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Zweites Kapitel.

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Inhaltsverzeichnis

Eines Tages klingelte Simon, es war in der Mittagsstunde, vor einem eleganten, freigelegenen Hause, das einen Garten hatte, ziemlich schüchtern an. Ihm war, als ob da ein Bettler geklingelt hätte, wie er es läuten hörte. Wenn er jetzt drinnen im Hause zum Beispiel als Hausinhaber gesessen hätte, vielleicht gerade beim Mittagstisch, würde er, sich zu seiner Frau träge umwendend, gefragt haben: Wer klingelt denn jetzt, gewiß ein Bettler! »Vornehme Leute,« dachte er, während er wartete, »denkt man sich immer an der Tafel, oder in der Kutsche, oder beim Anziehen, wo ihnen Diener und Dienerinnen behilflich sind, dagegen Arme immer draußen in der Kälte, mit emporgezogenen Mantelkragen, wie ich jetzt, vor einer Gartentür herzpochend wartend. Arme Leute haben in der Regel schnelle, pochende, hitzige Herzen, Reiche kalte, weite, geheizte, gepolsterte und vernagelte! Ach, wenn nur rasch jemand herbeigesprungen käme, wie würde ich aufatmen. Dieses vor einer reichen Türe Warten hat etwas Beengendes. Wie stehe ich doch, trotz meinem bißchen Welterfahrung, auf schwachen Beinen.« – In der Tat, er zitterte, als ein Mädchen herbeisprang, um dem Draußenstehenden zu öffnen. Simon mußte immer lächeln, wenn jemand ihm eine Tür öffnete und ihn zum Eintreten ersuchte, auch jetzt ging es nicht ohne dieses Lächeln ab, das wie eine leise Bitte im Gesicht aussah, und das vielleicht bei vielen Menschen zu beobachten ist.

»Ich suche ein Zimmer.«

Simon nahm seinen Hut vor einer schönen Dame ab, die den Ankommenden aufmerksam prüfte. Simon war es lieb, daß sie das tat; denn er fühlte, daß sie ein Recht dazu hatte, und weil er sah, daß sie dabei ihre Freundlichkeit nicht verlor.

»Wollen Sie kommen? Da! Die Treppe hinauf.«

Simon bat die Dame, voranzugehen. Er machte dabei zum ersten Male in seinem Leben mit der Hand eine Handbewegung. Die Dame zeigte dem jungen Mann das Zimmer, indem sie eine Tür öffnete.

»Welch ein schönes Zimmer,« rief Simon, der wirklich überrascht war, »viel zu schön für mich, leider, viel zu fein für mich. Sie müssen wissen, ich bin ein so wenig für ein so feines Zimmer geeigneter Mensch. Und doch, ich würde sehr gerne darin wohnen, allzugerne, viel, vielzugerne. Es ist eigentlich von Ihnen nicht gut getan gewesen, mir dieses Gemach zu zeigen. Viel besser, Sie würden mich zu Ihrem Hause hinausgewiesen haben. Wie komme ich dazu, meine Blicke in einen so heiteren, schönen, wie als Wohnung für einen Gott geschaffenen Raum zu werfen. Welch schöne Wohnungen bewohnen doch die Wohlhabenden, die, die etwas besitzen. Ich habe nie etwas besessen, bin nie etwas gewesen, und werde trotz den Hoffnungen meiner Eltern nie etwas sein. Welch schöne Aussicht aus den Fenstern, und so hübsche, glänzende Möbel, und so reizende Vorhänge, die dem Zimmer etwas Mädchenhaftes geben. Ich würde hier vielleicht ein guter, zarter Mensch werden, wenn es wahr ist, wie man sagen hört, daß Umgebungen den Menschen verändern können. Darf ich es noch ein wenig anschauen, hier noch eine Minute stehen bleiben?«

»Gewiß dürfen Sie das.«

»Ich danke Ihnen.«

»Was sind Ihre Eltern, und, wenn ich fragen darf, inwiefern sind Sie »nichts«, wie Sie sich vorhin ausdrückten?«

»Ich bin ohne Stelle!«

»Das würde mir ganz gleichgültig sein. Es kommt drauf an!«

»Nein, ich habe wenig Hoffnungen. Zwar, das darf ich, wenn ich ohne Falsch sprechen soll, auch nicht sagen. Ich bin voll Hoffnung. Nie, nie verläßt sie mich. – Mein Vater ist ein armer, aber lebensfröhlicher Mensch, dem es nicht einmal von ferne einfällt, seine jetzigen kargen Tage mit den früheren glänzenden zu vergleichen. Er lebt wie ein Junger von fünfundzwanzig Jahren und gibt sich in keiner Weise Gedanken über seine Lage hin. Ich bewundere ihn und suche ihn nachzuahmen. Wenn er bei seinem schneeweißen Alter noch munter sein kann, so muß es dreißig-, ja hundertmal seines jungen Sohnes Pflicht sein, den Kopf hoch zu tragen und die Menschen mit Augen wie der Blitz anzuschauen. Aber die Mutter gab mir, und meinen Brüdern weit mehr als mir, Gedanken mit auf die Welt. Die Mutter ist gestorben.«

Der Dame, die sehr lieb dastand, kam ein klagendes Ach aus dem Munde.

»Sie war eine herzlich gute Frau. Wir Kinder sprechen immer und immer über sie, wann und wo wir auch immer zusammentreffen. Wir leben zerstreut auf dieser runden, weiten Welt, und das ist sehr gut, denn wir haben alle solche Köpfe, wissen Sie, die nicht lange zueinander taugen. Wir haben alle eine etwas schwere Art, die hinderlich sein würde, wenn wir verbunden unter den Menschen aufträten. Das tun wir gottlob nicht, und jedes von uns weiß genau, warum wir es nicht tun wollen. Doch lieben wir uns, wie es sich geziemt. Einer meiner Brüder ist ein nicht unbekannter Gelehrter, ein anderer ist ein Spezialist im Börsenfach, wieder ein anderer ist weiter nichts als mein Bruder, weil ich ihn mehr als einen Bruder liebe, und es mir, wenn ich an ihn denke, nicht einfiele, noch sonst etwas anderes hervorzuheben an ihm, als eben den Umstand, daß er der meinige ist, der, der so aussieht, wie er, sonst nichts. Mit diesem Bruder zusammen möchte ich hier bei Ihnen wohnen. Groß genug wäre das Zimmer. Aber es geht wohl nicht gut. Wieviel kostet es?«

»Was ist Ihr Bruder?«

»Landschaftsmaler! Wieviel würden Sie für das Zimmer verlangen? – – So viel? Es ist sicherlich nicht zu viel für dieses Zimmer, aber für uns ist es viel zu viel. Auch, wenn ich recht bedenke, und wenn ich Sie eindringlich anschaue, sind wir zwei Menschen nicht dazu geeignet, in diesem Hause aus- und einzugehen, als ob wir darin ansässig wären. Wir sind noch so grob, wir würden Sie enttäuschen. Auch haben wir die Gewohnheit, mit Bettbezügen, Möbelstücken, Wäschegegenständen, Fenstervorhängen, Türklinken, Treppenabsätzen hart umzugehen, das würde Sie erschrecken, Sie würden uns böse werden, oder Sie würden vielleicht verzeihen, ein Auge bemühen zuzudrücken, was noch schmählicher wäre. Ich möchte nicht veranlassen, daß Sie später mit uns Ärger hätten. Sicher, sicher! Wehren Sie nur nicht ab. Ich sehe es zu deutlich. Wir haben, im Grunde genommen, für alles feine Wesen auf die Länge wenig Hochachtung übrig. Dergleichen Menschen, wie wir sind, müssen vor reichen Gartengittern stehen, wo ihnen die Freiheit gelassen wird, über den Glanz und die Sorgfalt spöttische Bemerkungen zu machen. Wir sind Spötter! Adieu!«

Die Augen der schönen Frau hatten einen tiefen Glanz angenommen, und nun sagte sie auf einmal: »Ich möchte doch Ihren Herrn Bruder und Sie annehmen. Ich werde, was den Preis betrifft, mit Ihnen schon einig werden.«

»Nein lieber nicht!«

Simon schritt schon die Treppe hinunter. Da rief ihm die Stimme der Dame nach: »Bitte, bleiben Sie doch noch.« Und sie eilte ihm nach. Unten holte sie ihn ein und veranlaßte ihn, stehen zu bleiben und auf sie zu horchen: »Was fällt Ihnen ein, so schnell wegzugehen. Sehen Sie, ich will, ich möchte Sie beide dabehalten. Und wenn Sie auch nicht bezahlen! Was macht das? Gar nichts, gar nichts, kommen Sie doch, kommen Sie. Treten Sie mit mir in dieses Zimmer. Marie! Wo bist du? Bringe doch gleich den Kaffee hier ins Zimmer.«

Drinnen sagte sie zu Simon: »Ich habe den Wunsch, Sie und Ihren Bruder näher kennen zu lernen. Wie konnten Sie nur davonrennen. Ich bin oft so allein in diesem abgelegenen Hause, daß es mich ängstigt. Mein Mann ist die ganze Zeit abwesend, auf weiten Reisen, er ist Forscher, segelt auf allen Meeren, von deren bloßem Vorhandensein seine arme Frau keine Ahnung hat. Bin ich nicht eine arme Frau? Wie heißen Sie? Wie heißt der andere, Ihr Bruder? Ich heiße Klara. Nennen Sie mich einfach: Frau Klara. Ich mag gern diesen einfachen Namen hören. Sind Sie nun etwas zutraulicher geworden? Würde mich sehr, so sehr freuen. Glauben Sie nicht, das wir miteinander leben und auskommen können? Gewiß, das wird schon gehen. Ich halte Sie für einen zarten Menschen. Ich fürchte mich nicht, Sie in meinem Hause zu haben. Sie haben ehrliche Augen. Ist Ihr Bruder älter als Sie?«

»Ja, er ist älter und ein viel besserer Mensch, als ich.«

»Sie sind ein braver Mensch, daß Sie das sagen dürfen.«

»Ich heiße Simon und mein Bruder heißt Kaspar.«

»Mein Mann heißt Agappaia.«

Sie erbleichte, als sie das sagte, doch sammelte sie sich rasch und lächelte.

Simon schrieb an seinen Bruder Kaspar: »Wir sind eigentlich seltsame Käuze, wir zwei. Wir treiben uns auf diesem Erdboden umher, als ob nur wir, und sonst keine anderen Menschen darauf lebten. Wir haben eigentlich eine verrückte Freundschaft geschlossen, als ob es sonst unter den Männern nichts ausfindig zu machen gäbe, was wert könnte genannt werden, Freund zu heißen. Eigentlich sind wir gar keine Brüder, sondern Freunde, wie zwei sich einmal auf der Welt zusammenfinden. Ich bin wirklich nicht für die Freundschaft gemacht und begreife nicht, was ich so Tolles an Dir nur finde, das mich zwingt, mich immer wieder an Deine Seite, gleichsam an Deinen Rücken heranzudenken. Dein Kopf kommt mir jetzt bald wie der meinige vor, so sehr bist Du schon in meinem Kopf; ich werde vielleicht im Verlauf einiger Zeit, wenn es so weiter geht, mit Deinen Händen greifen, mit Deinen Beinen laufen und mit Deinem Mund essen. Unsere Freundschaft hat sicher etwas Geheimnisvolles, wenn ich Dir sage, daß es gar nicht so unmöglich ist, daß im Grunde genommen unsere Herzen voneinander wegstreben, daß sie nur nicht können. Ich bin ja nun noch recht froh, daß Du noch immer nicht zu können scheinst, denn Deine Briefe klingen sehr artig und ich wünsche vorläufig auch von mir, daß ich im Banne dieses Geheimnisvollen sitzen bleibe. Für uns ist es ja gut, aber, wie kann ich nur gar so trocken reden: ich finde es einfach, um nicht zu lügen, entzückend. Warum sollten nicht einmal zwei Brüder über das Maß hauen. Wir passen ganz gut zusammen, wir paßten auch schon damals zusammen, als wir uns haßten und beinahe totprügelten. Weißt Du noch? Es braucht nichts als diesen Aufruf, mit einer Portion gesunden Lachens vermischt, um in Dir Bilder aufzurühren, zu leimen, zu malen, zu heften, die wahrhaftig der Rückerinnerung mehr als wert sind. Wir waren, ich weiß nicht mehr aus welcher Ursache heraus, Todfeinde geworden. O, wir verstunden es, einander zu hassen. Unser Haß war entschieden erfinderisch im Auffinden von Qualen und Demütigungen, die wir uns gegenseitig bereiteten. Beim Eßtisch warfst Du mir einmal, um nur ein einziges Beispiel dieses jammervollen und kindischen Zustandes anzuführen, eine Platte mit Sauerkraut entgegen, weil Du mußtest, und sagtest dazu: »Da, pack!« Ich muß Dir sagen, damals zitterte ich vor Wut, schon deshalb, weil es für Dich eine schöne Gelegenheit war, mich aufs grimmigste zu kränken, und ich dazu nichts sagen konnte. Ich packte die Platte an, und war eben dumm genug, den Schmerz der Kränkung bis zur Kehle hinauf voll auszukosten. Weißt Du noch, wie eines Mittags, es war ein stiller, totenstiller, sommerheißer, vor Totenstille ganz toller Sonntagnachmittag, dann einer zu Dir in die Küche herangezaudert kam und Dich bat, mir wieder gut zu sein. Es war ein unglaubliches Werk der Überwindung, kann ich Dir sagen, sich so durch das Gefühl der Beschämung und des Trotzes hindurchzuwinden, bis zu Dir, der Gestalt des zur ablehnenden Verachtung neigenden Feindes. Ich tat es, und ich bin mir dankbar dafür. Ob Du auch mir, ist mir freudig und duftig egal. Das kann nur ich abschätzen. Geh mir weg, da willst Du mir was dazwischenreden. Einfach nicht möglich. Weg da! – Wie viele köstliche Stunden habe ich von da an mit Dir genossen. Ich fand dich auf einmal zart, liebend rücksichtsvoll. Ich glaube, die Wonne der Freude brannte uns beiden auf den Wangen. Wir streiften, Du als Maler, ich als Zuschauer und Dreinreder, über die Matten auf den breiten Bergen, wateten im Duft des Grases, in der Nässe des kühlen Morgens, in der Hitze des Mittags und im feuchten, verliebten Untergehen der Sonne. Die Bäume sahen uns zu, was wir da oben trieben und die Wolken ballten sich zusammen, gewiß aus Zorn, daß sie keine Macht besaßen, unsere neugebackene Liebe zu brechen. Abends kamen wir gräßlich zerbrochen, verstaubt, verhungert und vermüdet nach Hause, und auf einmal gingst Du dann weg. Weiß der Teufel, ich half Dir wegreisen, als ob ich dazu durch Handgeld verpflichtet gewesen wäre, oder als hätte ich Eile gehabt, Dich verduften zu sehen. Gewiß war es mir eine heilige Freude, Dich abreisen zu sehen, denn Du reistest der großen Welt entgegen. Wie wenig groß ist die große Welt, Bruder.

Komm doch ja bald hierher. Ich kann Dich beherbergen, wie ich eine Braut beherbergen würde, von der ich annehmen müßte, daß sie gewohnt sei, auf Seide zu liegen und von Bedienten bedient zu werden. Ich habe zwar keine Dienerschaft, aber doch ein Zimmer wie für einen gebornen Herrn. Ich und Du, wir beide haben ein prachtvolles Chambre einfach geschenkt, vor die Füße gelegt bekommen. Du kannst hier ebensogut Bilder malen, wie dort in Deiner dicken, fernen Landschaft, Du hast ja Phantasie. Eigentlich sollte es jetzt Sommer sein, daß ich Deinetwegen im Garten ein Gartenfest mit chinesischen Lichtern und Bändern von lauter Blumen veranstalten könnte, um Dich einigermaßen Deiner würdig zu empfangen. Komm eben so, aber mach nur, daß dieses Kommen rasch vorwärtskommt, sonst komme ich und hole Dich. Meine Herrin und Wirtin drückt Dir die Hand. Sie ist davon überzeugt, daß sie Dich bereits aus meinen Schilderungen von Dir kennt. Wenn sie Dich erst kennen wird, wird sie weiter auf der Erde niemand mehr kennen lernen wollen. Hast Du einen stattlichen Anzug? Schlottern Dir Deine Hosen nicht gar so sehr um die Kniee herum und darf man Deine Kopfbedeckung noch Hut nennen? Sonst darfst Du nicht vor mir erscheinen. Alles Spaß, alles Dummheiten. Laß Dich von Deinem Simönchen umarmen. Leb wohl, Bruder. Hoffentlich kommst Du bald.« –

Einige Wochen waren verflossen, es fing an, wieder Frühling zu werden, die Luft war feuchter und weicher, es meldeten sich unbestimmte Düfte und Klänge, die aus der Erde herauszukommen schienen. Die Erde war weich, man schritt auf ihr wie auf dicken, biegsamen Teppichen. Man glaubte, Vögel singen hören zu müssen. »Es will Frühling werden,« so redeten sich die empfindungsvollen Menschen auf der Straße an. Selbst die kahlen Häuser bekamen einen gewissen Duft, eine sattere Farbe. Es ging ganz sonderbar zu, und war doch eine so alte, bekannte Erscheinung, aber man empfand es als gänzlich neu, es regte zu einem seltsamen, stürmischen Denken an, die Glieder, die Sinne, die Köpfe, die Gedanken, alles regte sich, wie wenn es hätte von neuem wachsen mögen. Das Wasser des Sees glänzte so warm und die Brücken, die sich über den Fluß schlangen, schienen einen kühneren Bogen bekommen zu haben. Die Fahnen flatterten im Winde, und es machte den Menschen Vergnügen, sie flattern zu sehen. Die Sonne erst trieb die Leute in Reihen und Gruppen auf die schöne, weiße, saubere Straße, wo sie stehen blieben und den Kuß der Wärme begierig fühlten. Viele Mäntel von vielen Menschen wurden abgelegt. Man konnte die Männer wieder freier sich bewegen sehen und die Frauen machten so sonderbare Augen, als möchte ihnen etwas Seeliges zu den Herzen herauskommen. In den Nächten hörte man wieder zum ersten Mal den Klang der vagabondierenden Gitarren, und Männer und Frauen standen im Gewühl der fröhlichen, spielenden Kinder. Die Lichter der Laterne flackten wie Kerzen in stillen Stuben, und man empfand, wenn man über nachtdunkle Wiesen hinschritt, das Blühen und Regen der Blumen. Das Gras wird bald wieder wachsen, die Bäume werden ihr Grün bald wieder über die niederen Hausdächer schütten und den Fenstern die Aussicht nehmen. Der Wald wird prangen, üppig, schwer, o, der Wald. – – Simon arbeitete wieder in einem großen Handelsinstitut.

Es war ein Bankhaus von weltbedeutendem Umfang, ein großes Gebäude von palastähnlichem Aussehen, in welchem hunderte von jungen und alten, männlichen und weiblichen Leuten beschäftigt waren. Diese Leute schrieben alle mit emsigen Fingern, rechneten mit Rechnungsmaschinen, auch wohl bisweilen mit ihren Gedächtnissen, dachten mit ihren Gedanken und machten sich nützlich mit ihren Kenntnissen. Es gab da etliche junge, elegante Korrespondenten, die vier bis sieben Sprachen schreiben und sprechen konnten. Diese schieden sich durch ihr feineres, ausländisches Wesen von dem übrigen Rechnervolk aus. Sie waren schon auf Meerschiffen gefahren, kannten die Theater in Paris und New-York, hatten in Jokohama die Teehäuser besucht und wußten, wie man sich in Kairo vergnügte. Nun besorgten sie hier die Korrespondenz und warteten auf Gehaltserhöhung, während sie spöttisch von der Heimat sprachen, die ihnen ganz klein und lausig vorkam. Das Rechnervolk bestund zumeist aus älteren Leuten, die sich an ihre Posten und Pöstlein wie an Balken und Pflöcken festhielten. Sie hatten alle lange Nasen von dem vielen Rechnen und gingen in zersessenen, zerschabten, zerglätteten, zerfalteten und zerknickten Kleidern. Es gab aber etliche intelligente Leute unter ihnen, die vielleicht im Geheimen seltsamen, kostbaren Liebhabereien frönten und so ein wenn auch stilles und abgelegenes so doch immerhin würdiges Leben führten. Viele von den jungen Angestellten waren dagegen feinerer Zeitvertreibe nicht fähig, diese stammten meist von ländlichen Grundbesitzern, Gastwirten, Bauern und Handwerkern ab, waren, da sie in die Stadt kamen, sofort bemüht, städtisch-feines Wesen anzunehmen, was ihnen jedoch schlecht gelang, und kamen über eine gewisse tölpische Grobheit nicht hinaus. Indessen, es gab da auch stille Bürschchen von zartem Betragen, die seltsam abstachen von den andern Flegeln. Der Direktor der Bank war ein alter, stiller Mann, der überhaupt nie gesehen wurde. In seinem Kopfe schienen die Fäden und Wurzeln des ganzen ungeheuren Geschäftsganges ineinandergeworfen zu liegen. Wie der Maler in Farben, der Musiker in Tönen, der Bildhauer in Stein, der Bäcker in Mehl, der Dichter in Worten, der Bauer in Strichen Landes, so schien dieser Mann in Geld zu denken. Ein guter Gedanke von ihm, zur guten Zeit ausgedacht, brachte in einer halben Stunde dem Geschäft eine halbe Million. Vielleicht! Vielleicht mehr, vielleicht weniger, vielleicht nichts, und gewiß, manchmal verlor dieser Mann ganz im stillen, und alle seine Untergebenen wußten nichts davon, gingen, wenn die Glocke zwölf schlug, zum Essen, kamen um zwei Uhr wieder, arbeiteten vier Stunden, gingen fort, schliefen, erwachten, standen zum Frühstück auf, gingen wieder, wie am gestrigen Tag ins Gebäude, nahmen die Arbeit wieder auf und keiner wußte, denn keiner hatte Zeit, etwas von diesem Geheimnisvollen in Erfahrung zu bringen. Und der stille, alte, grämliche Mann dachte im Direktionszimmer. Für die Angelegenheiten seiner Angestellten hatte er nur ein mattes, halbes Lächeln. Es hatte etwas Dichterisches, Erhabenes, Entwerfendes und Gesetzgeberisches. Simon versuchte oft, sich in Gedanken an die Stelle des Direktors zu setzen. Aber im allgemeinen verschwand ihm dieses Bild, und wenn er darüber nachdachte, verschwand ihm überhaupt jeder Begriff: »Etwas Stolzes und Erhabenes ist dabei, aber auch etwas Unbegreifliches und beinahe Unmenschliches. Warum gehen nur alle diese Leute, Schreiber und Rechner, ja sogar die Mädchen im zartesten Alter, zu demselben Tor in dasselbe Gebäude hinein, um zu kritzeln, Federn anzuprobieren, zu rechnen und zu fuchteln, zu büffeln und nasenschneuzen, zu bleistiftspitzen und Papier in den Händen herumtragen. Tun sie das etwa gern, tun sie es notgedrungen, tun sie es mit dem Bewußtsein, etwas Vernünftiges und Fruchtbringendes zu verrichten? Sie kommen alle aus ganz verschiedenen Richtungen, ja einige fahren sogar mit der Eisenbahn aus entfernten Gegenden daher, sie spitzen die Ohren, ob es noch Zeit ist, vor Antritt einen privaten Gang zu unternehmen, sie sind so geduldig dabei wie eine Herde von Lämmern, verstreuen sich, wenn es Abend wird, wieder in ihre speziellen Richtungen, und morgen, um dieselbe Zeit, finden sie sich alle wieder ein. Sie sehen sich, erkennen sich am Gang, an der Stimme, an der Manier, eine Türe zu öffnen, aber sie haben wenig miteinander zu tun. Sie gleichen sich alle und sind sich doch alle fremd und wenn einer unter ihnen stirbt oder eine Unterschlagung macht, so verwundern sie sich einen Vormittag lang darüber, und dann geht es weiter. Es kommt vor, daß einer einen Schlaganfall bekommt während des Schreibens. Was hat er dann davon gehabt, daß er fünfzig Jahre lang im Geschäft »arbeitete«. Er ist fünfzig Jahre lang jeden Tag zu derselben Türe ein und ausgegangen, er hat tausend und tausendmal in seinen Geschäftsbriefen dieselbe Redewendung geübt, hat etliche Anzüge gewechselt und sich öfters darüber gewundert, wie wenig Stiefel er des Jahres verbrauche. Und jetzt? Könnte man sagen, daß er gelebt hat? Und leben nicht tausende von Menschen so? Sind vielleicht seine Kinder ihm der Lebensinhalt, ist seine Frau die Lust seines Daseins gewesen? Ja, das kann es sein. Ich will lieber über solche Dinge nicht klugreden, denn mir will scheinen, als zieme es mir nicht, da ich noch jung bin. Draußen ist jetzt Frühling und ich könnte zum Fenster hinausspringen, so weh tut mir dieses lange, lange Glieder-Nicht-Bewegen-dürfen. Ein Bankgebäude ist doch ein dummes Ding im Frühling. Wie nähme sich eine Bankanstalt etwa auf einer grünen, üppigen Wiese aus? Vielleicht würde meine Schreibfeder mir wie eine junge, eben aus der Erde gesprossene Blume vorkommen. Ach, nein, spotten mag ich nicht. Vielleicht muß das alles so sein, vielleicht hat alles einen Zweck. Ich erblicke nur nicht den Zusammenhang, weil ich zu sehr den Anblick erblicke. Der Anblick ist wenig entmutigend: vor den Fenstern dieser Himmel, im Gehör dieses süße Singen. Die weißen Wolken gehen am Himmel und ich muß da schreiben. Warum habe ich ein Auge für die Wolken. Wenn ich ein Schuhmacher wäre, so machte ich doch wenigstens Schuhe für Kinder, Männer und Damen, diese gingen im Frühlingstag in meinen Schuhen auf der Gasse spazieren. Ich würde den Frühling empfinden, wenn ich meinen Schuh an dem fremden Fuß erblickte. Hier kann ich den Frühling nicht empfinden, er stört mich.«

Simon ließ seinen Kopf hängen und war zornig über seine weichen Gefühle.

Eines Abends, als er nach Hause ging, fiel Simon auf der abendlich beleuchteten Brücke ein Mensch, der vor ihm mit langen Schritten daherging, auf. Die Gestalt in ihrer bemäntelten Schlankheit flößte ihm einen süßen Schrecken ein. Er glaubte diesen Gang, dieses Paar Hosen, diesen sonderbaren Kessel von Hut, die flatternden Haare erkennen zu sollen. Der fremde Mann trug eine leichte Malmappe unter dem Arm. Simon ging mit etwas rascheren Schritten, von zitternden Ahnungen befallen, und plötzlich, mit dem Schrei »Bruder«, stürzte er dem Gehenden an den Hals. Kaspar umarmte seinen Bruder. Sie gingen laut miteinander plaudernd nach Hause, das heißt, sie hatten einen ziemlich steilen Weg den Berg hinauf zu machen, über dessen Abhang sich die Stadt mit Gärten und Villen hinzog. Ganz oben am Berge schauten ihnen die kleinen, verfallenen Vorstadthäuschen entgegen. Die untergehende Sonne flammte in den Fenstern und machte sie zu strahlenden Augen, die starr und schön in die Ferne blickten. Unten lag die Stadt, weit und wohllüstig über die Ebene gebreitet, wie ein flimmernder, glitzernder Teppich, die Abendglocken, die immer anders sind als Morgenglocken, tönten herauf, der See lag schwach gezeichnet, in seiner zarten unaussprechlichen Form zu Füßen der Stadt, des Berges und der vielen Gärten. Noch blitzten viele Lichter nicht, aber die, die leuchteten, brannten mit einer herrlichen, fremdartigen Schärfe. Die Menschen gingen und liefen jetzt da unten in all den krummen, versteckten Straßen, man sah sie nicht, aber man wußte es. »In der eleganten Bahnhofstraße würde es jetzt herrlich zu gehen sein,« dachte Simon. Kaspar ging schweigend. Er war ein prachtvoller Kerl geworden. »Wie er daherschreitet,« dachte Simon. Endlich kamen sie vor ihrem Hause an. »Wie? Am Waldesrande wohnst du?« lachte Kaspar. Sie traten beide ins Haus.

Als Klara Agappaia den neuen Ankömmling erblickte, ging in ihren großen müden Augen ein seltsames Flammen auf. Sie schloß ihre Augen und bog ihren schönen Kopf auf die Seite. Es schien nicht, daß sie sehr große Freude empfunden hätte, diesen jungen Mann zu sehen, es erschien wie etwas ganz anderes. Sie versuchte unbefangen zu sein, zu lächeln, wie man zu lächeln pflegt, wenn man jemanden willkommen heißt. Aber sie vermochte es nicht. »Geht hinauf,« sagte sie, »heute bin ich so müde. Wie sonderbar. Ich weiß wirklich nicht, was ich habe.« Die beiden suchten ihr Zimmer auf: Der Mond beleuchtete es. »Wir zünden gar kein Licht an,« sagte Simon, »laß uns so zu Bette gehen.« – Da klopfte jemand an die Türe, es war Klara, sie sagte, draußen stehend: »Habt ihr auch alles Notwendige, fehlt euch nun nichts?« – »Nein, wir liegen schon im Bett, was könnte uns fehlen.« – »Gute Nacht, Freunde,« sagte sie, und öffnete ein wenig die Türe, schloß sie wieder und ging. »Sie scheint eine seltsame Frau zu sein,« meinte Kaspar. Dann schliefen sie beide.

Geschwister Tanner

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