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Drittes Kapitel.

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Inhaltsverzeichnis

Am andern Morgen packte der Maler seine Landschaften aus der Mappe und es fiel zuerst ein ganzer Herbst heraus, dann ein Winter, alle Stimmungen der Natur wurden wieder lebendig. »Wie wenig das ist von allem dem, was ich gesehen habe. So schnell das Auge eines Malers ist, so langsam, so träge ist seine Hand. Was muß ich noch alles schaffen! Ich meine oft, ich müßte verrückt werden.« Alle drei, Klara, Simon und der Maler, umstanden die Bilder. Es wurde wenig, aber nur in Ausrufen des Entzückens gesprochen. Plötzlich sprang Simon zu seinem Hut, der auf dem Boden des Zimmers lag, setzte ihn wild und zornig auf den Kopf, stürzte zur Türe hinaus, mit dem Ausruf: »Ich habe mich verspätet.«

»Eine Stunde zu spät! Das sollte bei einem jungen Manne nicht vorkommen!« wurde ihm auf der Bank gesagt.

»Wenn es aber doch vorkommt?« fragte der Gescholtene trotzig.

»Wie, Sie wollen noch aufbegehren? Meinetwegen! Machen Sie, was Sie wollen!«

Das Betragen Simons wurde dem Direktor gemeldet. Dieser beschloß, den jungen Mann zu entlassen, er rief ihn zu sich und sagte es ihm mit ganz leiser, sogar gütiger Stimme. Simon sprach:

»Ich bin recht froh, daß es ein Ende hat. Glaubt man vielleicht, daß man mir damit einen Schlag versetzt, daß man meinen Mut knickt, mich vernichtet, oder dergleichen? Im Gegenteil, man erhebt mich, man schmeichelt mir damit, man flößt mir wieder, nach so langer Zeit, einen Tropfen Hoffnung ein. Ich bin nicht dazu geschaffen, eine Schreib- und Rechenmaschine zu sein. Ich schreibe ganz gern, rechne ganz gern, betrage mich mit Vorliebe unter meinen Mitmenschen mit Anstand, bin gern fleißig und gehorche, wo es mein Herz nicht verletzt, mit Leidenschaft. Ich würde mich auch bestimmten Gesetzen zu unterwerfen wissen, wenn es darauf ankäme, aber es kommt mir hier seit einiger Zeit nicht mehr darauf an. Als ich mich heute morgen verspätete, wurde ich nur zornig und ärgerlich, war mit gar keiner ehrlichen, gewissenhaften Besorgnis erfüllt, machte mir keine Vorwürfe, oder höchstens den Vorwurf, daß ich noch immer der dumme, feige Kerl sei, der, wenn es acht Uhr schlägt, springt, in Bewegung kommt, wie eine Uhr, die man aufzieht und die eben läuft, wenn sie aufgezogen wird. Ich danke Ihnen, daß Sie die Energie besitzen, mich zu entlassen, und bitte Sie, von mir zu denken, was Ihnen beliebt. Sie sind gewiß ein schätzenswerter, verdienstvoller, großer Mann, aber, sehen Sie, ich möchte auch so einer sein, und deshalb ist es gut, daß Sie mich fortschicken, deshalb war es eine segensreiche Tat, daß ich mich heute, wie man sich ausdrückt, unstatthaft benommen habe. In Ihren Bureaus, von denen man solches Aufheben macht, in denen so gern jeder beschäftigt sein möchte, ist von einer Entwicklung eines jungen Mannes nicht zu reden. Ich pfeife darauf, den Vorzug zu genießen, der mit der Auszahlung eines festen monatlichen Gehaltes verbunden ist. Ich verkomme, verdumme, verfeige, verknöchere dabei. Sie werden es überraschend finden, mich solcher Ausdrücke bedienen zu hören, aber Sie werden es zugeben, daß ich die völlige Wahrheit spreche. Hier kann nur einer ein Mann sein: Sie! – Kommt Ihnen nie der Gedanke, es möchten sich unter Ihren armen Untergebenen Leute befinden, die den Drang haben, auch Männer zu sein, wirkende, schaffende, achtunggebietende Männer. Ich kann es unmöglich hübsch finden, so ganz in der Welt auf der Seite zu stehen, nur um nicht in den Ruf zu gelangen, ein unzufriedener und wenig anstellbarer Mensch zu sein. Wie groß ist hier die Versuchung zur Furcht und wie klein die Verlockung, sich aus dieser jämmerlichen Furcht loszureißen. Daß ich es heute herbeigeführt habe, dieses beinahe Unmögliche, das schätze ich an mir, mag man dazu sagen, was man nur immer will. Sie, Herr Direktor, verschanzen sich hier, Sie sind nie sichtbar, man weiß nicht, wessen Befehlen man gehorcht, man gehorcht gar nicht, sondern stumpft nur seinen eigenen schwachen Angewöhnungen nach, die das richtige treffen. Welch eine Falle für junge, zur Bequemlichkeit und Trägheit neigende junge Leute. Hier wird nichts verlangt von all den Kräften, die möglicherweise den jungen Mannesgeist beseelen, nichts erforderlich gemacht, was einen Mann und Menschen auszeichnen könnte. Weder Mut noch Geist, weder Treue noch Fleiß, weder Schaffenslust noch Begierde nach Anstrengungen können einem hier helfen, sich vorwärtszubringen: ja, es ist sogar verpönt, Kraft und Fülle zu zeigen. Natürlich, es muß ja verpönt sein, bei diesem langsamen, trägen, trocknen, erbärmlichen Arbeitssystem. Leben Sie wohl, mein Herr, ich gehe, um mich gesund zu arbeiten, wäre es auch, um Erde zu schaufeln oder etliche Säcke Kohlen auf meinem Rücken zu schleppen. Ich liebe jedwelche Arbeit, nur solche nicht, bei deren Ausübung nicht sämtliche verfügbare Kräfte angespannt werden.«

»Soll ich Ihnen, trotzdem Sie es eigentlich nicht verdient haben, ein Zeugnis ausstellen?«

»Ein Zeugnis? Nein, stellen Sie mir keines aus. Wenn ich kein Zeugnis, als höchstens ein schlechtes verdient habe, will ich gar keines. Ich selbst stelle mir von jetzt an meine Zeugnisse aus. Ich will mich von nun an nur noch auf mich selbst berufen, wenn jemand nach meinen Zeugnissen fragt, das wird bei vernünftigen, klarblickenden Menschen den allerbesten Eindruck hervorrufen. Ich freue mich, zeugnislos von Ihnen wegzugehen, denn ein Zeugnis von Ihnen würde mich nur an meine eigene Feigheit und Furcht erinnern, an einen Zustand der Trägheit und Kraftentäußerung, an die Zeit der nutzlos dahingelebten Tage, an die Nachmittage voll wütender Befreiungsversuche, an die Abende der schönen, aber zwecklosen Sehnsucht. Ich danke Ihnen, daß Sie die Absicht hatten, mich in freundlicher Weise zu entlassen, das zeigt mir, daß ich einem Manne gegenübergestanden bin, der vielleicht einiges von dem, was ich sprach, begriffen hat.«

»Junger Mann, Sie sind viel zu heftig,« sprach der Direktor, »Sie untergraben sich Ihre Zukunft!«

»Ich will keine Zukunft, ich will eine Gegenwart haben. Das erscheint mir wertvoller. Eine Zukunft hat man nur, wenn man keine Gegenwart hat, und hat man eine Gegenwart, so vergißt man, an eine Zukunft überhaupt nur zu denken.«

»Leben Sie wohl. Ich fürchte, Sie werden etwas Schlimmes erleben. Sie interessierten mich, deshalb habe ich Ihre Worte angehört. Sonst würde ich mit Ihnen nicht so viel Zeit verloren haben. Vielleicht haben Sie Ihren Beruf verfehlt, vielleicht wird etwas aus Ihnen. Lassen Sie es sich immerhin gut gehen.«

Mit einer Neigung des Kopfes war Simon entlassen, und er befand sich bald draußen auf der Straße. Vor einer Konditorei erblickte er einen Mann auf- und abgehen, wahrscheinlich in Erwartung von irgend jemandem, vielleicht einer Frau, was konnte er wissen. Aber der Mann erweckte sein Interesse. Es war, auf den ersten Blick, ein abschreckend häßlicher Mensch, mit einem ganz ungewöhnlich großen und gebogenen Schädel, einem Vollbart im Gesicht und etwas müdem, ja tierischem Ausdruck in den Augen. Sein Gang war geziert, aber edel, seine Kleidung fein und geschmackvoll. In der Hand trug er einen gelben Spazierstock; er schien ein Gelehrter zu sein, aber ein noch junger Gelehrter. Der ganze Mann, wie er sich bewegte, hatte etwas Sanftes, Herzenbewegendes. Es schien, daß man es wagen durfte, diesen Herrn ohne weiteres anzusprechen, und Simon tat es.

»Verzeihen Sie, mein Herr, Sie so ohne weiteres anzureden. Ich habe eine Vorliebe für Sie gewonnen, sowie ich Sie nur anblickte. Ich wünsche ihre Bekanntschaft zu machen. Sollte dieser lebhafte Wunsch nicht genügender Anlaß sein, um einen Menschen, wie Sie sind, auf offener Straße anzusprechen? Sie sehen so aus, als ob Sie jemand suchten, als ob Sie irgend jemanden vermuteten, der auf diesem Platze Sie erwartete. Es ist ein solches Gewimmel von Menschen hier, daß es schwer sein wird für Sie allein, die betreffende Person zu entdecken. Ich will Ihnen suchen helfen, wenn Sie das Vertrauen haben, mir mit einigen Merkmalen den Menschen zu schildern, zu dem es Sie hinzieht. Ist es eine Dame?«

»Es ist allerdings eine Dame,« erwiderte der Herr lächelnd.

»Wie sieht sie aus?«

»Schwarzgekleidet vom Kopf bis zu den Füßen. Große, schlanke Erscheinung. Große Augen, die, wenn Sie sie erblicken, Ihnen noch nachsehen, lange, lange, wenn es auch gar nicht der Fall ist. Um den Hals trägt sie eine Kette von großen, weißen Perlen, an den Ohren lange, herabhängende Ohrringe. Ihre Knöchel sind von goldenen, einfachen Reifen umschlossen. Ich meine die Knöchel der Hände; das Gesicht hat etwas Volles, Ovales, Üppiges. Sie werden es schon sehen. Um ihren Mund, obgleich man sich darin täuscht, spielt etwas Verschlossenes und Listiges, es ist ein etwas zugekniffener Mund. Übrigens trägt sie gern einen breiten Hut mit herabhängenden Federn. Der Hut scheint dem Kopf und dem Haar nur so angeflogen. Genügt Ihnen diese Beschreibung noch nicht, so mache ich Sie darauf aufmerksam, daß sie ein Windspiel bei sich an einer dünnen, schwarzen Leine führt. Sie geht nie aus ohne den Hund. Ich werde auf diesen Posten bleiben und Sie zurückerwarten. Ich bin Ihnen dankbar für Ihr Anerbieten, ganz abgesehen davon, daß Sie mich schon Ihrer Anrede halber lebhaft interessieren. Das Gewirr von Menschen wird wirklich immer größer. Es scheint hier ein Fest zu sein.«

»Ja, ich glaube, es ist so etwas. Ich pflege mich um Feste wenig zu bekümmern.«

»Warum denn?«

»Man geht so seine eigenen Wege! Auf Wiedersehen!« Damit ging Simon durch die dichten Menschenmassen so schnell als möglich hindurch. Von allen Seiten wurde er gedrängt und geschoben, beinahe gehoben. Aber auch er drängte und er fand es höchst belustigend, so das Gewühl von Leibern und Gesichtern langsam zu durchqueren. Endlich gelangte er auf eine Art Insel, das heißt, auf einen kleinen, leeren Platz, und wie er sich umsah, erblickte er plötzlich Frau Klara. Sie hatte wirklich einen Hund bei sich. Seit er bei ihr wohnte, hatte er sich nie um die Frau näher gekümmert, wußte also auch nicht, daß sie die Gewohnheit hatte, mit ihrem Hund auszugehen.

»Es sucht Sie ein Herr,« sagte er als sie ihn bemerkte.

»Mein Mann wahrscheinlich,« erwiderte sie, »kommen Sie, wir gehen zusammen. Er ist von der Reise plötzlich zurückgekehrt, ohne mir nur ein Wort zu schreiben. So macht er es immer. Wie haben Sie seine Bekanntschaft gemacht? Wie kommen Sie dazu, in seinem Auftrag Damen zu suchen? Sie sind doch ein sonderbarer Mensch, Simon. Was? Ihre Stellung haben Sie aufgegeben? Nun, was wollen Sie jetzt unternehmen? Kommen Sie! Hier durch! Hier ist besser durchkommen. Ich werde Sie meinem Mann vorstellen.«

Man beschloß, den Abend im Theater zu verbringen. Kaspar wurde davon benachrichtigt und er fand sich zur bestimmten Stunde vor dem Theater, das sich als ein weißes, herrliches Gebäude am Ufer des Sees erhob, ein. Als der Vorhang aufging, sah man nur in einen grauen, leeren Raum hin. Doch der Raum belebte sich alsobald, denn es erschien eine Tänzerin mit nackten Beinen und Armen, die zu einer leisen Musik tanzte. Ihr Leib war von einem durchschimmernden, flatternden, fließenden Gewand umhüllt, das, so schien es, die Linien des Tanzes noch einmal für sich, in der schwebenden Luft, nachzeichnete. Man empfand die völlige Unschuld und Grazie dieses Tanzes und es würde niemandem eingefallen sein, in der Nacktheit des Mädchens etwas Unkeusches und unrein-Beabsichtigtes zu finden. Ihr Tanz löste sich oft in ein bloßes Schreiten auf, doch auch dieses blieb Tanz, und ein anderes Mal wieder schien die Tanzende von ihren eigenen Wellen in die Höhe erhoben zu werden. Wenn sie zum Beispiel ein Bein erhob und den schönen Fuß krümmte, so geschah das in einer so neuen, unbefangenen Weise, daß jedermann dachte: wo habe ich das einmal gesehen, wo? Oder habe ich das nur irgend einmal geträumt? Der Tanz dieses Mädchens hatte etwas Schweres und Naturgemäßes. Gewiß, ihre Kunst war vielleicht, streng nach Ballettregeln genommen, nicht allzugroß, ihr Können mochte weit zurückbleiben hinter dem Können und Leisten anderer Tänzerinnen. Aber sie besaß die Kunst, mit ihrer bloßen, mädchenscheuen Anmut zu entzücken. Wenn sie niederflog, so geschah es so süß-schwer, und das Emporfliegen zu höherem Schwung berauschte alle Seelen durch die Wildheit und Unschuld dieser Bewegung. Wenn sie sich bewegte, war sie auch erregt von dieser ihrer flüchtigen Bewegung, und ihre Erregung erfand zu den Tönen immer neue Schwingungen. Ihre Hände glichen zwei schönen weißen, flatternden Tauben. Das Mädchen lächelte, wenn es tanzte, es mußte glücklich dabei sein. Ihre Kunstlosigkeit wurde als höchste Kunst empfunden. Einmal flog sie in großen weichen Sprüngen, wie ein gejagter Hirsch, von einem Takt in den andern. Sie schien wie ein Wellengesprudel zu tanzen, daß sich an einem niedern Ufer zerschlägt und verspritzt, bald floß sie wie eine breite, sonnige, machtvolle Welle dahin, wie eine Welle mitten im See, bald war es wieder wie ein Geriesel von Flocken und Steinchen, immer war es anders, und immer so seelenvoll. Die Empfindungen aller Zuschauer tanzten mit Lust und mit Schmerzen mit. Einigen preßte der Tanz Tränen in die Augen, reine Tränen des Mit-Entzückens, Mit-Tanzens. Wie schön war es, zu sehen, daß, da das Mädchen seinen Tanz beendete, bejahrte, ehrfurchtgebietende Frauen sich stürmisch erhoben, dem Mädchen mit Tüchern zuwinkten und ihr Blumen in den Bühnen-Abgrund hinabwarfen. »Sei unsere Schwester,« schien aller Lächeln zu bitten. »Welche Freude, dich meine Tochter, wenn du's wolltest, zu nennen,« schienen die Damen zu jubeln. Das hundertköpfige Zuschauerpublikum sah die Kleine auf der einsamen Bühne und vergaß die Grenze, überhaupt alle Scheidewand. Viele Arme bogen sich, wie wenn sie hätten liebkosen mögen, in die Luft; die Hände, die zuwinkten, bebten. Man rief Worte hinab, die die bloße Freude erfand. Selbst die kalten, goldenen Figuren der Dekoration schienen lebendig werden zu wollen und den Lorbeer, den sie in den Händen trugen, einmal auf ein Haupt fallen zu lassen. So schön hatte Simon das Theater noch nie gesehen. Klara war sehr entzückt, wer hätte es an diesem Abend nicht sein können. Nur Herr Agappaia blieb still und sagte kein Wort. Kaspar sagte: »Ich will eine solche Ovation malen, das müßte ein herrliches Bild werden.« »Aber schwer zu malen,« sagte Simon, »dieser Duft und Glanz der Freude, dieses Schimmern des Entzückens, das Kalte und Warme, das Bestimmte und Verschwommene, Farben und Formen in diesem Duft, das Gold und das schwere Rot, so untergehend in allen Farben, und die Bühne, der kleine Brennpunkt und das kleine, selige Mädchen darauf, die Kleider der Damen, die Gesichter der Männer, die Logen und alles andere, wirklich, Kaspar, es würde sehr schwer sein.«

Geschwister Tanner

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