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IV. Reich der Menschen

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Es war der Abend des zweiten Reisetages zur Hauptstadt der Menschen. Die Sonne tauchte den Himmel in viele verschiedene Nuancen von orange, rosa und blau.

Der Wüstensand wich langsam dem trockenen, spärlich bewachsenen Boden der Steppe.

Margha saß neben Broxx auf einer von Moohls gezogenen Kutsche. Die rhinozerosähnlichen, starken Lasttiere leisteten Großartiges.

Je zwei von ihnen zogen einen riesigen Wagen mit massig Gepäck und einem Zimmer für zwei Personen. Dieses war ziemlich geräumig, beinhaltete es doch ein Stockbett, eine große Kommode, ein Nachtkästchen mit einem Spiegel darüber und einen Tisch in der Mitte. Alles in allem war die Kutsche sehr luxuriös ausgestattet und stellte eine komfortable Art zu reisen dar. Der Kriegshäuptling hatte keine Kosten gescheut, um es seinem Helden und dessen Gefährten so bequem wie möglich zu gestalten.

Die Halborkin fühlte sich vollkommen wohl, nicht zuletzt, weil sie viel Zeit hatte, sich mit Broxx zu unterhalten. Schon seit Beginn der Reise sprachen sie über alles, was ihnen einfiel. Auch ernste Themen fanden ihren Weg ins Gespräch. Bei ihm fühlte sie sich sicher und konnte über alles reden.

Eigentlich sollte sie sich über die bevorstehenden Aufgaben und Herausforderungen Gedanken machen, aber sie dachte nur an Broxx. Letztendlich wurde ihr klar, dass sie in ihn verliebt war.

Deshalb genoss sie jeden Moment dieser Reise mit ihm.


***

„Sie warten“, sagte der weißhäutige Ork.

Der Kriegshäuptling betrachtete seinen Morghur, seinen Berater.

„Ich weiß, mein Freund. Aber es sind unangenehme Nachrichten, die ich ihnen überbringen muss. Gib mir noch einen Moment.“

Thrakk war nervös. Gleich würde sich zeigen, ob er als Kriegshäuptling etwas taugte oder nicht.

Dann ging er los. Er schritt durch den mit Wachen und Ratsmitgliedern besaiteten Gang, durch die Vorhänge, hinaus auf die Empore.

Schließlich stand er am höchsten Punk der Stadt auf dem Rednerbalkon seiner Feste und blickte auf den Versammlungsplatz herab. Er war komplett gefüllt mit Orks. Jung und alt, arm und reich standen dort unten. Sie erwarteten die Rede.

Sein Volk erwartete ihn.

Als ihm die Historik seines Auftrittes und sein Einfluss auf den weiteren Verlauf dieser Krise bewusst wurde, fiel plötzlich die gesamte Anspannung von ihm ab.

Er konzentrierte sich vollkommen auf sein Ziel.

Dann begann er zu sprechen, zunächst ruhig und leise:

„Ihr Orks! Meine Orks! Freunde und Brüder.

Ich komme heute zu euch mit beunruhigenden Nachrichten.

Eine Bedrohung hat sich aufgetan und wir alle wurden Zeugen eines grausamen Anschlags auf unser Volk.

Viele unserer tapfersten Krieger mussten an diesem schwarzen Tag ihr Leben lassen.“

Seine Stimme erhob sich.

„Doch jemand hat uns in der Not gerettet.

Einer aus jenem Volke, dem so viele von euch noch immer mit Verachtung begegnen. Ein Mor'grosh.“

Buhrufe ertönten. Thrakk wurde immer lauter.

„Doch ich sage euch: Dieses junge Halbblut wird uns mit wertvollem Rat und entschlossener Tat zur Seite stehen und uns sicher aus dieser Krise führen.

Vertraut ihm!

Denn diese Bedrohung wird sich verbreiten wie ein Leuchtfeuer. Die Seuche, mit der wir es zu tun haben, wird sich ausweiten.

Sie wird Freunde zu Feinden machen.

Broxx habe ich mit der Aufgabe betreut, die anderen Völker zu warnen und die Bedrohung einzudämmen.“

Er schrie nun beinahe.

„Doch wir dürfen nicht untätig bleiben!

Macht euch bereit für den Krieg, meine Brüder!

Verteidigt eure Familien!

Verteidigt euer Land!

Verteidigt euer Volk!

Und verteidigt eure Freiheit!

Wir werden diesen Feind vernichten, wie wir jeden vernichten, der sich uns entgegenstellt.

Wir werden zusammenstehen! Und wir werden siegen!

Für unser Volk!“

Einstimmig schrie die versammelte Masse von Grünhäuten ebenso „Für unser Volk!“, riss die Fäuste nach oben und tosender Applaus hallte von den Bergwänden wieder. Die Menge war außer sich.

Der Kriegshäuptling hatte sein Ziel erreicht.

Er hatte sie auf seine Seite gezogen, trotz der weit verbreiteten Verachtung für die Mor'grosh nach dem Bürgerkrieg vor drei Jahrzehnten.

Er drehte sich um und klopfte seinem Berater, der während der Rede hinter ihm gestanden hatte, auf die Schulter.

„Nun bist du an der Reihe, Teile ihnen die Vorbereitungsmaßnahmen mit.“

***

Am Abend des dritten Tages saß die Gruppe ums Feuer am Rande eines kleinen Pinienwaldes und erzählte sich schon seit Einbruch der Dämmerung Geschichten.

Gerade hatte Margha ihre – eine alte Legende der Mor'grosh, die Broxx nur zu gut kannte – beendet und nun war der Halbork als Letzter der Runde an der Reihe.

Aber ihm schien, dass keine Geschichte, die er kannte, im Moment passte.

Er sah Margha an. Ihre schwarzen, geflochtenen Haare, die schmalen Brauen, die graublauen Augen mit dem braunen Rand um die Iris, die Stupsnase, die er extrem niedlich fand, und die sinnlichen, anziehenden Lippen.

Wie schön es wäre, sie berühren zu dürfen.

Da fasste er einen Entschluss. Und nun wusste er auch, welche Geschichte er erzählen wollte. Die anderen warteten bereits gespannt, als er begann:

„Es war einmal ein Mann, der an einer unheilbaren Krankheit litt.

Augrund dessen hatte er sein ganzen Leben nur mit seiner Mutter, die ihn pflegte, gelebt und sein Zuhause nie verlassen.

Aber die Krankheit verschlimmerte sich langsam und er wollte noch etwas von der Welt sehen.

Deshalb ging er in die Stadt, wo ihn viel Neues erwartete:

reich verzierte Adelshäuser, dreckverschmierte Arbeiter, allerlei Geschäfte.

Nach einer Weile gelangte er zum Markt.

Die Vielfalt der dort angebotenen Waren faszinierte ihn sehr und er wünschte sich, schon viel früher hinaus in die Welt gegangen zu sein.

An einem Stand blieb er stehen. Nicht wegen der Güter, nein. Er hielt wegen einer jungen Frau an. Es war Liebe auf den ersten Blick.

Sie fragte ihn, ob er etwas kaufen wolle. Sie bot Ton feil.

„Ja“, stammelte er und nahm wahllos einen der Gegenstände auf. „Dieses Stück hier... bitte“

Sie lächelte und bedankte sich. Dann wandte sie sich den anderen Kunden zu.

Von nun an ging der Mann jeden Tag zu ihrem Stand und kaufte das Stück, das sie ihm empfohl. Er wollte ihr seine Liebe gestehen, doch er brachte die Worte nicht über seine Lippen.

Schließlich forderte die Krankheit ihren Tribut und er verstarb.

Als die Mutter nach einiger Zeit schließlich das Zimmer ihres Sohnes freiräumen wollte, fand sie in seinem Schrank all die Tonarbeiten, die er gekauft hatte. Jede Einzelne war achtlos verstaut worden.

Als sie sie näher betrachtete, entdeckte sie auf jedem, bis auf das erste, eine Inschrift. Auf den Boden jeder Arbeit eingraviert stand:

„Du bist wundervoll, aber ich traue mich nicht, dich direkt anzusprechen.“

Die Mutter, die von der Liebe ihres Sohnes zu jener Frau wusste, brach in Tränen zusammen.“

Noch lange nach der Erzählung blieb es still.

Schließlich sagte Elune:

„Eine gute Geschichte. Ihre Lehre ist weise. Doch ich verabschiede mich nun, denn ich bin müde. Aternae camaië. Mögen die Sterne über euch wachen.“

„Ich gehe auch. Gute Nacht“, schloss Lurd sich an.

„Gute Nacht ihr beiden“, erwiderte Broxx. Margha nickte nur.

Als die zwei im Wagen verschwunden waren, fragte Broxx:

„Und du? Bist du nicht müde?“

„Nein. Außerdem genieße ich die Stille. Ich gehe gern nach draußen, wenn es dunkel ist, betrachte den Sternenhimmel und lausche den Geräuschen der Nacht.“

Sie saß am Boden, nahe dem Feuer, in ein warmes Fell gehüllt.

„Wirklich? Ich auch! Ich habe beinahe jeden Tag unter freiem Himmel geschlafen, seit ich mein Zuhause verlassen habe.“ Er machte eine kurze Pause. „Was hast du eigentlich vor deiner Gefangennahme gemacht?“

„Nachdem meine Mutter letzten Sommer verstorben ist, verließ ich die Menschensiedlung, in der ich bis dahin gelebt habe. Ich war auf der Durchreise nach Karratosch, weil ich einmal die Hauptstadt des Volkes meines Vaters, den ich nie getroffen habe, kennenlernen wollte und habe in jenem Dorf gerastet, als der Angriff stattfand.

„Dann geht es dir nicht viel anders als mir. Auch ich habe meine Eltern verloren.“

Es war das erste Mal, dass sie miteinander über ihre Vergangenheit redeten. Das Gespräch dauerte einige Stunden an, über Kindheitserfahrungen, wie schwer es war, ohne Fürsorge aufzuwachsen und anderes.

Margha hatte sich mittlerweile neben Broxx gesetzt.

Inzwischen hockten sie da, schwiegen, starrten ins Feuer und dachten darüber nach, was sie gesagt hatten.

Schließlich fasste Broxx sich ein Herz.

„Erinnerst du dich an meine Geschichte von vorhin?“

„Ja. Sie hat mich sehr berührt. Danke.“

Während die Flammen alles in einen goldenen Schein hüllten, schenkte ihm die Halborkin ein wunderschönes Lächeln. Die Farbmischung ihrer Augen zog Broxx magisch an.

„Weißt du...“, setzte er an, doch plötzlich ging ein Ruck durch seinen Körper. Schmerzverrte Schreie von sich gebend warf er sich zu Boden und hielt die Hände auf die Stelle, an der man ihm die Seuche injiziert hatte.

„Broxx, was ist los? Macht die Krankheit dir zu schaffen? Halt durch, ich hole schnell eine schmerzlindernde Mixtur aus dem Wagen!“

Sofort eilte Margha los und kam nach wenigen Minuten mit einer zähflüssigen, braunen Substanz in einem Tonbecher wieder.

„Trink das, dann wird es dir besser gehen.“ Sie flößte ihm die in Anbetracht zur Farbe erstaunlich wohlschmeckende Medizin ein so gut es unter seinen starken Krämpfen möglich war.

Nach einigen Minuten, in denen sowohl Elune als auch Lurd voll bewaffnet zu seiner Hilfe geeilt waren, konnte er sich wieder aufrichten.

„Ihr wart schnell. Aber ich muss euch enttäuschen, kein Feind lauert hier... Höchstens der in meinem Blut. Ich denke, wir sollten nun alle zu Bett gehen.“

Ein wenig die verpasste Gelegenheit bedauernd, begleitete er schließlich Lurd in ihr bewegliches Schlafzimmer, während die beiden Frauen in ihrem verschwanden.

Könnte ich doch nur bei ihr sein heute Nacht...

***

Elune behagte diese Reise nicht.

Die Straßen waren seltsam leer und auch sonst beherrschte Stille die Gegend. Die Route schien wie ausgestorben.

„Wo wohl all die fahrenden Händler sind?“, fragte Lurd, der wie immer auf ihrem Wagen mitfuhr, sie. Schon seit ihrem Aufbruch versuchte er, sie zum Reden zu motivieren, aber ihr war einfach nicht danach zumute.

„Ich weiß es nicht“, antwortete sie nur und ließ sich nicht anmerken, dass sie gerade über genau das selbe nachgedacht hatte.

Sie fand ihn eigentlich ja sogar sympathisch, aber es gab wichtigere Dinge, die sie beschäftigten, als sich mit ihm zu unterhalten. Was konnte eine Frau von sechs Dekaden wie sie schon mit einem Neunzehnjährigen anfangen? Natürlich war sie für ihr Volk bei Weitem nicht alt, aber dennoch sah sie die Dinge in einem ganz anderen Licht als so ein Jüngling.

„Ach, jetzt komm schon, Elune, sei doch nicht immer so mies drauf! Ja, sicher, wir sind auf einer wichtigen Mission und Gefahren könnten überall lauern, aber darf man nicht ein wenig Spaß haben?“

Plötzlich begann er, sie zu kitzeln und wackelte auf seinem Sitzplatz hin und her, um sie an den gemeinsten Stellen zu erreichen, als sie sich wehrte. Die Elfe musste heftig lachen und sie schlug so fest um sich, um ihn loszuwerden, dass Lurd nach hinten kippte und halb über den Rand der Sitzbank hing, sein Kopf gefährlich nahe an den eisernen Speichen des Rades.

„Ahhh, zieh mich wieder hoch!“, schrie er nervös.

Nachdem sie ihn am Kragen gepackt hatte, zog Elunde den Jungen mit einem Ruck, den die meisten Leute einer Frau von ihrer zierlichen Statur nicht zutrauen würden, zurück auf den Wagen.

„Mach sowas nie mehr!“, schimpfte sie wütend, aber dennoch so gefasst, dass die weiter vorne fahrenden Mor'grosh es wohl nicht hörten.

„Entschuldige...“ Sich seines kindischen Verhaltens bewusst, stieg Lurd die Schamesröte ins Gesicht. Den Rest des Tages starrte er gedankenverloren vor sich hin und sagte kein Wort mehr.

***

Am sechsten Tag der Reise erschien am Horizont endlich Hammerfall, die Hauptstadt der Menschen.

Eigentlich konnte man von der Stadt selbst noch gar nichts sehen, denn sie war auf einem hohen Berg erbaut, der einsam aus der Ebene hervorragte.

Broxx war schon einige Male hier vorbeigekommen, aber noch nie hatte er Hammerfall selbst besucht.

Im Moment interessierte er sich allerdings nicht im geringsten dafür, wie es dort oben auf dem Felsen aussah. Er hatte nur Augen für Margha, die neben ihm auf der Kutsche saß und über irgendwelche Kräutersorten redete. Nickend blickte er sie an, obwohl er nicht wirklich zuhörte. Zu sehr faszinierten ihn ihre feinen Züge.

„... und deswegen verwendet man bei offenen Wunden immer Königskraut“, schloss sie.

„Achso. Ja, mein Vater hat das auch immer benutzt, soweit ich mich erinnern kann...“

Gedankenverloren wandte er den Blick in Richtung seiner Heimat.

„Warst du schon einmal in Hammerfall?“, fragte die Mor'grosh ihn.

„Nein. Die Menschen sind tatsächlich die Einzigen, die einen Halbork noch weniger in ihrer Stadt haben wollen als die Orks selbst. Die vergangenen Konflikte zwischen ihnen und den Grünhäuten haben sie vorsichtig gemacht.“

„Bei mir Zuhause waren die Leute immer freundlich zu mir. Aber ja, du hast Recht, eine gewisse Abneigung schlägt einem immer entgegen. Naja, wir werden sehen, wie man uns empfängt.“

Immer näher gelangten die Reisenden an den riesigen Felsen heran. Nur ein schmaler Seitenweg, der mit einem starken Tor gesichert war, führte hinauf zu den Gebäuden.

Merkwürdig... Hier sind nahezu keine Händler unterwegs. Wenn ich recht überlege, ist das schon so, seit wir die Steppe verlassen haben.

Broxx war beunruhigt.

Als sie am Tor angelangten, fragte sie der mürrisch dreinblickende Wächter nach dem Grund ihres Kommens. Broxx erklärte ihm ihren Auftrag und zückte das vom Kriegshäuptling unterzeichnete Pergament, woraufhin sich der Wächter entschuldigte.

„Tur mir Leid. Es geschieht ja nicht alle Tage, dass zwei Halborks und eine Elfe bei uns um Einlass bitten.

Man muss ja vorsichtig sein in diesen Zeiten. Was sich nicht alles außerhalb der Städte bewegt... Räuber, Plünderer...“

Er senkte die Stimme.

„Und man munkelt Schlimmeres... Dunkleres.“

Den Kopf schüttelnd, fügte er hinzu:

„Egal. Ich lasse euch zum König bringen.“

Dann stieß er in sein Horn. Wenige Augenblicke später schwangen die Torflügel auf.

Gestikulierend, dass er sie weiterführen würde, setzte sich ein Reiter an die Spitze des Zuges vor die Kutschen. Er führte sie die schmale Straße hinauf, während Broxx staunend auf die Landschaft zu seiner rechten herabschaute.

Es war ein schönes Fleckchen, das die Menschen ihre Heimat nannten. Lauschige Wiesen, dichte Wälder und sanfte Hügel erstreckten sich bis zum Horizont. Unweigerlich musste er schmunzeln.

Es wäre schon ein schöner Ort, um sich niederzulassen.

Sehnsüchtig wanderte sein Blick in die Ferne.

Dennoch... es reicht niemals an meine Heimat heran.

Schlagartig wurde ihm bewusst, wie sehr ihm sein Zuhause all die Jahre hindurch gefehlt hatte.

Blind vor Zorn hatte er es verdrängt, doch nun, da er Tetha verloren hatte und durch Margha endlich wieder wahres Glück erfahren durfte, wallte das Heimweh stark in ihm auf.

Es ist Zeit für einen Neuanfang.

Als er nach links sah, schwanden die Sehnsucht und die Zufriedenheit aus seinen Gedanken und wichen blankem Entsetzen.

In die Felswände eingelassen waren riesige Gefängniszellen, dunkel und feucht. Viel zu viele Häftlinge drängten sich darin, Leib an Leib. Die Äußeren an die Gitterstäbe gepresst, stöhnten und schrien sie vor Schmerzen aufgrund des Platzmangels.

Die Gesichter der Vordersten waren zu Masken erstarrt.

„Was ist den hier los?“, fragte Broxx den Führer ernst.

Dieser blickte nur kurz über die Schulter und zuckte die Achseln. Ihn schien es nicht sonderlich zu interessieren.

„Sie stehen unter Verdacht des Verrates an der Krone. Und deshalb halten wir sie unter Arrest.“

Der Mor'grosh verkniff sich eine bissige Bemerkung. Mit dieser Ungerechtigkeit konnte er sich nicht abfinden. Darauf würde er beim König zu sprechen kommen, das war sicher.

Aber erst einmal ließ er sich weiter durch die Stadt führen.

Im Moment durchfuhren sie ein zweites großes Tor am Ende der Auffahrtsstraße. Zu beiden Seiten des weiterführenden Wegs ragten hohe steinerne Gebäude mit länglichen Fenstern und vergilbten Dächern gen Himmel.

Nur schmale Gassen trennten die Häuser voneinander und allgemein war alles sehr platzsparend gebaut. Hier und da standen, wo sich genug Raum auftat, Baracken, in denen schäbige Kreaturen zusammengekauert saßen. Müll verwandelte die Straße in einen widerlichen Sumpf und verpestete die Luft.

Auch hier lebten eindeutig zu viele Menschen auf zu wenig Platz.

Was hat nur diese Überbevölkerung verursacht? Es scheint mir nicht so, als wäre sie einfach stetig angestiegen, eher als hätte urplötzlich eine Vielzahl an Menschen ein neues Zuhause gesucht. Wie eine... Explosion.“

Weiter folgten sie der Hauptstraße, vorbei an dem Wald von Gebäuden.

An ihrem Ende befand sich der Palast. Grundsätzlich bestand er aus Stein, doch die Fassade war reich mit Elfenbein und Gold verziert. Broxx taten die vielen Fanten Leid, die für die Verzierung hatten sterben müssen.

„Die armen Fanten“, bemerkte Margha.

Er lachte und hätte ihr in diesem Moment am liebsten einen Kuss auf die Lippen gedrückt.

„Wie du bei dem Zustand dieser Stadt nur daran denken kannst.“

Jetzt machte der Reiter halt und die Gruppe brachte die Kutschen zum stehen.

„Haltet euch bereit. Ich trage dem König euer Anliegen vor. Wenn er einer Audienz zustimmt, lasse ich euch holen.“

Nachdem er gegangen war, sprang Broxx mit einem Satz vom Wagen.

„Irgendetwas stimmt hier nicht“, sagte er und verschränkte nachdenklich die Arme.

„Das sehe ich auch so“, stimmte Elune ihm zu. „So viele Menschen müssen doch von irgendwoher kommen.“

Sie diskutierten noch eine Weile, als schließlich ein Diener durch den Eingang trat.

„Der König wünscht, euch zu sehen. Folgt mir bitte.“

Erneut durchschritt Broxx die Festung eines Staatsoberhauptes, doch im Gegensatz zum Kriegshäutpling der Orks, dessen Einrichtung durchweg eher schlicht und kriegerisch gestaltet war, sparte der König der Menschen nicht an Protz und Prunk.

Silber- und Goldornamente, Edelsteine, fein gewebte Teppiche und Vorhänge schmückten die Gänge.

Auch der Raum, den sie nun betraten, war reich verziert, schließlich befanden sie sich nun im Thronsaal.

Der König, der auf dem goldenen Thron saß, trug einen langen roten Mantel mit weißem Flaum an den Rändern. Die Krone war aus grünem Elementium und Echtgold, besetzt mit Rubinen.

Sich nicht erhebend, sprach er mit durchdringender Stimme:

„Was wünscht ihr in meinem Königreich, Ork?“

Dass er sich nicht vorstellte und der barsche Ton verwirrten Broxx.

„Eigentlich sind wir hier, um Euch zu warnen und um Eure Hilfe zu bitten, aber wie ich sehe, habt ihr eigene Probleme.“

„So. Vor was wollt ihr uns denn warnen? Haben die Orks vor, uns in unserem geschwächten Zustand anzugreifen?“

„Nein. Ich komme im Auftrag von Kriegshäuptling Thrakk und er ist Euch wohl gesonnen. Ja, er benötigt sogar Eure Unterstützung.“

Der König prustete los. „Er will unsere Hilfe?! Das ist ja etwas ganz Neues!“ Als er sich wieder gefangen hatte, fügte er hinzu: „Erklärt mir das.“

Daraufhin berichtete der Mor'grosh auch dem Menschenkönig von ihren Erlebnissen mit den Schatten.

„Ich verstehe Eure Besorgnis und würde gerne helfen“, antwortete dieser, „Aber wie ihr bereits festgestellt habt, haben wir selbst dringliche Probleme.“

„Werter König. Vielleicht können wir Euch und Euren Untertanen helfen. Ich habe die überfüllten Gefängnisse und den mangelnden Platz in der Stadt nicht übersehen und die Menschen tun mir Leid. Beschreibt mir Euer Problem, wir werden unser Möglichstes tun, um es zu lösen.“

„Gut. Ich erkläre es Euch.

In letzter Zeit häuften sich die Überfälle auf Karawanen, die auf dem Weg nach Hammerfall waren. Das Merkwürdige an diesen ist, dass keine Güter gestohlen wurden, die Reisen und ihre Zugtiere aber wie vom Erdboden verschluckt waren. Die Wägen hingegen wurden unverändert stehen gelassen. Wir vermuten irgendwelche größeren, mehr oder weniger intelligenten Raubtiere hinter den Angriffen.

Nach und nach wanderten die verängstigten Landbewohner rund um Hammerfall in die Stadt.

Demnach hatten wir bald mit einer starken Überbevölkerung zu kämpfen und die Einwohner wurden immer unzufriedener. Vor einigen Tagen kam es dann zu einem Aufstand, den ich gewaltsam niederschlagen lassen musste, denn die Leute sind wütend. Hunger und Armut plagen sie. Ich ließ viele der Aufständischen einkerkern, um einigermaßen für Ruhe zu sorgen. Aber das ist auf Dauer keine Lösung.“

„Und wie können wir Euch helfen?“

„Nunja. Wir wissen bis jetzt nicht, wer oder was die Reisenden angreift. Donnerbergen wurde komplett von uns abgeschottet. Ich habe schon mehrere bewaffnete Einheiten dorthin entsandt, doch keine von ihnen ist zurückgekehrt.

Aber ich kann und will nicht von Euch verlangen, Euch dieser Gefahr auszusetzen.“

Broxx dachte kurz nach, dann drehte er sich zu seinen Gefährten um. Als diese ihm entschlossen zunickten, antwortete er:

„Es ist nobel von Euch, uns schützen zu wollen, aber wir müssen der Sache auf den Grund gehen. Vielleicht haben die Geschehnisse in Eurem Land etwas mit der Ausbreitung der Seuche zu tun. Unser Auftrag schließt auch deren Eindämmung ein. Wir werden Herausfinden, was in Donnerbergen vor sich geht.

„Ich danke Euch. Lasst uns nun etwas essen. Ich kann mir gut vorstellen, dass ihr nach Eurer Reise hungrig seid. Aber macht Euch danach so bald wie möglich auf den Weg.

Die Angelegenheit duldet keinen Aufschub.

Sobald die fünf Reisenden und der König an der Tafel Platz genommen hatten, die Diener eilends herbeitrugen und deckten, fügte er hinzu:

„Achso, entschuldigt die Unhöflichkeit, ich habe zur Zeit anderes im Kopf. Mein Name lautet Richard.

Und wen habe ich zu Gast? Greift nur zu, greift nur zu!“, begann er das Bankett und schob sich selbst eine Weintraube in den Mund.

***

Nach zwei Tagen näherte sich die Gruppe Donnerbergen.

Die Straßen waren auch jetzt leer, doch bis auf einige unheimliche nächtliche Laute kamen sie nicht in Kontakt mit irgendwelchen Raubtieren.

Was Margha größere Sorgen bereitete, war, dass Broxx sich sehr still verhielt. Er schien in sich gekehrt. Als sie ihn darauf ansprach, schob er es auf die schwere Verantwortung, die jetzt auf ihren Schultern lastete, aber sie war überzeugt, dass er etwas für sich behielt.

Dennoch war er genauso zuvorkommend wie sonst, deshalb fragte sie nicht weiter nach. Sie war in seiner Gegenwart glücklich und wollte das nicht verderben.

Aber auch sie musste zugeben, dass ihr nicht ganz wohl beim derzeitigen Unterfangen war. Etwas stimmte nicht und das konnte man deutlich spüren. Es war zu ruhig.

In der Ferne löste sich langsam ein riesiges Tor zwischen zwei Bergen aus dem Nebel, der seit einigen Meilen immer dichter wurde. Dreihundert Fuß massives Holz, verstärkt mit Eisenbeschlägen brachten Margha zum Staunen. Auf diesem Weg war die Stadt uneinnehmbar. Die Frage war nur, wer in der Lage war, solch ein monströses Bauwerk zu erreichten.

Stecken die Schatten dahinter? Ich will es mir gar nicht vorstellen.

Am Abend erreichten sie das Gebilde, dessen Schatten sie in der Abendsonne in beinahe nächtliche Dunkelheit hüllte.

Einen Zugang suchend schritten sie mit Fackeln in der Hand am Tor entlang. Aber solange sie es auch betrachteten, tasteten, sie fanden keinen. Nach etwa zwei Stunden gaben sie auf.

„Anscheinend dient das Tor nur der Befestigung. Die Bewohner der Stadt nutzen wahrscheinlich einen anderen Eingang. Lasst uns jetzt rasten und im Morgengrauen weiter suchen, wenn der Schatten anders fällt und wir mehr Licht haben“, schlug Broxx vor.

„Einverstanden“, erwiderte Lurd. „Aber wir sollten uns einen sicheren Lagerplatz suchen. Wir sind in gefährlichem Gebiet und mir ist es hier nicht geheuer.“

Nachdem sie einen leicht zu verteidigenden Platz am Fuß eines der Berge gefunden hatten, schlugen sie dort ihr Lager auf.

„Ich lege mich jetzt schlafen. Margha, kommst du mit?“, sagte Elune bald und die Mor'grosh folgte sofort.

Sehnsüchtig blickte Broxx ihr hinterher, denn sie hätte sich gerne noch weiter unterhalten.

„Gute Nacht, ihr Beiden“, wünschten er und der Junge dennoch.

Aber die zwei Frauen waren zu tief in Gedanken versunken, um zu antworten.

***

Lurds Gedanken sprangen hin und her.

Mal dachte er an den Auftrag, mal an Broxx und Margha, mal an die Seuche, mal an die Ereignisse, die sein Volk und dessen Hauptstadt in Zeiten großer Gefahr schwächten.

Was, wenn auch Hammerfall angegriffen wird? Ein Massaker...

Vor seinem inneren Auge spielte sich plötzlich eine Bilderfolge ab:

Ein kleines Mädchen, das lachend vor ihm davonlief und sich dabei zu ihm umdrehte; ein Mann, der mithilfe von Eseln als Zugtiere einen Acker bestellte; eine ältere Dame mit Brille, die auf der Veranda sitzend strickte; daneben eine in den mittleren Jahren, die der Älteren gut zuredete.

Tränen stiegen ihm in die Augen. Er ballte die Fäuste so stark, dass sie weiß anliefen, die Fingernägel gruben sich tief in die Handballen. Der Hass auf die Schatten entfesselte unbändige Kräfte in ihm, die er nur schwer kontrollieren konnte.

„Ich vermisse euch so sehr... Sara, Vater, Großmutter, Mutter...“, murmelte er leise vor sich hin.

Elune musste seinen Zustand bemerkt haben, denn sie stand auf, setzte sich neben ihn und nahm ihn in den Arm. Trotz seiner neunzehn Jahre fühlte er sich nun wieder wie ein kleines Kind. Doch die Berührung tat gut und so ließ er all die Emotionen, die sich in ihm aufgestaut hatten einfach heraus.

Erst als er sich wieder einigermaßen gefasst hatte, löste die Elfin die Umarmung.

„Danke“, schluchzte er. Sie nickte nur.

Nach einer Weile sagte Elune plötzlich:

„Ich habe meine Elfen verloren, als ich sechs Jahre alt war. Sie starben im Kampf gegen die Oger.

Danach wurde ich von einer Kriegerschule zur nächsten geschickt. Besser als im Waisenhaus einzugehen war es allemal, aber wirklich schön war es nicht.

Was ich sagen will, ist: Ich verstehe, wie hart es ist, seine Familie in jungen Jahren zu verlieren.

Der Schmerz wird nie mehr vollständig vergehen, aber das Leben geht weiter.“

„Du hast Recht. Danke.“

Sie lächelte. Es war dass erste Mal, dass er sie lächeln sah. In diesem Moment wirkte sie seltsam verletzlich, aber dennoch anmutig.

***

Unruhig wälzte Broxx sich hin und her. Träume von wolfsartigen Kreaturen, glühenden Augen in der Dunkelheit und anderen ungewöhnlichen Wesen plagten ihn. Als er erwachte, perlten Schweißtropfen von seiner Stirn.

Nach oben blickend, bemerkte er, dass Wolken den Vollmond am nächtlichen Himmel verdeckten.

Er sah sich um. Die anderen schliefen fest neben dem vor sich hin flämmelnden Lagerfeuer.

Langsam stand er auf und schritt in die Nacht hinaus. Sich ein wenig die Beine zu vertreten, würde ihm gut tun.

Doch kaum hatte er sich einige Fuß vom Lager entfernt, machte ihn ein donnerndes Geräusch irgendwo im vor ihm liegenden Gelände hellhörig.

Jedoch kehrte schon in dem Moment, als er es vernommen hatte, wieder Ruhe ein. Verdutzt lief er weiter. Vielleicht hatte er sich getäuscht.

Er genoß die Stille, die kalte, feuchte Luft und die kühle Brise, die ihm über seine beigefarbene Haut strich.

Als er gerade wieder zurück gehen wollte, blitzte ein Lichtschein einige Meter von ihm entfernt auf. Die Augen zusammenkneifend erkannte er eine Öllampe. Hinter ihr löste sich jetzt langsam eine Gestalt aus dem Nebel.

Broxx griff sofort an seinen Gurt und tastete nach seinen Äxten – doch sie waren nicht da.

Verdammt! Ich muss sie im Lager vergessen haben.

Nach einem als Waffe benutzbaren Gegenstand suchend, glitten seine Augen über den Boden.

Aschfahl kam die Gestalt, beinahe schwebend, immer näher an ihn heran.

Dann eben mit bloßen Händen. Was ist das? Ein Irrlicht?

Als der Mor'grosh Anstalten machte, auf das Wesen loszugehen, gebot es ihm mit abweisend ausgestreckter Hand, aufzuhören und sagte:

„Fürchte dich nicht. Ich bin Kumupen und lebe in Donnerbergen. Unsere Torwachen haben euch bemerkt und ich bin hier, um euch den Zugang zur Stadt zu weisen.“

„Mitten in der Nacht?“ Broxx wurde stutzig. Irgendetwas an dem Mann war ihm nicht geheuer, obwohl er eigentlich recht vertrauenswürdig erschien. Die kurzen, grauen Haare, die vielen feinen Fältchen im Gesicht, die stupsige Nase und die eisblauen Augen strahlten Gutmütigkeit aus.

Dennoch: als die Blicke der beiden sich trafen, regte sich der Dämon in Broxx plötzlich. Es war wie ein Krampf. Seine Muskeln zogen sich kurz zusammen und entspannten sich nach wenigen Augenblicken wieder.

„Alles in Ordnung?“, fragte Kumupen.

„Ja. Ich musste mich nur schütteln. Es ist kalt.“

„Ihr habt Recht. Lasst uns in Euer Lager zurückkehren und Eure Gefährten wecken.“

„Einverstanden. Folgt mir. Mein Name ist übrigens Broxx.“

Also gingen sie zurück und weckten die Schlafenden. Broxx rüttelte sanft Margha wach und Kumupen holte die anderen aus ihren Träumen.

Auf die Frage der Halborkin, wer der ältere Mann sei, sprach Broxx so laut, dass es alle hören konnten:

„Das ist Kumupen. Er kommt aus der Stadt und hat den Auftrag, uns hinein zu geleiten. Ich denke wir können ihm vertrauen.“

„Ich danke Euch, Broxx.“

Überzeugt waren weder der Halbork, noch seine Gefährten, aber es schien ihm die beste Möglichkeit zu sein, in die Stadt zu gelangen.

Also ließen sie sich vom Tor weg, einen versteckten Bergpass entlang führen. Die Kutschen mussten sie zurück lassen, denn der Weg war zu schmal. Mit Sicherheit würde den Moohls das Gras dort, wo sie angebunden waren, bis zu ihrer Rückkehr genügen.

Offensichtlich stellte es einen Umweg dar, denn sie wanderten in der Nacht, als die Sonne aufging und selbst dann noch einige Stunden, als diese sich wieder hinter den Horizont gesenkt hatte.

Irgendwann entschlossen sie sich, eine Rast einzulegen. Da Kumupen meinte, dass der Pfad ungefährlich sei, befestigten sie ihr Lager nur notdürftig.

Anschließend legten sich die erschöpften Reisenden schlafen.

***

Ein auf ihr Gesicht fallender Mondstrahl weckte Elune.

Auf das Licht des silbrigen Nachtgestirns reagierten Elfen in besonderer Weise. Energie durchströmte ihren Körper und sie wurden aktiver. Aus diesem Grund mussten sie nur dann schlafen, wenn der Mond nur schwach oder gar nicht leuchtete.

Hellwach stand sie auf und sah sich um.

Die anderen schliefen fest auf ihren mit Gräsern und Blättern gepolsterten Nachtlagern. Alle lagen sie da:

Broxx, Margha, Lurd...

Moment... Wo ist Kumupen?

Nach links und rechts hielt sie Áusschau, suchte die Umgebung ab, doch er war nirgends zu finden.

Gerade, als sie die anderen wecken wollte, hörte sie ein Heulen, wie das eines Hundes oder Wolfs, nur wesentlich lauter. Sofort zog sie ihren Bogen und legte einen Pfeil auf. Ihre Sinne schärften sich auf die Gefahrensituation.

Auf leisen Sohlen schlich sie in die Richtung, aus der sie das Geräusch vernommen hatte.

Trotz äußerster Wachsamkeit den Verursacher des Heulens konnte sie nicht ausfindig machen.

Nachdem sie sich sicher war, dass hier kein Feind lauerte, bewegte sie sich langsam zurück zu den anderen.

Schon einige Meter entfernt hörte sie ein Scharren, wie von etwas Hartem auf Stein und hechelnde Laute.

Sie legte die Sehne an, schussbereit.

Im Lager angekommen war nichts zu sehen das die Elfe beunruhigte, doch sie spürte die Anwesenheit von etwas Bösem.

Sie schlich sich zu Broxx, um ihn zu wecken, doch in dem Moment, als sie ihn berührte, stürzte aus der Dunkelheit etwas auf sie zu.

Gerade noch konnte sie sich mit katzenartiger Eleganz zur Seite rollen, doch das wolfsähnliche Wesen setzte schon erneut zum Sprung an.

Diesmal feuerte Elune geistesgegenwärtig einen Pfeil auf die Bestie ab, dem diese aber mit einem Haken nach rechts auswich und weiter auf das Spitzohr zu stürmte.

Blitzschnell zog sie ihren Dolch, legte den Bogen auf die Erde und machte sich bereit, den Angriff abzufangen.

Als die Kreatur sich zähnefletschend auf sie warf, rollte sie sich geschickt auf den Rücken, rammte ihm den Dolch in die Brust und stieß es mit den Beinen wieder von sich.

Jaulend und wimmernd wie ein verletzter Hund kauerte es am Boden.

Die Elfe, die eine leichte Beinverletzung von den Krallen des weißen Wolfsmenschen davon getragen hatte, nahm den Bogen auf und schoss blitzschnell nacheinander zwei Pfeile auf ihren Feind ab. Den ersten konnte er mit den Klauen abwehren, aber der zweite traf ihn in den Oberschenkel.

Er schrie mit einer seltsam verzerrten Stimme auf.

Durch den Lärm waren mittlerweile auch die anderen wach geworden und stellten sich kampfbereit zu Elune.

„Alles gut?“, fragte Broxx. Sie nickte nur und legte einen weiteren Pfeil auf.

Der Werwolf ging in die Knie.

Den Hass nicht unterdrückend sprach er mit der verzerrten Stimme Kumupens:

„Wir werden uns wiedersehen!“

Dann sprang er mit unglaublicher Kraft vom Boden ab, in die Nacht hinein und war verschwunden.

Elunes Pfeil ging ins Leere.

„Was zum Teufel war das?“, fragte Lurd entsetzt.

Broxx antwortete ruhig:

„Es muss Kumupen gewesen sein. Seine Stimme war deutlich in der der Kreatur zu wiederzuerkennen.

Und in der Nacht, als ich ihn getroffen habe... seine Augen... als ich in sie hinein sah, regte sich der Wolfsdämon in mir.

Anscheinend sind diese Werwölfe irgendwie mit ihm verbunden.

Aber lasst uns jetzt weiterschlafen. Anscheinend haben wir eine größere Aufgabe vor uns, als wir dachten.“

Er legte sich wieder hin und Lurd tat es ihm gleich.

„Was uns da wohl noch erwarten wird...“, murmelte Elune vor sich hin.

Hinter ihr antwortete Margha:

„Es wird schon nicht so schlimm werden. Aber jetzt lass mich deine Wunde ansehen, bitte.“

Die Elfe schüttelte sich. Sie hatte die Mor'grosh gar nicht bemerkt.

„Ach, ist doch bloß ein Kratzer.“

Dennoch machte sie ihr Bein frei und hielt es so, dass Margha es begutachten konnte.

Nach einer Weile sagte sie:

„Margha, kann ich dich etwas fragen?“

„Nur zu“, antwortete diese und lächelte freundlich.

„Warum machst du das alles hier mit? Und was gibt dir die Kraft?“

„Hmm.

Weißt du... Ich bin bei meiner Mutter aufgewachsen, bei ihren Landsleuten, am Rand zum Reich der Orks. Ich fiel natürlich auf, mein Vater gab mir schließlich einen Teil seiner orkischen Gene.

Aber immer, wenn ich traurig war, hat sie mich mit nach draußen genommen.

Wir beobachteten die vielen Tiere, die Vielfalt der Pflanzen. Sie zeigte mir die ganze Schönheit des Lebens.

Und ich lernte dieses zu schätzen.

Die Beziehungen zwischen den Lebewesen.. Freundschaft, Liebe.

Die Schatten zerstören all dies. Und deshalb werde ich gegen sie kämpfen.

Jede Faser meines Körpers widerstrebt ihren Gräueltaten. Sie treten das Leben mit ihrer Seuche mit Füßen.“

Auf eine besondere Weise berührten Elune die Worte der Halborkin und gaben ihr Kraft.

„Ich danke dir. Du hast mir sehr geholfen.“

Ein Ausdruck der Zufriedenheit breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Ihre Verwirrung über das gerade Geschehene rückte in den Hintergrund.

Margha lächelte. Ihre Augen strahlten eine große Wärme und Güte aus.

Sie war nun fertig mit dem Versorgen der Wunde und erhob sich.

„Gute Nacht“, wünschte sie Elune und ging ebenfalls schlafen.

Noch mehrere Stunden lang saß die Elfe schweigend da und dachte nah, bis der Mondschein langsam den ersten Strahlen der Sonne wich.

Dann legte auch sie sich noch ein wenig hin.

***

Die Gefährten hatten ihr Gepäck leicht gemacht. Alles, was sie im Kampf behindern konnte, hatten sie zurückgelassen.

Lediglich ihre Trinkschläuche und eine Notration trugen sie neben ihren Waffen und Rüstungen bei sich.

Sie hatten beschlossen, einfach dem Pfad, den Kumupen sie entlang geführt hatte, weiter zu folgen.

Langsam ging die bergige Landschaft in eine baumgesäumte Ebene über.

Als sie die Baumreihe, die ihnen die Sicht versperrt hatte, hinter sich gelassen hatten, eröffnete sich ihnen schließlich der Blick auf die Stadt.

Nur wenige Meilen waren sie noch entfernt. Je näher sie kamen, desto besser wurde die auffällige Architektur der Donnerbergener sichtbar.

Ein geschwungenes Grundgerüst, auf dem ein spitz zulaufendes Dach mit einem über der Tür hervorstehenden Giebel saß, kennzeichnete jedes Gebäude.

Über der ganzen Stadt schien ein düsterer Schleier zu liegen, was vielleicht an den dunklen Stilelementen lag, die charakteristisch für die Häuser waren.

Als sie die erste gepflasterte Straße betraten, drang weniger Licht zu ihnen durch, da die Dächer eng beieinander standen. Broxx war leicht unheimlich zumute.

Im Zwielicht zogen sie durch die Gassen, doch keine Menschenseele war zu sehen. Immer wieder schaute der Halbork durch die Fenster der Wohnungen, doch sie schienen leer zu stehen.

„Wo sind die bloß alle?“, flüsterte Lurd ängstlich. „Es ist gruselig hier. Die Stille...“

Margha antwortete: „Der ganze Ort ist leblos. Keine Menschen, keine Tiere, nicht einmal irgendwelche Spinnen oder anderen Insekten bewohnen ihn.“

Sie schauderte.

Stundenlang streiften sie durch die tote Stadt, bis zur Dämmerung, aber sie fanden kein Lebenszeichen.

Schließlich schlug Broxx vor, an einem möglichst übersichtlichen Teil Rast zu machen, insofern suchten sie nach dem Marktplatz.

In weiterer Entfernung erblickte er plötzlich schwach den orange leuchtenden Schein von Feuer.

Er bedeutete den anderen, sich kampfbereit zu halten. Dann schritt er leise und vorsichtig in Richtung des Scheins.

Noch immer war es still in der Stadt. Zudem weitete sich nach und nach der düstere Schleier in den Gassen aus.

Schließlich hatten sie den Ursprung des Leuchtens beinahe erreicht. Der Mor'grosh lehnte sich an eine Gebäudemauer und lugte mit nur einem Auge, um auf keinen Fall gesehen zu werden, zur Straße, während die anderen hinten warteten.

Und er staunte nicht schlecht.

Der Dorfplatz, in den der Weg mündete, war gefüllt von Menschen. Der Großteil von ihnen trug gut-bürgerliche Kleidung und die Männer Zylinder.

Der helle Schein Entsprang einem großen Feuer in der Mitte des Platzes, der ausreichte um den Dorfbewohnern perfekte Sicht in jede Ecke zu gewährleisten.

Broxx konnte nicht sagen, was genau dort von statten ging, aber es schien eine Art Besprechung zu sein, denn auf einer Tribüne hielt ein älterer Herr eine Rede,

Er steckte die Waffe weg, blieb aber angespannt. Die anderen taten es ihm gleich.

„Ich glaube, es besteht keine Gefahr. Aber bleibt trotzdem vorsichtig.“

Dann schritt er auf den Platz, die anderen folgten dicht hinter ihm.

Der Redner hielt inne und zeigte auf die Neuankömmlinge.

Sofort machte die Mengen Platz und bildete eine Gasse zur Tribüne. Ausdruckslos sahen sie die Gruppe an. Broxx nahm ihre Gesichter nur verschwommen, maskenartig wahr.

Er und seine Gefährten gingen unbeirrt weiter. Direkt hinter ihnen schloss sich die Gasse wieder.

Sie stiegen auf die hölzerne Erhebung.

Jetzt, aus der Nähe, erkannten der Mor'grosh und die anderen, wer der Redner war:

Kumupen.

Sofort zogen sie ihre Waffen.

Ruhig sprach der Wolfsmensch:

„Ich sagte doch, wieder würden uns wiedersehen.“

Er heilt kurz inne.

„Ihr schaut so verdutzt. Lasst es mich euch erklären. Ihr fragt Euch sicher, was uns zu dem gemacht hat, was wir sind.

Eines Tages erreichte uns ein Wanderer aus dem Norden des Reiches. Das große Tor stand noch offen und der Handel blühte.

Der Fremde ließ sich in unserer Stadt nieder, doch er trug eine seltene, unheilbare Krankheit mit sich, die nach und nach seine Glieder violett einfärbte.

Sein Handwerk war die Jagd. Als er einmal im Wald einem Reh nachstellte, attackierte ihn ein riesiger Wolf aus dem Hinterhalt.

Er schaffte es, zu fliehen, doch er wurde mehrfach verwundet. Mit letzter Kraft schleppte er sich zurück zur Stadt und wurde dort bewusstlos aufgefunden.

Lange lag er im Krankenbett. Seine Verletzungen heilten, doch er fieberte und veränderte sich zunehmend.

Seine Zähne wuchsen länger und spitzer, die Körperbehaarung nahm zu. Zu seinen wachen Zeiten verlangte er nach rohem Fleisch, am liebsten blutig.

Mit der Zeit wurde er wieder lebendiger, doch benahm er sich immer mehr wie ein wildes Tier.

Als ihm eine Pflegerin eines Tages das Essen bringen wollte, stürzte er sich auf sie und biss ihr ein Stück Fleisch aus dem Arm. Mit der Hilfe mehrer Männer konnten sie ihn bändigen, doch auch einige von ihnen wurden verletzt.

Schließlich wurde er zum Tode verurteilt und verbrannt.

Doch diejenigen, die er verwundet hatte, mutierten ebenso.

Auch sie forderten ihre Opfer, die sich auch bald verwandelten. Nach und nach breitete es sich so unter allen Einwohnern aus.

Die Infektion veränderte sich bald. Statt die betroffenen äußerlich zu beeinflussen, verlieh sie ihnen die Fähigkeit, sich wann sie wollten in Wolfsmenschen zu verwandeln.

Und wie ihr seht, steht ihr hunderten von uns gegenüber.

Ergebt euch und ich verspreche euch, euer Tod wird schnell von statten gehen.“

Die ganze Zeit hatte Broxx versucht, ihre Lage einzuschätzen. Schon früh hatte er erkannt, dass sie in der Falle saßen.

„Vergiss es“, brüllte er und schlug mit seinen Äxten nach Kumupen, der aber geschickt auswich und sich schnell einige Schritte entfernte, um sich zu verwandeln.

Die anderen reagierten sofort auf Broxx' Ausfall.

Elune schoss in wenigen Sekunden mehrere Pfeile in die Meute von Wolfsmenschen, die sich gerade in der Mutation befanden und streckte etwa ein dutzend von ihnen nieder.

Bleiben „nur“ noch ein paar hundert. Das kann ja lustig werden, dachte sie.

Nun stürmten auch die anderen Bestien auf die Tribüne.

Von allen Seiten drangen Feinde auf die Gefährten ein.

Kumupen war indes in der Masse untergetaucht und trotz seines weißen Felles, das ihn von seinen grauen Artgenossen unterschied, konnte Broxx ihn nicht ausmachen.

Jeder der vier versuchte sich auf seine eigene Weise gegen die Vielzahl von Gegnern zur Wehr zu setzen.

Broxx benutzte jeweils eine seiner Waffen als notdürftigen Schild und schlug mit der anderen nach allen Gliedmaßen und Körperteilen, die er erreichen konnte.

Sein Ziel war es, die Gegner zu verwunden und sie dadurch vorerst außer Gefecht zu setzen, was ganz gut klappte. Mehrere mussten weichen.

Elune versuchte, immer ein wenig Abstand zu ihren Feinden zu gewinnen, um sie so mit ihren Pfeilen durchlöchern zu können, und nutzte dafür agil jeden Holzplanken und jedes freie Fleckchen, das sie erreichen konnte.

Sollte es doch einmal ein Wolfsmensch in ihre Nähe schaffen, rammte sie ihren Dolch in dessen Fleisch.

Lurd und Margha bildeten ein Team, waren sie doch von Broxx und Elune getrennt worden.

Die Mor'grosh stärkte ihren Verbündeten mit ihren schamanistischen Kräften und drosch mit ihrem Zweihandstab um sich, so gut es ging, wohingegen der junge Mann mit seinen magisch verstärkten Kräften mit seinem Bidehänder einen Gegner nach dem anderen fällte.

Lange wütete der Kampf, doch die Werwölfe waren zäh. Und die Blutgier trieb sie dazu, sich in halsbrecherische Angriffe zu stürzen.

Dennoch schienen es einfach nicht weniger zu werden und langsam aber sicher wurde die Gruppe müde.

Kumupen witterte seine Chance.

Er drängte sich durch die Menge zurück zu Broxx und stürzte sich zähnefletschend auf ihn. Durch die Wucht der Sprunges wurde der Halbork zu Boden geworfen.

Unter Aufbringung all seiner Stärke hielt dieser die todbringenden Fänge davon ab, sich in seiner Kehle zu verbeißen.

Fauliger Atem schlug ihm ins Gesicht.

Doch er hielt stand und sah der Bestie direkt in die Augen.

Auch jetzt waren diese eisblau, aber nun durchzogen von blutroten Schlieren.

Wieder weckten sie den Dämonen in Broxx. Ein unsagbares Verlangen nach Erlösung von den dadurch entstehenden Schmerzen breitete sich in ihm aus.

Nach einer gefühlten Ewigkeit, die in Wirklichkeit nur wenige Augenblicke darstellten, hielt er es nicht mehr aus und gab dem Drang nach. Er verwandelte sich wieder in die dämonische Gestalt.

Im Grunde genommen unterschied er sich jetzt kaum mehr von seinen Feinden, jedoch überragte er sie bei Weitem.

So packte er den immer noch nach ihm schnappenden Kumupen an beiden Armen und zog mit einer Gewalt daran, die ihm nur durch die Kräfte des Dämons zugänglich war. Es stellte ein leichtes dar, den wehrlosen Wolfsmenschen in einem Gewitter aus Blut und Gedärmen in der Mitte auseinander zu reißen.

Er wischte sich mit den krallenbesetzten Klauen den dunkelroten Lebenssaft aus dem Gesicht, dann wandte er sich den übrigen Feinde zu.

Mit seinen Krallen zerfetzte er sie, zermalmte sie unter seinen Fäusten.

Er wütete und verfolgte jeden, der zu fliehen versuchte, kannte kein Erbarmen.

Sie musste restlos vernichtet werden, stellten sie doch eine zu große Infektionsgefahr dar und bald lagen alle Werwölfe tot um die Tribüne verteilt.

Nach ihrem Ende verwandelten sie sich zurück in ihre menschliche Form und Broxx tat es ihnen letztendlich gleich.

Er hatte ein Gemetzel veranstaltet. Das Blut seiner Opfer tränkte den Boden und Leichenteile lagen überall verstreut.

Wenn er es sich jetzt so ansah, bereute er es beinahe.

Es war richtig. Die Gefahr, die von ihnen ausging, war zu groß.

Auch die anderen betrachteten die Leichenberge. Sichtlich angewidert, wandte Lurd sich ab und übergab sich mehrmals. Margha half ihm, sich nicht zu verschlucken und redete ihm gut zu.

Eine ganze Dorfgemeinschaft war durch die Gruppe ausgelöscht worden.

Die Einwohner waren Bestien gewesen, aber dennoch belastete es Broxx Gewissen ein wenig.

Jetzt bemerkte er, dass Margha Lurds Arm begutachtete.

Als er näher an die beiden herantrat, erkannte er eine leichte Wunde an dessen Schulter.

„Wie ist das passiert?“

„Ein Werwolf hat mich erwischt. Aber es ist nicht so schlimm.“

„Doch. Es ist eben schon schlimm. Hast du Kumupen nicht zugehört? Du könntest dich verwandeln!“

Lurd schwieg betreten und starrte ins Leere.

Broxx bedeutete Margha, ihm ihr Ohr zu leihen, dann flüsterte er hinein:

„Wir müssen ihn töten. Er ist eine Gefahr für uns alle!“

Entsetzt entfernte sich die Halborkin von ihm und schaute ihn ernst und enttäuscht an.

„Broxx! Ist das Blutbad, das wir hier angerichtet haben, nicht genug? Jetzt reicht es!“, sagte sie erbost. „Außerdem sieh dich doch an. Der Dämon, der in dir versiegelt ist, könnte jederzeit die Kontrolle übernehmen!

Du hast genauso wenig, wie irgendjemand anders das Recht, ihn zu richten, obwohl er nichts verbrochen hat.“

Leiser fügte sie hinzu: „So kenne ich dich gar nicht.“

Er senkte die Augen. „Du hast Recht. Es tut mir Leid. Ich glaube, die Bosheit des Dämons hält mich immer noch umklammert.

Auf jeden Fall müssen wir herausfinden, ob er infiziert ist.“

„Einverstanden. Ich bereite sobald wie möglich ein Elixier zu, das ihn auf Krankheiten überprüft.“

Broxx nickte. „Wir übernachten am besten in einer der Wohnungen. Vielleicht finden wir dort auch etwas vernünftiges zu Essen.“

Dann nahm er den Verletzten auf seine Schultern und forderte die anderen auf, ihm zu folgen.

***

Nachdem die Gefährten in einem Gasthaus mit genug Betten für alle geschlafen und sich an den Vorräten bedient hatten, gingen sie zu den Kutschen zurück.

Als sie sie erreichten, dösten die Moohls zufrieden in der Nachmittagssonne des nächsten Tages.

Sie packten ihre Siebensachen und begannen die Reise zurück nach Hammerfall.

Während dem ständigen Ruckeln der Kutsche auf den unebenen Wegen, dem Auf und Ab der Landschaft und mehreren Sonnenzyklen, fand Broxx wieder viel Zeit nachzudenken.

Bin ich den Werwölfen wirklich so ähnlich?

Ja, letztendlich schon. Zwar kommt meine Fähigkeit, mich in ein wolfsähnliches Wesen zu verwandeln vom Dämon in mir und nicht von einer mysteriösen Infektion, aber mein Zustand ist nicht anders. Zerstörungswut und Aggressivität beherrschen mich immer mehr.

Selbst nach meiner Rückwandlung hat die dämonische Aura noch nachgewirkt. Margha hat Recht. Ich kann verstehen, dass sie sich im Moment von mir distanziert.

Ich muss mich bei ihr entschuldigen.

Nachdenklich wanderte sein Blick über seine Arme zu seinen Händen. Zahlreiche Narben, von Kratzern bis zu tiefen Einschnitten zogen sich über seine Haut. Die Handflächen waren verhornt vom vielen Kämpfen. Eine Entwicklung, die sich vollzog, seit er sich als Kind in der Kriegskunst geschult hatte.

Nun betrachtete er seine Finger. Sie waren kräftig, dick und etwa 5 Zoll lang. Plötzlich fiel ihm auf, dass seine Fingerkuppen die durchsichtig-schimmerende violette Farbe der Schatten annahm. Bei der anderen Hand war es genauso.

Nein! Die Seuche in mir breitet sich aus. Ich beginne, zu einem von ihnen zu werden...

Er hatte Angst. Alles in ihm widerstrebte dem Schattensein.

Ein Monster, dass sich gegen seine Freunde wenden würde. Gegen alles, was ihm wichtig war. Gegen Margha.

Hoffentlich finde ich eine Möglichkeit, diese Krankheit loszuwerden, bevor ich meinen Verstand verliere.

Und wieder spielten sich die Bilder seiner Gefangennahme, des Aufhalts in der Zitadelle, Tethas Tod, Mroshs Tod, die Auslöschung Donnerbergens ab.

Sein Herz zog sich zu einem dicken Knoten zusammen.

***

Als Margha und Broxx zusammen Feuerholz im Wald nahe ihres derzeitigen Lagers sammelten, ergriff er die Gelegenheit, die Zweisamkeit beim Schopf.

„Es tut mir Leid wegen der Sache mit Lurd“, begann er sich zu entschuldigen, „Die Kraft des Dämons weckt eine Boshaftigkeit in mir, die ich selbst noch nie erlebt habe. Jedes Mal, wenn er in mir durchbricht, übernimmt er einen größeren Teil von mir. Eigentlich wollte ich dem Jungen nichts Böses.“

Sie nickte lächelnd. „Entschuldigung angenommen. Ich weiß, dass du nichts dafür kannst.

Aber das ist eine ernste Sache. Weißt du noch, was Kumupen gesagt hat? Der Einwanderer hatte eine schwere Krankheit, die eine Art Wundbrand an seinen Gliedern verursachte.

Ich glaube dieser Wundbrand war die langsame, aber stete Verwandlung in einen Schatten.

Anscheinend hat die Seuche noch weitere Eigenschaften als nur die Übernahme des Denkzentrums. Ich stelle mir das so vor:

Sie nimmt beim Austausch von Körperflüssigkeiten, wie bei einem Biss oder bei anderen, stärkeren Verbindungen, wie der Versiegelung des Dämons in dir, Eigenschaften aus dem neu hinzugekommenen Erbmaterial im Wirt auf. Bei den Donnerbergenern war es die Animalität der Wölfe, bei dir ist es die Bosheit und Verderbtheit des Dämons.

Alles in allem benötigen wir dringend ein Gegenmittel, denn sonst haben wir ein ernsthaftes Problem. Nicht nur du wirst zu einer Gefahr. Gar nicht auszudenken, was für abscheuliche Kreuzungen so möglich sind!“

„Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht. Aber du hast Recht. Die Ogerschatten in Karratosch hatten auch nicht mehr ihre ursprüngliche Gestalt. Wahrscheinlich hat sie irgendwer mit Trollen oder Riesen gekreuzt. So lässt sich auch ihre - selbst für sie – gewaltige Kraft erklären.

Wir müssen herausfinden, wie weit entwickelt diese Seuche ist. Auf jeden Fall wird die Bedrohung schlimmer, je länger wir uns Zeit lassen, gegen sie vorzugehen.“

Beide schwiegen und ließen die bedrückenden Erkenntnisse auf sich wirken.

„Ah! Schau mal, da! Königskraut, genau das, was ich für das Elixier brauche. Damit können wir feststellen, ob Lurd infiziert ist oder nicht“, freute sich die Mor'grosh plötzlich.

„Gut, dann lass uns sofort losgehen, es wird langsam dunkel. Und in diesen Zeiten traue ich selbst dieser ruhigen Umgebung nicht.“

Noch am selben Abend kochte Margha auf dem Lagerfeuer einen grünlichen Sud.

Broxx rümpfte die Nase. Die zähe Flüssigkeit sonderte den süßlichen Gestank von faulendem Obst ab.

Als sie anhand des Geschmacks das Gebräu für tauglich befand, füllte die Mor'grosh etwas davon in einen Becher ab und hielt ihn Lurd hin.

„Trink das.“

„Aber... bäh! Das stinkt widerlich!“, antwortete dieser angeekelt und weigerte sich, zu trinken.

„Gut, dann bleib eben im Ungewissen, ob dein Leben vielleicht nachhaltig beeinträchtigt sein wird. Wir lassen dich dann hier, nur zur Sicherheit, dass du uns nicht eines Nachts zerfleischst.“

„Hmm... Ist ja schon gut. Her mit dem Gesöff.“ Er nahm einen tiefen Zug.

„Wähhhh, schmeckt das eklig!“ Dennoch trank er den ganzen Becher aus.

„Und was bringt das jetzt? Ich merke gar...“

Mitten im Satz kippte er einfach nach vorne um und blieb mit dem Gesicht vor seinen überkreuzten Beinen liegen.

Margha grinste. „Es wirkt.“

„Und jetzt?“, fragte Broxx erstaunt.

„Jetzt warten wir.“

„Was passiert dann?“

„Wirst du schon sehen.“

Brummend verschränkte Broxx die Arme und wartete.

Als Lurd plötzlich begann, sich ruckartig zu bewegen, war er schon fast eingenickt.

Der Junge vollführte spastische Bewegungen, krümmte sich zusammen, sprang auf, bis er sich schließlich gerade auf den Rücken legte. Er öffnete den Mund.

Langsam erhob sich daraus ein weiß leuchtender Funke, der aussah wie eine sehr helle Lampe ohne Fassung.

„Dank sei der Erdenmutter! Er ist von der Infektion verschont geblieben!“, freute sich Margha. Sie kratzte sich am Kopf. „Achso... Ich sehe das daran, dass die Lebenskugel weiß ist, Elune und Broxx. Wäre er krank, wäre sie verfärbt, rot, schwarz, grün oder sonst eine andere Farbe, je nachdem, was er hätte.“

„Lebenskugel?“, fragte Elune erstaunt. „Du hast seine Seele aus ihm geholt?“

„Genau das habe ich. Das ist ein starkes Projektionselixier, es zeigt den Zustand des Körpers in seiner reinsten Form: Der Seele.“

Nach und nach versteckte sich der Funke wieder in Lurds Kehle.

Als er aufwachte, fielen ihm alle glücklich um den Hals. „Dir fehlt nichts!“

„Was war denn jetzt los? Bin ich eingepennt?“, fragte der junge Mann verwirrt.

Sie lachten nur herzlich und erklärten es ihm.

***

„Also war die ganze Stadt von dieser Lykanthropie, wie ihr sie nennt, betroffen? Und ihr habt sie wirklich alle getötet? Seid ihr sicher?“, fragte König Richard harsch.

Sofort nachdem die Gruppe Hammerfall erreicht hatte, unterrichtete Broxx diesen vom Ausgang ihrer Mission.

„Ja. Wir selbst sind aber reichlich knapp davon gekommen. Elune und Lurd haben mittlere Wunden davongetragen und mich hat auch nur das Glück von schwereren Verletzungen verschont.“

„Es tut mir Leid. Aber als Entschädigung und für eure Verdienste im Namen der Krone verleihe ich euch den Status eines königlichen Botschafters.“

„Vielen Dank für das Zeichen Eure Wertschätzung, Majestät. Es ist uns eine Ehre.“

Er räusperte sich.

„Aber da wäre noch die Sache mit den Gefangenen...“

„Ich werde sofort ein offizielles Befehlsschreiben verfassen, mit dem es Euch möglich sein wird, sie zu befreien. Jeden Einzelnen, denn das Reich ist wieder sicher und die Bauern können auf ihre Ländereien zurück. Sie werden keine Aufstände mehr verursachen. Und den anderen bin ich heute geneigt, eine zweite Chance zu geben. Ich hoffe sie ergreifen die Gelegenheit beim Schopf.“

„Ich danke Euch. Ihr Wohl liegt mir am Herzen.“

„Ihr seid wahrlich ein nobler Mann, Broxx... Wenn jemand diese Seuchen besiegen kann, dann ihr.

Außerdem ist euch natürlich auch die Unterstützung der Menschen bei Eurem Kampf gegen die Seuche sicher.

Wenn ich einen Vorschlag machen dürfte: Geht als nächstes zu unseren Verbündeten, den Zwergen. Sie sind starke und robuste Krieger und werden euch sicherlich helfen.

In Hammerfall gibt es einen Eingang zu einem Tunnel, der in ihr Reich, tief im Gebirge, führt.“

„Das werden wir“, erwiderte Broxx und verabschiedete sich. Erstmal mussten sich die Gefährten ein wenig von den Strapazen in Donnerbergen erholen, dann würden sie weitersehen.

***

Broxx tat, wie ihm geheißen, wenn auch nicht ohne eigenes Interesse.

Er verließ den Palast, spuckte noch auf den überstrapazierten Prunk des Königshauses und marschierte die Kopfsteinpflasterstraße entlang.

Sobald er die Tore von den Adelsgefilden zu den Wohnungen des Pöbels durchschritten hatte, traf er auf eine dicht gedrängte Menschenmasse.

Leib an Leib stamden sie auf der morastigen, von Kericht und Essenresten verdreckten Straße – so mancher Adelsmann hätte es als Feldweg bezeichnet -, drängten und schubsten, um einen besseren Blick auf das Geschehen zu erhaschen.

Eben diesen Blick versuchte auch Broxx zu bekommen. Den Vorteil seines massigen Körpers nutzend, schob er sich durch die Menge, bis er eine gute Sicht hatte.

Auf dem hölzernen Gestell stand ein maskierter Mann, über dessen Haupt Stricke von einem Balken herabhingen. Sechs Menschen hatten die Köpfe in den Schlingen der Galgenstricke.

Soeben legte der Henker die Hand an den Hebel.

„Halt!“, schrie Broxx und hob energisch die Hand. Er schob sich durch die Leute und schritt die Treppe auf das künstliche Plateau hinauf.

„Was zum Teufel...?! Sei blß still, sonst kannst du gleich den Strick mit denen teilen!“ Der Maskierte zeigte energisch auf die Verurteilten.

Oben angekommen, setzte der Mor'grosh nun eine finstere Miene auf. „Halt, hab ich gesagt.“

„Und wer, verdammich, will mir das befehlen?“

Der Todesknecht löste seine rechte Hand nicht vom Hebel.

„Dein Herrscher, König Richard, um genau zu sein“, sagte Broxx barsch und hielt den Lakaien das königliche Schreiben unter die Nase. Zwar war sich Broxx sicher, dass der Henker nicht lesen konnte, aber das herrschaftliche Siegel verfehlte seinen Zweck nicht. Der Henker wurde bleich, löste die Hand vom Hebel und zischte einem seiner Leute zu:

„Mach die Gefang'nen los. Aber dallI!“

Broxx verkündete laut, für für die gesamte Menge hörbar:

„Es wird keine Hinrichtungen geben! König Richard lässt alle Gefangenen begandigen. Sie sollen in ihr Zuhause zurückkehren, denn es besteht keine Gefahr mehr.“

Ein Raunen ging durch die Versammelten. Teilweise enttäuscht, kein Schauspiel zu sehen zu bekommen, teilweise erfreut, einen geliebten Menschen gerettet zu wissen, trotteten sie nach und nach davon. Ersteres war Broxx vollkommen zuwider. Dass sie sich am Leid der anderen ergötzten, trieb ihm die Wutröte ins Gesicht. Doch für Letzteres befand er, hatte sich sein Einwirken auf den König gelohnt.

Entschlossen marschierte er weiter. Als nächstes wollte er das große Gefängnis unterm Berg informieren, beim Rest würde es sich von allein rumsprechen.

Nachdem er ein Stück die Straße an der Seite des Felsens, auf dem Hammerfall erbaut war, entlang gegangen war, trat er durch einen schmalen Eingang, der in dessen Inneres führte. Er musste sich bücken, denn die Gänge schienen nicht auf Leute seiner Größe ausgerichtet zu sein.

Gleich die erste Tür zu seiner Rechten war als Wachstube des leitenden Wärters kenntlich gemacht. Ohne anzuklopfen trat er ein und erwischte den Ordnungshüter dabei, wie er schnell eine Flasche unter den Tisch gleiten ließ.

„Ach, vor mir braucht Ihr Euren Schnaps nicht zu verstecken, Herr! Lasst uns lieber ein Gläschen trinken“, sagte Broxx, um sich gleich gut mit dem Leiter zu stellen.

Misstrauisch holte der Mann, dessen Gesicht von einer hässlichen Narbe überzogen war, den Alkohol wieder hervor.

„Und auf was, wenn ich fragen darf?“

Broxx kramte den königlichen Befehl aus seiner Tasche und reichte ihn seinem Gegenüber.

„Na das nenn' ich mal 'ne Überraschung!“, staunte der Wärter. Alle begnadigt... Darauf lohnt es sich wirklich, einen zu kippen. Paar Bekannte von mir sitzen auch drin.“

Er füllte zwei Gläser randvoll und sowohl Broxx, als auch er selbst tranken es in einem Zug aus.

Der Mor'grosh schüttelte sich. „Das war gut. Aber ich würde mich gerne selbst überzeugen, das der Befehl auch wirklich ausgeführt wird.“

Der Gefängniswärter wirkte nicht begeistert.

„Bitte. Aber ich versichere...“

„Ich kümmere mich trotzdem selbst darum, wenn es nichts ausmacht“, unterbrach ihn Broxx scharf und trat aus der Kammer.

Der Mor'grosh machte einmal die Runde, überbrachte die Botschaft an alle Wärter und vergewisserte sich, dass auch nicht irgendjemand aus einer bösen Laune der Wachen heraus zurückblieb.

Als er gerade auf den Weg zum nächsten Zellentrakt war, vernahm er ein weinerliches Flehen. Es kam aus einer Einzelzelle.

„Nein... Nicht! Ohh... nein!“

Broxx zog die Waffe und öffnete leise die Tür.

Sein Herz schlug shcneller vor Zorn und Entsetzen, als er sah, wie ein Wärter ein rothaariges, vielleicht sechzehnjähriges Mädchen bedrängte, die Hand unter ihren Rock gleiten ließ. Sie war mit den Armen in Ketten gelegt.

„So... Woll'n wa doch mal seh'n, ob alles noch schön eng is' da unten.“ Während das Mädchen wimmerte, öffnete er die Hose. „Gut...“

Dann erblickte sie Broxx.

„Hilfe!“, schrie sie und noch während sich der Wärter verdutzt umdrehte, schlug Broxx ihm mit der dumpfen Seite seiner Axt auf den Hinterkopf. Er ging bewusstlos zu Boden.

Schnell machte er die junge Frau los, die ihm weinend um den Hals fiel.

„Danke...“, schluchzte sie.

Beruhigend klopfte er ihr auf den Rücken.

„Du bist frei, der König hat alle begnadigt. Geh und würdige das elende Schwein keines Blickes mehr.“

„Danke“, wiederholte das Mädchen und verließ die Zelle ohne zurückzuschauen.

Broxx krempelte die Ärmel des Leinenhemds unter seinem Lederwams hoch und zog sein Jagdmesser.

„So, du dreckiger Bastard... Jetzt will ich dir auch ein paar Unannehmlichkeiten bereiten. So wie du dem Mädchen.“

Nachdem er den Vergewaltiger seiner – Broxx' Meinung nach - gerechten Strafe zugeführt hatte, verließ auch er die Zelle, wischte sich das Blut von den Händen und lief zurück zu seinen Gefährten. Auch er schaute nicht zurück.

Schatten der Zitadelle

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