern anklagte: „Es war Äbtissin Walburga selbst, die einst die Anordnung traf, dass Nonnen nur unter ihrer persönlichen Aufsicht die Erlaubnis zur Versorgung der Patienten erhalten. Doch findet sie damit bei ihren Untergebenen kein Gehör, ja sie verhöhnen die Autorität der Äbtissin, setzte sich doch die Nonne Hugeburc in geradezu unverfrorener Art und Weise über ihr Gebot hinweg: Allein stürmte sie in die Krankenstube, getrieben von niederen Gelüsten.“ Goumerads Blick brannte auf Michal, er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.
Dem Blick ausweichend, fragte sich Michal, was Goumerad mit „niederen Gelüsten“ meinte.
„Dieses infame Verhalten erfordert dringlich die unnachgiebige Ahndung mit harter Hand, alles andere würde die Autorität der Äbtissin noch weiter sinken lassen. So denn: Die Regel des heiligen Benedikts sieht vor, die Schwester, auf der eine schwere Schuld lastet, von Tisch und Oratorium auszuschließen. Jedoch bestimmt sie auch, Schwestern, denen es an Einsicht mangelt, seien anstelle der Ausschließung mit Rutenschlägen zu bestrafen. Diese Bestimmung muss hier Anwendung finden. Denn nicht nur die nassforsche Art und Weise der Tat beweist den Mangel an Einsicht, nein, auch das geringe Alter der Fehlgeleiteten lässt auf ihre Unreife schließen.“
Michal schnappte nach Luft. Rutenschläge! Sie erinnerte sich ans Kloster Wimborne und an die Schreie der Knaben von jenseits der Mauer, die dort die Rute bekommen hatten. Sie schloss die Augen, leise betete sie: „Vater, willst du, so nimm diesen Kelch von mir; doch nicht mein, sondern dein Wille geschehe!“
Als sie die Augen aufschlug, blickte sie von der Büßerbank, die hinter der Holzschranke stand, hinauf zum Altar, wo sich Goumerad zu voller Größe aufgerichtet hatte, hinter sich das Altarkreuz. Seine Worte schienen immer noch von den Kirchenwänden widerzuhallen und sich mit dem beständigen Plätschern des Regens zu vermischen, das durch die Fenster drang: im Norden und Süden durch jeweils drei Fenster in der oberen Hälfte des Langhauses, im Westen durch das rechteckige Fenster über dem Portal, im Osten schließlich durch die zwei runden Öffnungen am östlichen Ende des Langhauses, bevor es sich zum Chor hin öffnete, wo sich ein weiteres rechteckiges Fenster in die Mauer fügte. Hilfesuchend sah Michal hinüber zur Sitzbank, die auf der gegenüberliegenden Seite des Langhauses für Walburga und die anderen sieben Nonnen aufgestellt worden war. Walburga starrte auf den Altar, den Rücken durchgedrückt, Aebbe bewarf Goumerad mit wütenden Blicken, und es schien, als warte hinter ihren Lippen ein reißender Strom von Wörtern, den sie nur zurückhalten konnte, indem sie die Lippen fest zusammenpresste.
Michal fühlte sich ausgestoßen. Sie hatte dem Knaben aus dem Wald doch nur helfen wollen mit ihrem Gebet! Trotzdem hätte sie sich nicht allein in das Krankenlager schleichen dürfen. Kein einziges Mal seit ihrem Besuch am Krankenbett vor sechs Tagen hatte sie Walburga in die Augen sehen können. Sie wollte jede Strafe fügsam auf sich nehmen, auf dass sie durch ihre läuternde Kraft von jeder Schuld gereinigt würde. Gleichwohl hoffte sie, von einer allzu harten Strafe verschont zu bleiben. Der Herr und Walburga, die in seinem Namen das Urteil sprechen würde, mussten doch ihre aufrichtige Buße in den vergangenen sechs Tagen mit Wohlgefallen betrachten: Sie hatte in Demut geschwiegen, an zwei Tagen hatte sie zudem auf jede Mahlzeit verzichtet.
Goumerads Miene verbarg sich im düsteren Licht des Chors, jetzt fuhr er zuerst den rechten Arm, anschließend den rechten Zeigefinger in ihre Richtung aus. „Fürwahr, fürwahr, die Dämonen der heidnischen Götter spuken noch immer unter uns, von dieser Nonne haben sie Besitz ergriffen! Gegen die Dämonen ist unsere Äbtissin seither nur mit halber Kraft vorgegangen, doch das werde ich nicht länger dulden: Ich werde, um die Dämonen endgültig zu vertreiben, das Aufstellen von Holzkreuzen veranlassen, überall dort, wo früher die Heiden die Fratzen ihrer Dämonen eingeritzt haben. Dort, wo bereits Holzkreuze stehen, wie in der Kapelle neben dem Wynnebaldsbrunnen oder hier, nur wenige Schritte zu meiner Linken, werde ich die Ersetzung durch doppelt so große Kreuze anordnen.“ Er zeigte auf die Stellen neben den Altar, auf der weiße Fliesen der verfallenen Römervilla zu sehen waren. Auf einer dieser Fliesen hatten die Heiden einen Dämon eingemeißelt, den einst Wynnebald mit einem Holzkreuz versucht hatte zu bannen.
Aebbe sprang auf, das Kinn nach vorne geschoben. „Ihr seid nicht der Abt! Ihr könnt gar nichts anordnen!“
Goumerad schnappte nach Luft.
„Gebt doch zu“, setzte Aebbe nach, „Ihr habt es nicht verwunden, dass Wynnebald seiner Schwester das Kloster vermachte und nicht Euch!“
Walburga schritt ein: „Mäßigt Euch, Schwester Aebbe. Ich befürworte den Vorschlag des Priors und beauftrage ihn mit der Umsetzung.“ Sie nickte Goumerad zu. „Fahrt fort.“
Goumerad, die Arme vor der Brust verschränkt, die Hände in den weiten Ärmeln der Tunika vergraben, schien nicht zufrieden, obwohl Walburga seinen Vorschlag angenommen hatte. Wahrscheinlich, weil Aebbe mit ihrem Vorwurf die bittere Wahrheit gesprochen und obendrein Walburga ihm durch die Beauftragung der Umsetzung vor Augen geführt hatte, dass sie es war, die das Kloster führte. Er fuhr die Arme wieder aus, zeigte auf Aebbe und sagte, hier zeige sich, dass das Weib das Einfallstor des Teufels sei, und zwar seit Eva den Sündenfall verschuldet habe. Was mehr brauche es noch als diese ungehörige Zornesaufwallung, um den Beweis zu führen, dass der Frau jeder Geist fehle und dass daher allein die Züchtigung durch Rutenschläge Erfolg zeitigen könne?
Widerspruch keimte in Michal auf, doch wie konnte sie, die Sünderin, das Wort führen gegen den Prior?
Das Portal knarrte, sie drehte sich um. Die Tür war einen Spaltbreit geöffnet, doch sie knarzte wieder zu. Niemand außer ihr schien es bemerkt zu haben. Kaum hatte Michal sich wieder nach vorne gewandt, wo Goumerad gerade auf einem vor dem Altartisch platzierten Stuhl Platz genommen hatte, hallte vom Portal her ein Schlag durch die Kirche. Sie fuhr herum. Jemand schob sich durch die aufschwingende Tür. Im düsteren Licht konnte Michal die Gestalt nicht erkennen, doch eine innere Stimme flüsterte ihr, dies müsse der Knabe aus dem Wald sein. Und tatsächlich: Auf zwei Krücken und dem linken Bein humpelte Gerold durch das Langhaus Richtung Altar. Er hatte sich gut erholt, wenn man berücksichtigte, dass er vor sechs Tagen zu schwach gewesen war, um das Lager zu verlassen. Zweifellos waren Michals Gebete erhört worden. Seine Wangen waren nicht mehr so eingefallen, eine etwas zu weite Tunika hing an ihm herunter, seine blonde Strähne schimmerte im düsteren Kirchenraum. Sie musste lächeln, bis sie Walburgas Blick auf sich gewahrte, schnell wieder ernst wurde und ihr Gesicht zum Altar kehrte. Als er neben ihrer Bank stehen blieb, bemerkte sie mit einem Seitenblick, wie seine hellblauen Augen angriffslustig zu Goumerad hinauffunkelten.
Michal musste an ihre Begegnung zurückdenken, die sie trotz aller Bemühungen der letzten Tage nicht hatte vergessen können: Wie er plötzlich die Augen aufgeschlagen, wie er auf ihre ungebührlichen Fragen trotzig geschwiegen und schließlich doch ein paar Antworten gegeben hatte. Warum hatte er sie in der ersten Verwirrung Schwesterherz genannt?
Jetzt schritt Amalberga, die Pförtnerin, mit einer Behändigkeit, die man ihren stämmigen Beinen nicht zutraute, auf Gerold zu. „Was suchst du hier?“, fuhr sie ihn mit männlich tiefer Stimme auf Latein an. Weil Gerold nicht sofort antwortete, packte sie ihn am Arm.
Gerold rief in der Volkssprache: „Ich bin ein Zeuge in dieser Angelegenheit und bitte darum, gehört zu werden, bevor eine Unschuldige verurteilt wird.“
Walburga trat neben Amalberga. „Halte ein, wir wollen ihn hören.“
Goumerad stach aus seinem Stuhl hoch. „Das Tribunal muss in der Sprache der Kirche geführt werden, nicht in dieser Bauernsprache.“
„Werter Goumerad“, sagte Walburga, „die Messe muss gewiss in der lingua sacra gehalten werden, nicht jedoch dieses Tribunal. Deshalb wird er uns seine Sicht der Ereignisse darlegen, kann doch seine Aussage der Wahrheitsfindung dienen. Und erzählt er dies in der Sprache des hiesigen Volkes, so sollen all jene Zuhörerinnen, die diese Sprache noch nicht zur Gänze beherrschen, seinen Worten lauschen und ihre Sprachkenntnisse erweitern. Denn wie können wir den Einheimischen das Evangelium verkünden, wenn wir nicht ihre Sprache sprechen?“
Von einem verächtlichen Laut begleitet, ließ sich Goumerad in den Stuhl sinken.
Walburga wies Gerold an, vorne an der Holzschranke, zwischen den zwei Bänken der Nonnen, stehen zu bleiben und zu warten, bis das Wort an ihm sein würde. Sodann gab sie das Wort an Michal, doch bevor sie ihre Stimme erheben konnte, schritt Goumerad ein und zitierte den ersten Brief an die Korinther, wonach in allen Gemeinden der Heiligen die Frauen in der Gemeindeversammlung zu schweigen haben; denn es sei ihnen nicht gestattet zu reden, sondern sie sollen sich unterordnen. Die Äbtissin pflichtete dem Prior bei: Gewiss sollen Frauen während der Messe schweigend der Predigt des Priesters lauschen, dies hier sei jedoch − wie sie bereits ausgeführt habe − keine Messe. Sodann forderte sie Michal nochmals auf, zu sprechen.
Michal bekannte, sie sei in das Krankenlager gegangen, um für die Gesundung des Patienten zu beten. Plötzlich sei dieser aufgewacht, woraufhin sie mit ihm geredet hatte. Das Ergebnis hatte einen empörten Zwischenruf Goumerads zur Folge. Sie sei, fügte Michal an, von übermäßiger Neugier getrieben gewesen, zweifelsohne hätte sie den Raum sofort verlassen müssen, als der Knabe erwacht sei. Während sie sprach, spürte sie Gerolds Blick auf sich. Auf eine Weise, die sie nicht erklären konnte, machte sie dieser nervös. Sie verhaspelte sich, während sie um Vergebung bat.
Walburga gab das Wort an Gerold.
Gerold verlagerte sein Gewicht auf die linke Krücke, legte die rechte Hand auf die Brust und neigte den Kopf, und für einen Augenblick tanzten die Locken auf seinen Schultern. „Diese Situation war allein meine Schuld, denn ich lag bereits wach, da öffnete sie die Tür. Sie blickte kurz herein und wollte, nachdem sie mich gesehen hatte, die Tür sofort wieder zuschlagen, doch ich drängte sie zu bleiben, überschüttete sie mit Fragen, obwohl ich wusste, dass ihr der Umgang mit mir untersagt ist.“
Walburga beäugte ihn streng, die Brauen bis unter die Haube hochgezogen. „Woher wusstest du, dass ihr dies untersagt ist?“
„Nun, ich denke, dies ist doch jedem bekannt.“
Walburga wandte sich von ihm ab und musterte Michal, als müsse sie auf den Grund ihrer Seele blicken, um das Urteil zu fällen. Michal senkte das Haupt. Die Furcht vor den Rutenschlägen kroch in jede Faser ihres Körpers, ein Schweißtropfen rann über ihre linke Brust und saugte sich in den Stoff der Tunika.
Schicksalsergeben lauschte sie Walburgas Urteil: „Schwester Hugeburc hat die Wahrheit gesagt.“
Bei dem Wort „Schwester“ strömte Erleichterung durch ihren Körper: Wenn Walburga sie noch so nannte, konnte sie doch kein hartes Urteil fällen!
„Sie hat sich somit − wie Prior Goumerad ausführte − über meine Maßgabe hinweggesetzt.“
Michal spürte ein warnendes Kribbeln im Nacken.
„Jedoch traue ich Schwester Hugeburc zu, die Strafe der Ausschließung zu verstehen, denn hätte sie den Verstand eines Kindes, so hätte Bischof Willibald ihr nicht den Schleier verliehen. Dennoch kann der Weg des Heils am Anfang nicht anders sein als eng. So soll sie denn für eine Woche jeden Tag bis nach der Non fasten, nachher erhält sie die gleiche Speise wie ihre Schwestern nach der Sext. Nach der Sext, wenn die anderen Nonnen zu Tisch sitzen, soll sie in der Kirche den Herrn mit innigen Gebeten bis zur Non um Vergebung bitten. Weiterhin darf während dieser Woche keine der Schwestern mit ihr reden.“ Walburga bekreuzigte sich. „So sei es. Nehme diese Prüfung auf dich, Schwester Hugeburc, und du wirst im Glauben fortschreiten.“
Michal stieß den Atem durch die Zahnlücke aus, bekreuzigte sich und dankte dem Herrn und Walburga für ihre Milde.
„Das ist eine Ungeheuerlichkeit, eine Frechheit, eine …“ Goumerads sonst so tiefe Stimme rutschte immer wieder in eine höhere Stimmlage, wild fuchtelte er mit den Armen. „Diese Nachlässigkeit wird Euch noch reuen, werte Äbtissin, wenn das so weitergeht, dann wird dieses Kloster zu einem Hurenhaus, hier mangelt es an jeder Zucht, seit ihr Weiber hier aufgekreuzt seid. Ihr alle, jawohl, ihr alle stürzt dieses Kloster in die Finsternis.“ Er deutete auf Wynnebalds Erdgrab neben dem Portal, dessen rechteckiger, mit Steinen markierter Umriss nur zu erahnen war, ebenso wie das Steinkreuz an der Kopfseite. „Wenn Wynnebald erleben würde, wenn er wüsste, dass sein Kloster von einem Weib in den Ruin getrieben wird!“
Walburga stand auf und ging hinaus, die Nonnen folgten, Gerold humpelte hinterdrein. Michal kam als letzte der Nonnen an die Tür und hielt sie für Gerold auf. Kurz blickte sie auf und fing einen Blick seiner hellblauen Augen ein. Er lächelte. Sogleich senkte sie das Haupt.
„Wann reden wir weiter?“, flüsterte Gerold.
Ein langer Augenblick verstrich nach Gerolds Frage am Kirchenportal. Michal starrte ihn an wie ein Eichhörnchen, aufgeschreckt von einem Donnerschlag. Sie löste die Hand von der Tür, die daraufhin langsam zuknarrte. Die Tür knackte ins Schloss, sie zuckte zusammen und stob davon, so schnell es ihre bis an die Knöchel reichende Tunika erlaubte.
Gerold lächelte ihr nach. Oft redete er über sie, wenn er mit seiner Familie sprach, die er im Himmel wähnte. Er erzählte Vater von ihren Pausbacken, den vollen Lippen und der Einkerbung über dem Kinn. „Sie sieht beinahe aus wie mein Schwesterherz“, hatte er gesagt. Er erzählte Vater von ihrer Hilfsbereitschaft im Krankenlager. Er stellte sich vor, wie Vater ihm zuhörte und milde lächelnd sagte: „Sie ist ein gutes Mädchen.“ Dann verschwand das Lächeln. „Doch bevor du um sie wirbst, musst du meine Grafschaft zurückerobern von Wulfhardt, dem Verräter!“
„Ja, Vater“, versprach Gerold. „Sobald ich laufen kann, werde ich Männer um mich sammeln und dich rächen.“ Doch noch brauchte er die Krücken. So schnell es diese Krücken erlaubt hatten, war er in die Kirche gehumpelt, nachdem Bruder Martin ihm von der Anklage erzählt hatte.
Ob sein Auftritt vor dem cholerischen Priester sie beeindruckt hatte? Gewiss, er hatte es nicht geschafft, sie vor der Strafe zu bewahren, dennoch: Er hatte sich vor aller Augen für sie eingesetzt. Früher, am Grafenhof, hatte er Adelheid nur gestehen müssen, sie habe die schönsten Augen, in die er jemals geblickt habe, und schon hatte er sie beinahe küssen dürfen. Wie viel mehr hatte er für Michal gewagt! Zwar hatten ihr in der ersten Überraschung am Kirchenportal die Worte gefehlt, aber mit ein paar Stunden Abstand, hoffte Gerold, würde sie seine Zuneigung erwidern. Und sie würde ihn wiedersehen wollen.
In das Krankenlager zurückgekehrt, bemerkte er einen neuen Patienten: ein Mädchen. Der Geruch im Krankenlager deutete auf Bauchfluss hin und der Schweiß auf der Stirn auf Fieber. Es war das dritte Kind, das mit dieser Krankheit von ihren Eltern zu den Nonnen gebracht worden war, wahrscheinlich kam auch dieses vom Grafenhof. Die anderen beiden lagen noch auf ihren Betten. Ihnen hatte er gestern eine der Heldensagen erzählt, die einst ein fahrender Sänger im Großen Saal des Grafenhofs vorgetragen hatte. Er lächelte zu ihnen hinüber, setzte sich zwischen sie und begann, ihnen eine weitere Geschichte zu erzählen. Sie hingen an seinen Lippen, was Gerold ein überreicher Lohn war, bis Bruder Martin das Mittagessen brachte. Sogleich fragte Gerold, ob er etwas über die Nonne Michal wisse. Martin kratzte das mit Bartstoppeln bedeckte Doppelkinn und kicherte. „Du kannst wohl mehr über sie berichten als ich.“
„Was soll das heißen?“, fragte Gerold ungehalten.
„Hm, oh.“ Martin wackelte mit dem Kopf, bis er das richtige Wort gefunden hatte: „Nichts.“
Schweigend, mit erröteten Ohrmuscheln, wechselte er Gerolds Verband. Nachdem die Arbeit getan war, richtete er sich ächzend auf, faltete die Hände vor dem kugelrunden Bauch und blieb wie festgewurzelt stehen, nur die beiden Daumen trommelten gegeneinander. „Sag mal“, begann er endlich, „wieso hast du dich vom Baum fallen lassen? Ich meine, wolltest du von den Nonnen getragen werden?“
Zwei lange Augenblicke verstrichen, bis Gerold verstand: Die Aussicht, von den Nonnen getragen zu werden, rechtfertigte in den Augen des Mönches einen lebensbedrohenden Sturz. Gerold lachte so heftig, dass die Rippen in seiner rechten Seite schmerzten.
Jedes Mal in den nächsten Tagen, wenn die Tür sich öffnete, hoffte Gerold, Michal träte herein, doch es kamen nur Walburga und ältere Nonnen, die sich um die Kinder kümmerten und ihn nicht zu sehen schienen. Sie wurden begleitet von Martin, der ihm die Mahlzeiten ans Bett stellte und außer ein paar Begrüßungsworten keine Silbe herausbrachte, auch nicht, als er ihn nach seiner Franziska und seinem Dolch fragte, die er wahrscheinlich beim Sturz vom Baum verloren hatte. Nach zehn Tagen trat Gerold zum ersten Mal vorsichtig mit dem rechten Fuß auf, nach weiteren sechs Tagen machte er die ersten Schritte ohne Krücken. Ihn drängte es aus dem Krankenlager, denn in den letzten Tagen waren zwei der Kinder gestorben. Seitdem hatte er die anderen Kinder nicht mehr durch Heldengeschichten von ihrem Leid ablenken können. Das Herz wurde ihm schwer mit jeder Stunde, die er diese kleinen Geschöpfe sah, denen selbst Walburga nicht helfen konnte. Er streifte den Siegelring ab, um nicht als Grafensohn erkannt zu werden, und verließ humpelnd das Krankenlager. Er wollte endlich wieder laufen können, um Flocke im Wald zu besuchen − und Michal wiederzusehen, irgendwie. Er wusste um die Gefahr, dass Wulfhardt von seinem Aufenthalt in Heidenheim Wind bekommen könnte, allerdings vertraute er auf die Mönchskutte als Verkleidung. Auch Heido, der Dorfvorsteher, der früher einige Male am Grafenhof gespeist hatte, erkannte ihn scheinbar nicht. So weit war es gekommen, merkte Gerold: Er musste sich vor einem Mann verstellen, der noch vor einem halben Jahr das Knie vor ihm gebeugt hatte.
Von jenem Heido hatte Wynnebald einst den Ort Heidenheim gekauft. Einen Großteil des Landes hatte Wynnebald ihm sogleich wieder zur Pacht überlassen, den anderen Teil hatte er dem Kloster zugeschlagen. Seitdem war Heidenheim zweigeteilt: Hier der Klosterbereich samt zugehörenden Äckern und der Mühle, den jetzt Walburga führte, dort der Rest des Dorfes mit Heidos großem Meierhof, einigen kleinen Hofstätten und Handwerkern, dem weiterhin Heido vorstand. Dank der Einnahmen aus dem Verkauf an Wynnebald und des günstig gepachteten Landes war Heido weiterhin der wohlhabendste Mann im Dorf. Mit Frau und Kinderschar wohnte er im großen Wohnhaus des Meierhofs, als Einziger konnte er sich Pferde zum Eggen und Pflügen der Felder leisten. Doch auch die anderen Familien fanden ihr Auskommen: Das Hämmern des Schmieds klang aus einem Grubenhaus, das Dach mit frischem Stroh bedeckt, Rauch stieg von dort empor wie auch aus dem Backofen, das oberschlächtige Mühlrad plätscherte unablässig ins Wasser des Gießbachs, überall tobten Kinder. Besonders stolz waren die Dorfbewohner auf das Wohnhaus des Meierhofs und die Kirche, denn kaum jemand, der durch Heidenheim reiste, hatte jemals zwei Steingebäude in so enger Nachbarschaft gesehen, selbst den Grafenhof stellte Heidenheim damit in den Schatten. Trotzdem gehörte auch dieser Ort zu seiner Grafschaft. Bei diesem Gedanken fluchte Gerold leise, weil er nur als Mönch verkleidet durch den Ort streifen konnte, anstatt hoch zu Ross, wie es sich für einen Grafen geziemte.
Auf dem Platz zwischen den Steingebäuden wurde Markt abgehalten. Gerold schob Interesse an den Kleidern aus dem Genitium des Nonnenklosters vor, konnte der Marktfrau jedoch nichts über Michal entlocken. Stattdessen erfuhr er, dass die Marktfrau mit ihrer Arbeit für das Nonnenkloster mehr zu essen nach Hause brachte als ihr Mann.
Dieser Umstand kam Prior Goumerad zu Ohren, denn in seiner Predigt vier Tage später wetterte er, es sei gegen Gottes Ordnung, wenn, wie es hier in Heidenheim die Regel sei, Weiber mehr verdienten als Männer, schließlich habe Gott die Frau aus der Rippe des Mannes erschaffen, damit sie seine Gehilfin werde, nicht seine Herrin.
Bei dieser Messe lugte Gerold immer wieder zu Michal hinüber, darauf wartend, dass sie sich ihm zuwandte, aber sie blieb tief in das Gebet versunken. Als der Nonnenchor sang, hörte er ihre hohe Stimme heraus.
Vor der Kirche wartete er auf den Auszug der Nonnen, doch auch jetzt hob Michal nicht den Kopf. Ungläubig blickte Gerold ihr hinterher. Hatte er sie überhaupt nicht beeindruckt? Immer noch rätselnd, wandte sich Gerold zum Krankenlager. Da rief Walburga ihm zu: „Auf ein Wort, Gerold!“
Ihre Stimme hatte etwas Schneidendes, sodass Gerold versucht war, weiter Richtung Krankenlager zu humpeln. Aber er blieb stehen, wohl wissend, dass Walburga ihn einst vom Fieber geheilt hatte und somit als Einzige in Heidenheim seine edle Abstammung kannte. Aus den Amphoren, die jetzt an ihrem Gürtel hingen, hatte sie das Öl und die Kräuter hervorgeholt, die ihn geheilt hatten. Er folgte Walburga in den Schatten des Kirchenportals, wo er Michal nach dem Tribunal die Frage gestellt hatte, die immer noch unbeantwortet war. Er guckte an Walburga vorbei auf die halbkreisförmige Tür, die eingerahmt wurde von speziell für diesen Zweck gehauenen Steinen, die wiederum von einem Entlastungsstein gekrönt wurden.
„Warum habt Ihr beim Tribunal gelogen?“, fragte Walburga rundheraus, die Augenbrauen nach oben gezogen, sodass sie unter dem Schleier verschwanden, der wie ihr Umhang viel zu weit war. Alles an ihr schien klein und schwächlich: das Köpfchen, das sich nur schwer auf dem Hals halten konnte, der kleine Mund, die dünnen Lippen, die knochigen Finger. Dennoch gingen viele der Werke, die ihm in den letzten Tagen in Heidenheim begegnet waren, auf diese Frau zurück, die weder Krummstab noch Ring als Zeichen ihrer Äbtissinenwürde trug. Und dann sollte sie noch dieses Lichtwunder bewirkt haben, von dem man sich allerorts erzählte. Aber warum stellte sie ihn jetzt, nach zwanzig Tagen, noch wegen des Tribunals zur Rede?
„Äh, ich wollte …“ Gerold breitete die Arme aus. „Das war doch ungerecht! Ich meine, sie hat mir nur zu trinken gegeben und erzählt, wo ich mich befinde.“
„Dennoch hat sie damit gegen eine Regel verstoßen. Was jedoch verzeihlich ist, denn diese Regel war menschengemacht. Ihr jedoch habt gegen eine Regel Gottes verstoßen, der da sagt im achten Gebot: Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.“
Gerold versuchte, eine schuldbewusste Miene zu ziehen und überlegte, ob er Walburga nach Michal fragen könne.
Walburga bekreuzigte sich, als wollte sie Gott für Gerolds Sünde um Vergebung bitten.
Gerold kam zu dem Schluss, lieber eine geeignetere Situation für seine Frage nach Michal abzuwarten und sagte: „Ich werde Gott um Verzeihung bitten. Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder, verehrte Walburga.“
„Da gibt es noch etwas, worüber wir reden müssen.“
Gerolds Schultern spannten sich an.
„Es geht um Wulfhardt, Euren Onkel. Er beansprucht das Amt des Grafen für sich, obwohl Ihr der Sohn des Grafen seid − und obwohl der Mord an Eurem Vater ungeklärt ist.“
Gerolds Hand griff unbewusst an den Gürtel, wo früher sein Schwert gehangen hatte. „Wulfhardt ist der Mörder!“
Sie nickte, als hätte sie keine andere Antwort erwartet. „Ich glaube Euch, doch könnt Ihr es beweisen?“
Gerold schüttelte den Kopf. „Lange grübelte ich darüber, doch gibt es außer mir keinen Zeugen − Wulfhardt und seine Reiter waren gründlich.“
„Dennoch: Nach dem Herkommen geht das Erbe auf den Sohn über, nicht auf den Bruder, also beansprucht Wulfhardt zu Unrecht die Macht über die Grafschaft. Dies kann nicht Gottes Wille sein, geht doch alle Macht auf Erden auf ihn zurück. Wir müssen Gottes Gerechtigkeit wiederherstellen.“
Bei dem Wort „wir“ spitzte Gerold die Ohren. Er kramte den Siegelring hervor. „Dies ist der Siegelring des Grafen, mein Vater trug ihn.“
„Wahrlich, Ihr seid der gottgewollte Graf des Sualaveldgaus. Aber genügt dieser Ring gegen die Waffenknechte, die Wulfhardt um sich geschart hat?“
„Bald bin ich gesund.“ Er vergrub den Siegelring in der rechten Faust und schlug damit in die linke Handfläche. „Dann werde ich kämpfen.“
„Wir sollten noch andere Möglichkeiten in Erwägung ziehen. Ich habe den Rat von Bischof Willibald eingeholt.“
Aha, erkannte Gerold, sie hat alles vorbereitet.
„Willibald riet, wir sollten uns an König Karlmann wenden.“
„König Karlmann?“, rief Gerold aus. „Ist König Pippin gestorben?“
„Nein, dafür sei der Herr gepriesen. Jedoch hat Pippin seine Söhne Karl und Karlmann ebenfalls zu Königen ernannt und das Reich unter ihnen aufgeteilt, wobei er den Sualaveldgau Karlmann zuschlug. Folglich obliegt ihm die Aufgabe, den Grafen zu bestimmen. Ich schlage vor, ein Gesuch an König Karlmann zu senden, in dem wir Euer Recht auf die Grafenwürde einfordern. Wahrlich, Karlmann ist ein frommer Mann, er ist unserer römischen Kirche zugetan, und er verachtet die Verkommenheit der fränkischen Kirche, deren Bischof Wulfhardt ist. Er wird seine Ohren nicht vor der Gerechtigkeit verschließen. Zudem ist mein Bruder Willibald, Gott segne ihn, bekannt mit Bertwald, einem Mann unserer römischen Kirche, der das Ohr König Karlmanns besitzt. Willibald traf ihn auf der Synode im letzten Jahr in Attigny. Mit Bertwalds Hilfe wird Karlmann die richtige Entscheidung treffen.“
Nie hatte Gerold diese Möglichkeit erwogen. Nie hatte er erlebt, dass sein Vater mit dem König korrespondiert hatte, sodass er nicht einmal sicher gewesen war, ob es diesen König tatsächlich gab oder ob er nur eine Gestalt in den Heldensagen war. Aber wäre ein Kampf Mann gegen Mann, Schwert gegen Schwert, nicht ehrenhafter als ein Hilferuf an den König? Er könnte Krieger anwerben und Wulfhardt überraschen. Doch was würde ihn dann von Wulfhardt unterscheiden? Gewiss, er hätte die Gerechtigkeit auf seiner Seite, jedoch würden auch unschuldige Menschen sterben. Er dachte an die verkohlten Leichen nach dem Überfall. Und an die Kinder vom Grafenhof, die jetzt im Krankenlager lagen. Ihn fröstelte.
„Ich bin einverstanden“, sagte er. „Jedoch habe ich keinen Schreiber.“
„Seid ohne Sorge. Ich werde das Gesuch selbst anfertigen, anschließend wird ein Bote Willibalds es dem König überbringen.“
„Gut“, sagte Gerold. „Ich danke Euch. Ich hoffe, wir sprechen uns bald …“
„Da wäre noch eine Kleinigkeit, zu der ich Euch raten möchte.“
Ergeben nickte er, ahnend, dass sie auch diese „Kleinigkeit“ bereits wohl durchdacht hatte.
Sie forderte ihn auf, dem Unterricht im Mönchskloster beizuwohnen. So werde im Krankenlager ein dringend benötigtes Bett frei, außerdem könne er im Mönchskloster die lingua sacra lernen, sodass er künftig nicht auf ihre Hilfe angewiesen sei.
Gerold konnte nur mit Mühe eine abschätzige Handbewegung unterdrücken. Am Grafenhof hatte er einige Brocken der Kirchensprache von einem Priester gelernt. Doch hatte sich − ihn eingeschlossen − nie jemand für diesen Unterricht interessiert. Dieses Geschreibe, hatte sein Vater gemeint, könne er den Priestern überlassen. Daher wollte er Walburgas Angebot ablehnen, doch dann stutzte er und fragte stattdessen: „Könnte ich hier im Kloster bei den Mönchen leben?“
„Dies wäre mein Vorschlag gewesen.“
„Dann begleite ich die Mönche zu den Gebeten in die Kirche?“, fragte er und fügte für sich hinzu: Und kann sie dabei wiedersehen?
Walburga nickte. „Dieser fromme Dienst wird Euch stärken.“
Er dankte der Äbtissin und versprach, eifrig zu lernen. „Sagt“, fügte er an, unmerklich die Luft einziehend, „wie geht es Schwester Michal, ist sie …“
Walburga fiel ihm ins Wort: „Sie schreitet empor auf dem Pfad der Tugend, im Kloster, abgeschieden von der Welt, sodass sie ihre Gedanken allein auf Gott richten kann.“
„Aber warum war sie dann im Wald?“
Ihre Gesichtszüge verhärteten sich. „Das war eine Ausnahme und wird nie mehr geschehen!“
Ihre Worte trafen Gerold wie Faustschläge in die Magengrube. Nur mit Mühe brachte er die Abschiedsworte hervor und verharrte schließlich, nachdem Walburga gegangen war, allein vor dem Kirchenportal. Gerade wollte er sich ins Krankenlager begeben, da hörte er das Knirschen von Ledersohlen auf trockenem Lehm, es kam aus der Kirche, gleich hinter dem Portal. Hatte jemand sie belauscht und wusste nun um seine wahre Herkunft? Er riss das Portal auf. Ruhig und verlassen lag die Kirche vor ihm. Beruhigt schloss er es wieder.